Multiversum
Die Frauen in Sebalds Büchern stellt man sich nicht in Hosenkleidern vor. Photos, die anderes belegen könnten, sind nicht beigegeben, überhaupt finden sich so gut wie keine Photos von Frauen, die handelnde Personen im Text sind. Wie den meisten seiner Generation waren Selysses in der Kindheit Frauen in Beinröhren unbekannt. Die Weiber der amerikanischen Besatzungsmacht gingen in Hosen herum, undenkbar, daß eine Autochthone dem erschreckenden und abstoßenden Beispiel gefolgt wäre. Beifall dürfen sie für diese Zurückhaltung vom Dichter aber nicht erwarten, die Weiberschaft von W. bestand in seinen Augen ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden. Auf der Tiroler Seite sieht es bis auf den heutigen Tag nicht besser aus. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der inzwischen alt gewordenen Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. In Tracht und Gestalt entsprachen sie den Regendächern vollkommen. Die sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau des Pächters im Engelwirt Sallaba ist ebensowenig zu den dünnzopfigen indigenen Bewohnerinnen des Ortes zu zählen wie die blasse Frau des Dr. Rambousek. In jeder Hinsicht unterscheidet sich von ihnen aber auch die einheimische Bauerstochter Romana in ihrer auffälligen Schönheit. Über die Art ihrer Schönheit und ihren Kleidungsstil werden wir nicht unterrichtet. In der Tracht den Tirolerinnen auf den ersten Blick ähnlich scheint die Mathild, die wir uns gleichwohl als schön vorstellen. Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Ihr Äußeres scheint etwas von Parodie oder Hohn auf die Weiberschaft mit sich zu tragen.
Mit den Jahren und vor allem durch zahlreiche Reisen weitet Selysses naturgemäß seinen Horizont. Ein Frauentyp, auf den er immer wieder stößt, ist blaß und beinahe transparent, von einer beängstigend zierlichen Statur oder gar körperhaft kaum noch vorhandenen. Gekleidet sind die Frauen dieser Richtung wohl alle wie die Tante Otýlie in ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze oder in ein ähnliches Gewand, um so das Geheimnis ihres möglicherweise fehlenden Körpers zu wahren. Genauer unterrichtet über den Schnitt des Kleides werden wir allerdings längst nicht in allen Fällen.
Andererseits bedarf es nur einer Winzigkeit, um weibliche Körperlichkeit, wenn man es so ausdrücken will: sinnenfällig zu machen. Una fantesca, hörte ich sie leis sagen, und es ist mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hat dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Von Luciana Michelotti wird des weiteren gesagt, sie sei an sich resolut und lebensfroh, am Tag ihres 44. Geburtstages aber schwermütig, wenn nicht gar untröstlich gewesen. Wie sie sich kleidet, erfahren wir nicht.
Wenig später nur die Franziskanerin und das junge Mädchen im Zug nach Mailand, beide von vollendeter Schönheit. Bei der Franziskanerin erübrigt sich längeres Grübeln über die Tracht, wenn auch der Habit der Ordensschwestern wohl nicht ganz einheitlich ist. Das junge Mädchen trägt eine aus vielen farbigen Flecken geschneiderte Jacke um die Schultern, ob die Jacke ergänzt wird durch einen Rock oder vielleicht durch Jeans, erfahren wir nicht. Die Winterkönigin ist eine junge Frau mit lockigem Haar und braunem Samtbarett, alles andere wird mit gutem Grund verschwiegen, denn wenn wir einerseits nicht glauben können, sie sei von oben bis unten in der Weise des 17. Jahrhunderts gekleidet, so würde ein Hinweis etwa auf rote Chinohosen die Illusion, an der dem Dichter gelegen ist, erheblich stören.
Über Mme Landaus äußere Erscheinung erfahren wir nichts. Sie, die in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern des näheren kennengelernt hat, gehört aber in keinem Fall zu den transparenten und körperlosen, das Gefühl ihrer Hand an der Schulter geht durch und durch. Über das Äußere von Marie de Verneuil, eine der weiblichen Lichtgestalten im Werk, erfahren wir am allerwenigsten und wenig mehr nur von ihrer Vorgängerin, wenn man so will, Adela Fitzpatrick: Ja, ich sehe Adela noch so schön wie sie damals war. Nicht selten, am Ende der langen Sommertage, spielten wir Badminton miteinander in dem seit langem ausgeräumten Ballsaal. Schlag für Schlag flog das gefiederte Geschoß hin und her. Die Bahn, die es durchsauste, und in der es sich jedesmal umwendete, ohne daß man gesehen hätte, wie, war ein weiß durch die Abendstunde gezogener Streifen, und Adela schwebte, wie ich hätte schwören können, viel länger oft, als es die Schwerkraft erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft. Im lichtdurchfluteten Abermaw sehen wir sie beim Badminton mit unseren Augen in weißer Bluse und langem weißen Rock.
Die moderne physikalische Kosmologie erzählt uns von zahllosen Welten, die möglicherweise hinter der uns vertrauten, von Newton beschriebenen Welt verborgen sind, Welten, für die es vorerst nur mathematische Chiffren gibt und die Hoffnung auf Spuren im Teilchenbeschleuniger. Sebalds Figuren, Menschen sowohl wie Waschbären, die immer wieder das Gefühl überkommt, sie seien in eine andere, falsche Welt geraten, scheinen von einer ähnlichen Intuition geleitet. Parallele Empfindungen hat der Leser. San Giorgio, der diese Welt verlassen hat, kehrt, den Strohhut, den Pisanello ihm einst verpaßt hatte, noch immer in der Hand, als Giorgio Santini in sie zurück, in welcher Welt er in der Zwischenzeit war, kann niemand wissen. Vielleicht waren es sogar mehrere Welten, denn im Werk ist er in mehr als einer mehr oder weniger deutlichen Spiegelung vertreten. Mme Gherardi ist an der Seite Stendhals aus einer fremden Welt in die unsere übergewechselt, für wie lange, weiß man nicht. Luciana Michelotti sieht sich in einer anderen Welt mit Selysses getraut, ohne daß sie es weiß, oder weiß sie es? Dem Lehrerfräulein Rauch ergeht es nicht anders.
Weniger um fremde Welten, in die die Figuren entschwinden und aus denen sie gegebenenfalls auch wieder zurückkehren, soll es aber gehen als um Welten, die, ganz wie es die Stringtheorie postuliert, in ihren unbekannten Dimensionen eingefaltet am Wegrand liegen. Fast jede auftretende Frauengestalt scheint eine solche Welt zu sein. Zwei Merkmale ermöglichen diesen Eindruck, zum einen das Fehlen einer Romanintrige, die ihre Gestalten sei es als Hauptdarstellern sei es als Komparsen verbrauchen würde, und zum anderen die betörende Unbestimmtheit der weiblichen Figuren.
Wer möchte nicht erkunden, ob Tereza Ambrosovás Leben, zumal das außerhalb des Archivs, so transparent verläuft, wie ihre Erscheinung verheißt; erfahren, wie Amélie Cerfs Leben verlaufen ist, bevor sie ihre Körperhaftigkeit verlor; mit Luciana Michelotti nicht noch ein wenig mehr Zeit verbringen in ihrer zweiten Welt nach der Trauung; das Leben des Lehrerfräuleins Rauch nicht in der Weise erzählen wie Siegfried Lenz seine Schweigeminute erzählt hat, nur noch deutlich schöner und natürlich mit gutem Ende. Am Mailänder Bahnhof muß man sich entscheiden, ob man der Franziskanerin oder dem Mädchen mit der bunten Jacke folgen will, sie werden kaum längere Zeit in die gleiche Richtung gehen. Hinsichtlich der Winterkönigin wurde schon erwogen, ob sie identisch sei mit Marie de Verneuil, sicher eine kühne Hypothese, gemessen an den Zumutungen der Stringtheorie aber durchaus noch bodenständig. Gern würde man nicht nur Austerlitz von sich und Marie de Verneuil erzählen hören, sondern auch Marie de Verneuil über sich und Austerlitz, und Mme Landau sollte den kurzen Hinweis zu den ziemlich vielen Männern doch ein wenig präzisieren. Bei der Mathild hatten wir uns schon gefragt ob Sebald sie zur Protagonistin des geplanten Buches zur Münchener Räterepublik gemacht hätte.
Die Frauen in Sebalds Büchern stellt man sich nicht in Hosenkleidern vor. Photos, die anderes belegen könnten, sind nicht beigegeben, überhaupt finden sich so gut wie keine Photos von Frauen, die handelnde Personen im Text sind. Wie den meisten seiner Generation waren Selysses in der Kindheit Frauen in Beinröhren unbekannt. Die Weiber der amerikanischen Besatzungsmacht gingen in Hosen herum, undenkbar, daß eine Autochthone dem erschreckenden und abstoßenden Beispiel gefolgt wäre. Beifall dürfen sie für diese Zurückhaltung vom Dichter aber nicht erwarten, die Weiberschaft von W. bestand in seinen Augen ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden. Auf der Tiroler Seite sieht es bis auf den heutigen Tag nicht besser aus. Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der inzwischen alt gewordenen Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. In Tracht und Gestalt entsprachen sie den Regendächern vollkommen. Die sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich verabscheuende Frau des Pächters im Engelwirt Sallaba ist ebensowenig zu den dünnzopfigen indigenen Bewohnerinnen des Ortes zu zählen wie die blasse Frau des Dr. Rambousek. In jeder Hinsicht unterscheidet sich von ihnen aber auch die einheimische Bauerstochter Romana in ihrer auffälligen Schönheit. Über die Art ihrer Schönheit und ihren Kleidungsstil werden wir nicht unterrichtet. In der Tracht den Tirolerinnen auf den ersten Blick ähnlich scheint die Mathild, die wir uns gleichwohl als schön vorstellen. Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Ihr Äußeres scheint etwas von Parodie oder Hohn auf die Weiberschaft mit sich zu tragen.
Mit den Jahren und vor allem durch zahlreiche Reisen weitet Selysses naturgemäß seinen Horizont. Ein Frauentyp, auf den er immer wieder stößt, ist blaß und beinahe transparent, von einer beängstigend zierlichen Statur oder gar körperhaft kaum noch vorhandenen. Gekleidet sind die Frauen dieser Richtung wohl alle wie die Tante Otýlie in ein schwarzseidenes plissiertes Überkleid mit einem abnehmbaren Kragen aus weißer Spitze oder in ein ähnliches Gewand, um so das Geheimnis ihres möglicherweise fehlenden Körpers zu wahren. Genauer unterrichtet über den Schnitt des Kleides werden wir allerdings längst nicht in allen Fällen.
Andererseits bedarf es nur einer Winzigkeit, um weibliche Körperlichkeit, wenn man es so ausdrücken will: sinnenfällig zu machen. Una fantesca, hörte ich sie leis sagen, und es ist mir gewesen, als spürte ich ihre Hand auf meiner Schulter. Selten genug ist es vorgekommen in meinem Leben, daß ich von einer mir an sich fremden Frau angerührt worden bin, aber immer hat dieses unvermutete Angerührtwerden etwas Gewichtsloses, Geisterhaftes, mir durch und durch Gehendes gehabt. Von Luciana Michelotti wird des weiteren gesagt, sie sei an sich resolut und lebensfroh, am Tag ihres 44. Geburtstages aber schwermütig, wenn nicht gar untröstlich gewesen. Wie sie sich kleidet, erfahren wir nicht.
Wenig später nur die Franziskanerin und das junge Mädchen im Zug nach Mailand, beide von vollendeter Schönheit. Bei der Franziskanerin erübrigt sich längeres Grübeln über die Tracht, wenn auch der Habit der Ordensschwestern wohl nicht ganz einheitlich ist. Das junge Mädchen trägt eine aus vielen farbigen Flecken geschneiderte Jacke um die Schultern, ob die Jacke ergänzt wird durch einen Rock oder vielleicht durch Jeans, erfahren wir nicht. Die Winterkönigin ist eine junge Frau mit lockigem Haar und braunem Samtbarett, alles andere wird mit gutem Grund verschwiegen, denn wenn wir einerseits nicht glauben können, sie sei von oben bis unten in der Weise des 17. Jahrhunderts gekleidet, so würde ein Hinweis etwa auf rote Chinohosen die Illusion, an der dem Dichter gelegen ist, erheblich stören.
Über Mme Landaus äußere Erscheinung erfahren wir nichts. Sie, die in ihrem nicht unbeträchtlichen Leben eine ziemliche Anzahl von Männern des näheren kennengelernt hat, gehört aber in keinem Fall zu den transparenten und körperlosen, das Gefühl ihrer Hand an der Schulter geht durch und durch. Über das Äußere von Marie de Verneuil, eine der weiblichen Lichtgestalten im Werk, erfahren wir am allerwenigsten und wenig mehr nur von ihrer Vorgängerin, wenn man so will, Adela Fitzpatrick: Ja, ich sehe Adela noch so schön wie sie damals war. Nicht selten, am Ende der langen Sommertage, spielten wir Badminton miteinander in dem seit langem ausgeräumten Ballsaal. Schlag für Schlag flog das gefiederte Geschoß hin und her. Die Bahn, die es durchsauste, und in der es sich jedesmal umwendete, ohne daß man gesehen hätte, wie, war ein weiß durch die Abendstunde gezogener Streifen, und Adela schwebte, wie ich hätte schwören können, viel länger oft, als es die Schwerkraft erlaubte, ein paar Spannen über dem Parkettboden in der Luft. Im lichtdurchfluteten Abermaw sehen wir sie beim Badminton mit unseren Augen in weißer Bluse und langem weißen Rock.
Die moderne physikalische Kosmologie erzählt uns von zahllosen Welten, die möglicherweise hinter der uns vertrauten, von Newton beschriebenen Welt verborgen sind, Welten, für die es vorerst nur mathematische Chiffren gibt und die Hoffnung auf Spuren im Teilchenbeschleuniger. Sebalds Figuren, Menschen sowohl wie Waschbären, die immer wieder das Gefühl überkommt, sie seien in eine andere, falsche Welt geraten, scheinen von einer ähnlichen Intuition geleitet. Parallele Empfindungen hat der Leser. San Giorgio, der diese Welt verlassen hat, kehrt, den Strohhut, den Pisanello ihm einst verpaßt hatte, noch immer in der Hand, als Giorgio Santini in sie zurück, in welcher Welt er in der Zwischenzeit war, kann niemand wissen. Vielleicht waren es sogar mehrere Welten, denn im Werk ist er in mehr als einer mehr oder weniger deutlichen Spiegelung vertreten. Mme Gherardi ist an der Seite Stendhals aus einer fremden Welt in die unsere übergewechselt, für wie lange, weiß man nicht. Luciana Michelotti sieht sich in einer anderen Welt mit Selysses getraut, ohne daß sie es weiß, oder weiß sie es? Dem Lehrerfräulein Rauch ergeht es nicht anders.
Wer möchte nicht erkunden, ob Tereza Ambrosovás Leben, zumal das außerhalb des Archivs, so transparent verläuft, wie ihre Erscheinung verheißt; erfahren, wie Amélie Cerfs Leben verlaufen ist, bevor sie ihre Körperhaftigkeit verlor; mit Luciana Michelotti nicht noch ein wenig mehr Zeit verbringen in ihrer zweiten Welt nach der Trauung; das Leben des Lehrerfräuleins Rauch nicht in der Weise erzählen wie Siegfried Lenz seine Schweigeminute erzählt hat, nur noch deutlich schöner und natürlich mit gutem Ende. Am Mailänder Bahnhof muß man sich entscheiden, ob man der Franziskanerin oder dem Mädchen mit der bunten Jacke folgen will, sie werden kaum längere Zeit in die gleiche Richtung gehen. Hinsichtlich der Winterkönigin wurde schon erwogen, ob sie identisch sei mit Marie de Verneuil, sicher eine kühne Hypothese, gemessen an den Zumutungen der Stringtheorie aber durchaus noch bodenständig. Gern würde man nicht nur Austerlitz von sich und Marie de Verneuil erzählen hören, sondern auch Marie de Verneuil über sich und Austerlitz, und Mme Landau sollte den kurzen Hinweis zu den ziemlich vielen Männern doch ein wenig präzisieren. Bei der Mathild hatten wir uns schon gefragt ob Sebald sie zur Protagonistin des geplanten Buches zur Münchener Räterepublik gemacht hätte.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen