Trugbilder
Nur vom Dichter bemerkt gehen in unseren Städten Menschen durch Wüstensand. In Bala, Wales, erfährt Austerlitz, als Dafydd Elias noch, religiöse Erziehung von Seiten seines Ziehvaters, des Predigers, sowie auch vom Schuster Evan, am weitesten auf dem Weg der Theologie aber bringt ihn wohl das Selbststudium der kymrischen Kinderbibel. Besonders hat ihn der Bericht angezogen, wie die Kinder Israels eine furchtbare Einöde durchqueren, viele Tagseisen lang und breit. Er hat versucht, die Wolkensäule sich vorzustellen, die dem wandernden Volk voran des Wegs ging, und er hatte sich in die ganzseitige Illustration vertieft, in der die Wüste Sinai mit ihren kahlen, ineinander verschobenen Bergrücken ganz der heimischen Gegend glich. Unter den winzigen Figuren, die das Lagerbevölkerten, wußte er sich an seinem richtigen Ort. Jeden Quadratzoll des Bildes hat er durchforscht, die abstürzende Bergseite zur Rechten und die Linien darunter, in der er die Geleise einer Bahn zu erkennen glaubte. Am meisten aber gab ihm der umzäunte Platz in der Mitte zu denken und der zeltartige Bau am hinteren Ende, über dem sich eine weiße Rauchwolke erhebt.
Tatsächlich scheint die Illustration dem biblischen Geschehen nicht in der vertrauten Weise Dorés und anderer Buchausstatter angemessen, unkommentiert möchte man eher an ein neuzeitliches Militärcamp denken. Die kindliche Phantasie, die sich auch mit der Möglichkeit einer Eisenbahn im biblischen Land anfreunden konnte, hat daran offenbar keinen Anstoß genommen. Dafydd, der sich, ähnlich dem Waschbären ganz zu Beginn des Buches, in Bala in einer falschen Welt fühlt, sieht sich im in seinen Augen äußerlich ganz ähnlichen biblischen Wüstengelände in eigenartiger und ihm selbst nicht ganz verständlichen Weise wohl verwahrt.
In der Erzählung Max Aurach wird eine weiteres künstlerisch nicht hochstehendes Wüstenbild Gegenstand der Deutung. Unter völliger Mißachtung des grauenhaften Charakters der vom eines Tages aus dem Nomadisieren im Sudan in sein jetziges Gewerbe übergewechselten Kochs bereiteten Speisen nimmt der in Manchester ansässige Maler Aurach seine Mahlzeit allabendlich im Wadi Halfa ein. Ein von unbekannter Hand gemaltes Fresko an der Wand des Lokals zeigte eine Karawane, die aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegte. Infolge der Ungeschicklichkeit des Malers und der schwierigen Perspektive wirkten die menschlichen Figuren sowohl als die Lasttiere in ihren Umrissen leicht verzerrt, so daß es, wenn man die Lider halb senkte, tatsächlich war, als erblicke man eine in der Helligkeit und Hitze des Tages zitternde Fata Morgana, und an den Tagen, an denen Aurach mit Kohle gearbeitet und der pudrig feine Staub seine Haut mit einem metallischen Glanz imprägniert hatte, schien es, als sei er soeben aus dem Wüstenbild herausgetreten oder gehöre in es hinein. Das ist nicht die Deutung Aurachs, sondern die seines Begleiters. Die Deutung des Bildes ist aber nur eine Intensivierung des Umstandes, daß Aurach allabendlich die Gesellschaft der Nomaden – neben dem Koch auch dessen zwölf als Kellner im Lokal beschäftigten Söhne - aufsucht, deren Gründe für die Aufgabe des Nomadenlebens im einzelnen nicht bekannt sind. Daß er dort am richtigen Ort sei, würde Aurach, der im Unterschied zu Dafydd Elias die Kindheit längst hinter sich hat, vielleicht nicht behaupten, das Wadi Halfa ist aber neben der Malerwerkstatt, die er in eine Staubwüste verwandelt hat, so gut wie sein einziger Ort.
Mit dem Amerikaner Cosmo Solomon wendet sich das Wüstenthema von der bildenden der darstellenden Kunst zu. Aus dem Bühnenhintergrund tauchte das Trugbild einer Oase auf. Eine Karawane kam aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden. Er, so Cosmo Solomon, habe mit dieser Karawane den Saal verlassen und könne nun nicht mehr sagen, wo er sich befinde.
Austerlitz, Aurach, Solomon, drei Kinder Israel, die imaginativ von ihrer Wüstenheimat aufgenommen oder aber verschlungen werden. Während Austerlitz in die Bibelillustration gleichsam einsteigt und sich dort am richtigen Ort weiß, sieht Solomon sich von einer phantasmagorischen Karawane fortgerissen und verschleppt.
Aber auch Selysses, nach allem was wir wissen kein Kind Israel, hat ein ganz ähnliches Erlebnis. Beim Eintritt in die Stadt Den Haag wird er gleich auf semitische, teils islamitische und teils israelitische Verhältnisse eingestimmt. Er bemerkt eine islamitische Metzgerei, daneben den Massada-Grill, auch ein Minarett und über einem Teppichladen das primitive vierteilige Fresko einer durch die Wüste ziehenden Karawane. Auf den Trottoirs versammeln sich in kleinen Gruppen morgenländische Männer Als er am Strand von Scheveningen ausruht, ist ihm, als halte rings um ihn sein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste und halb im Traum noch glaubt er sich zum erstenmal in seinem Leben angekommen, zuhause. Die Fassade des Kurhauses ragt vor ihm auf wie eine große Karawanserei. Daß er hier zuhause sei, ist insofern eine unerwartete Wende, als er am Strand von Scheveningen nur den Schlaf nachholt, den er in der Nacht nach verschiedenen verstörenden Erlebnissen im semitischen Den Haag auf dem Bett in seinem Hotelzimmer liegend nicht hatte finden können. Dabei ist die gesamte Textpassage durch das Fassadengemälde der Karawane zu Beginn und das als Karawanserei erscheinende Kurhaus am Schluß eindeutig zu einer Einheit geklammert. Welches ist denn nun sein Volk, das da mit ihm am Strand von Scheveningen ruht, wo er doch an anderer Stelle bekundet hatte, am liebsten würde er keiner Nation, keinem Volk angehören. Eigentlich können die da lagern, wenn er in Wirklichkeit nicht einsam am Strand liegt, nur Feriengäste sein.
Das Ferienvolk aber, bestehend unter anderem aus verkleideten Hunden und Lemurengesichtern, ist, trotz seiner offenkundigen nomadisierenden Züge, eindeutig nicht das Volk des Selysses. In der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhebt sich der eine oder andere und wandert herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise. Da muß zusätzlich nur noch ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbeikommen, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, und Selysses verläßt Venedig fluchtartig.
Der Boden der großen Vorhalle in der neuen Pariser Nationalbibliothek, einem den Bedürfnissen jedes wahren Lesers kompromißlos entgegengesetztes, eigens zu seiner Verunsicherung und Erniedrigung erdachtes Gebäude, ist ausgelegt mit einem rostroten Teppich, auf dem weit voneinander entfernt ein paar niedrige Sitzgelegenheiten aufgestellt sind, Posterbänke ohne Rückenlehne und klappstuhlartige Sesselchen, auf denen die Bibliotheksbesucher nur so hocken können, daß die Knie ungefähr so hoch sind wie der Kopf und es schien, daß diese in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten, um ihre Heimstatt gebrachte Leser, sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai.
Tatsächlich scheint die Illustration dem biblischen Geschehen nicht in der vertrauten Weise Dorés und anderer Buchausstatter angemessen, unkommentiert möchte man eher an ein neuzeitliches Militärcamp denken. Die kindliche Phantasie, die sich auch mit der Möglichkeit einer Eisenbahn im biblischen Land anfreunden konnte, hat daran offenbar keinen Anstoß genommen. Dafydd, der sich, ähnlich dem Waschbären ganz zu Beginn des Buches, in Bala in einer falschen Welt fühlt, sieht sich im in seinen Augen äußerlich ganz ähnlichen biblischen Wüstengelände in eigenartiger und ihm selbst nicht ganz verständlichen Weise wohl verwahrt.
In der Erzählung Max Aurach wird eine weiteres künstlerisch nicht hochstehendes Wüstenbild Gegenstand der Deutung. Unter völliger Mißachtung des grauenhaften Charakters der vom eines Tages aus dem Nomadisieren im Sudan in sein jetziges Gewerbe übergewechselten Kochs bereiteten Speisen nimmt der in Manchester ansässige Maler Aurach seine Mahlzeit allabendlich im Wadi Halfa ein. Ein von unbekannter Hand gemaltes Fresko an der Wand des Lokals zeigte eine Karawane, die aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegte. Infolge der Ungeschicklichkeit des Malers und der schwierigen Perspektive wirkten die menschlichen Figuren sowohl als die Lasttiere in ihren Umrissen leicht verzerrt, so daß es, wenn man die Lider halb senkte, tatsächlich war, als erblicke man eine in der Helligkeit und Hitze des Tages zitternde Fata Morgana, und an den Tagen, an denen Aurach mit Kohle gearbeitet und der pudrig feine Staub seine Haut mit einem metallischen Glanz imprägniert hatte, schien es, als sei er soeben aus dem Wüstenbild herausgetreten oder gehöre in es hinein. Das ist nicht die Deutung Aurachs, sondern die seines Begleiters. Die Deutung des Bildes ist aber nur eine Intensivierung des Umstandes, daß Aurach allabendlich die Gesellschaft der Nomaden – neben dem Koch auch dessen zwölf als Kellner im Lokal beschäftigten Söhne - aufsucht, deren Gründe für die Aufgabe des Nomadenlebens im einzelnen nicht bekannt sind. Daß er dort am richtigen Ort sei, würde Aurach, der im Unterschied zu Dafydd Elias die Kindheit längst hinter sich hat, vielleicht nicht behaupten, das Wadi Halfa ist aber neben der Malerwerkstatt, die er in eine Staubwüste verwandelt hat, so gut wie sein einziger Ort.
Mit dem Amerikaner Cosmo Solomon wendet sich das Wüstenthema von der bildenden der darstellenden Kunst zu. Aus dem Bühnenhintergrund tauchte das Trugbild einer Oase auf. Eine Karawane kam aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden. Er, so Cosmo Solomon, habe mit dieser Karawane den Saal verlassen und könne nun nicht mehr sagen, wo er sich befinde.
Austerlitz, Aurach, Solomon, drei Kinder Israel, die imaginativ von ihrer Wüstenheimat aufgenommen oder aber verschlungen werden. Während Austerlitz in die Bibelillustration gleichsam einsteigt und sich dort am richtigen Ort weiß, sieht Solomon sich von einer phantasmagorischen Karawane fortgerissen und verschleppt.
Aber auch Selysses, nach allem was wir wissen kein Kind Israel, hat ein ganz ähnliches Erlebnis. Beim Eintritt in die Stadt Den Haag wird er gleich auf semitische, teils islamitische und teils israelitische Verhältnisse eingestimmt. Er bemerkt eine islamitische Metzgerei, daneben den Massada-Grill, auch ein Minarett und über einem Teppichladen das primitive vierteilige Fresko einer durch die Wüste ziehenden Karawane. Auf den Trottoirs versammeln sich in kleinen Gruppen morgenländische Männer Als er am Strand von Scheveningen ausruht, ist ihm, als halte rings um ihn sein Volk Rast auf dem Weg durch die Wüste und halb im Traum noch glaubt er sich zum erstenmal in seinem Leben angekommen, zuhause. Die Fassade des Kurhauses ragt vor ihm auf wie eine große Karawanserei. Daß er hier zuhause sei, ist insofern eine unerwartete Wende, als er am Strand von Scheveningen nur den Schlaf nachholt, den er in der Nacht nach verschiedenen verstörenden Erlebnissen im semitischen Den Haag auf dem Bett in seinem Hotelzimmer liegend nicht hatte finden können. Dabei ist die gesamte Textpassage durch das Fassadengemälde der Karawane zu Beginn und das als Karawanserei erscheinende Kurhaus am Schluß eindeutig zu einer Einheit geklammert. Welches ist denn nun sein Volk, das da mit ihm am Strand von Scheveningen ruht, wo er doch an anderer Stelle bekundet hatte, am liebsten würde er keiner Nation, keinem Volk angehören. Eigentlich können die da lagern, wenn er in Wirklichkeit nicht einsam am Strand liegt, nur Feriengäste sein.
Das Ferienvolk aber, bestehend unter anderem aus verkleideten Hunden und Lemurengesichtern, ist, trotz seiner offenkundigen nomadisierenden Züge, eindeutig nicht das Volk des Selysses. In der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, dicht nebeneinander hingestreckt wie sonst ein fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhebt sich der eine oder andere und wandert herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise. Da muß zusätzlich nur noch ein mit Bergen von Müll beladener Kahn vorbeikommen, auf dem eine große Ratte die Bordkante entlang läuft und sich kopfüber ins Wasser stürzt, und Selysses verläßt Venedig fluchtartig.
Der Boden der großen Vorhalle in der neuen Pariser Nationalbibliothek, einem den Bedürfnissen jedes wahren Lesers kompromißlos entgegengesetztes, eigens zu seiner Verunsicherung und Erniedrigung erdachtes Gebäude, ist ausgelegt mit einem rostroten Teppich, auf dem weit voneinander entfernt ein paar niedrige Sitzgelegenheiten aufgestellt sind, Posterbänke ohne Rückenlehne und klappstuhlartige Sesselchen, auf denen die Bibliotheksbesucher nur so hocken können, daß die Knie ungefähr so hoch sind wie der Kopf und es schien, daß diese in kleinen Gruppen am Boden kauernden Gestalten, um ihre Heimstatt gebrachte Leser, sich hier in der letzten Abendglut niedergelassen haben auf ihren Weg durch die Sahara oder über die Halbinsel Sinai.
Bei den Nomaden in Paris nicht weniger als in Venedig handelt es sich um sekundäre Wüstenwanderer, Täter und Opfer zugleich der VerWÜSTung unserer Welt durch die Neuzeit, durch das Ferienvolk, durch lieb- und respektloses Bauen und andere Mittel, die uns zur Verfügung stehen.
Das in auffälliger Häufigkeit und unerwarteten Kontexten auftauchende Bild der Wanderer in der Wüste hat naturgemäß keine fixierte Bedeutung, bewegt sich aber in einem beschreibbaren Bedeutungsfeld mit den widersprüchlichen Zügen von Beglückung und Ängstigung, Anziehung und Abstoßung, Aufnahme und Verschlingen. In der Wüste hat das Volk Israel und wir mit ihm seinen Ursprung und in der Wüste sind wir unserem Ende nah. In dieser zweiten Bedeutung ist die Wüste nur einen Schritt vor den bei Sebald so häufig erscheinenden Bildern vom Ende der Welt.
Tief eingegraben hat sich dem Dichter das Wüstenbild offenbar bei der Lektüre der Erzählung Nachts. Kafkas Nacht ist in Austerlitz verwandelt in die Nacht der Bewohner Londons, die in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen, unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Als Austerlitz Selysses zu sich einlädt, steht auf der Rückseite einer Ansichtskarte aus den zwanziger oder dreißiger Jahren, die eine weiße Zeltkolonie zeigt in der ägyptischen Wüste, nichts als Saturday 19 March Alderney Street, ein Fragezeichen und ein großes A.
Ganz und gar unvergeßlich aber war Austerlitz Adelas Frage geblieben, als sie in Andromeda Lodge nach dem Federballspiel in die im Abendlicht erlöschende Welt hinausschauten: Siehst du die Wipfel der Palmen und siehst du die Karawane, die dort durch die Dünen kommt?
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