Montag, 17. Dezember 2012

Rastignac

A nous deux, Shoah!

Fridolin Schley hat ein umfängliches Buch über Sebald verfaßt, in dem der Dichter auf zwei Komponenten und sein Leben auf zwei, zeitlich nicht klar getrennte Phasen reduziert wird. Zunächst habe Sebald in Aufsätzen alle deutschen Autoren, die sich mit dem Holocaust beschäftigt hatten, fertiggemacht, um dann, als ein wahrer Rastignac des Literaturbetriebs, selbst das Dichten aufzunehmen mit dem einen Ziel, auf dem geräumten Gelände den Platz des Holocaustalleinherrschers zu besetzen. In Austerlitz ist von den fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bänden der Comédie Humaine die Rede, Marie de Verneuil hat ihren Namen bei Balzac entlehnt, dem Colonel Chabert wird eine Betrachtung gewidmet, Rastignac tritt nicht in Erscheinung, entweder hat sich der Dichter in dem ihm vorgehaltenen Spiegel nicht, oder aber, wie Schley geltend machen würde, nur allzu sehr erkannt. Nicht erkennt ihn jedenfalls der Leser und Literaturfreund, der bislang in seiner Einfalt, dabei allerdings Benjamin folgend, angenommen hatte, der Dichter wolle vor allem musizieren.

Schley schreckt seine Leser mit wahrhaft furchteinflößenden Begriffsgewittern: intratextuelle, autorengesteuerte Positionierungsstrategien, Epiphänomen eines hyperventilierenden Diskursfeldes, und so auf jeder Seite. Man fragt sich, ob Jakob Hessing diese dräuenden Wolken vor Augen hatte, als er Schleys beachtliches Sprachvermögen hervorhob. Bald aber schon klart es auf, und eine rückhaltlose Selbstauslieferung an die Soziologismen Bourdieus wird erkennbar. In einer Sebald gewidmeten Magisterarbeit hatte sich der Verfasser, dessen Name nicht mehr verfügbar ist, in ähnlicher Weise ganz der Philosophie des Rhizoms aus der Werkstatt Deleuze/Guattari verschrieben. In beiden Fällen dient eine geborgte Autorität als archimedische Plattform, von der aus der Forscher sich in Regionen weit oberhalb des Autors katapultiert, um in aller Ruhe und Ausführlichkeit auf ihn herabzuschauen. Einem dem Dichter zugetanen vertrauenden Leser, dessen Belange hier vertreten werden, sind derartige Hochspringerkünste nicht geheuer.

Wenn einzuräumen ist, daß die Kategorien Bourdieus sich bei der Betrachtung des wissenschaftlich-essayistischen Werks halbwegs bewähren, so führt die Hartnäckigkeit und Ausschließlichkeit der Anwendung, die dem Dichter jede Bewegungsfreiheit abspricht (er funktioniert unter Positionierungszwang blind im Feld), vor allem aber die Ausdehnung auch auf das Prosawerk, ins Dubiose. Eine übergangslose Behandlung der beiden Textsorten ist ohnehin fragwürdig. Argumentative Unschärfen in der Wissenschaft werden zu erzählerischen Spielräumen in der Prosa. Ein Erzähltext ist, sofern er nicht ganz durchfällt, während der Lektüre, also solange er lebt, nicht kritisierbar. Sebalds Prosa erzeugt bei vielen seiner Leser eine fortdauernde Kritikunlust und eine Aversion gegenüber der Freigabe zur Prosektur wie im Fall des armen Aris Kindt.

Schleys das wissenschaftlich-essayistische und das literarische Werk übergreifende Generallinie ist auf die Einordnung der Prosa als Holocaustliteratur angewiesen. Da sich ein Nachweis nicht führen läßt, wird der Umstand umstandslos unterstellt. Schon in der Einleitung heißt es, das Prosawerk kreise um den Holocaust. Später wird ein Konsens beschworen, der das Erzählwerk im Subfeld der Holocaustliteratur verortet. Dieser Konsens besteht aber nicht. Als Beleg wird angeführt, der Luftkrieg und Austerlitz seien Sebalds bekannteste und meistgelesene Werke. Das mag so sein und ist nicht verwunderlich, da die Meute der Literaturfernen sich auf den Luftkrieg gestürzt hat und Austerlitz dann wohl oder übel auch verdauen mußte. Dem Freund des Erzählwerks ist der Luftkrieg entbehrlich und insgeheim mag er sich angesichts der eingetretenen Folgen wünschen, Sebald hätte weiter am Korsikaprojekt gearbeitet oder aber sich ernsthaft dem Projekt Münchner Räterepublik zugewandt, und Austerlitz wäre nicht geschrieben worden. Schley zeigt eine gewisse Nachgiebigkeit, wenn er einräumt, je weiter man den Begriff des Holocausts fasse, desto besser passe Sebald hinein. Das ist allerdings ein eigenartiger Truismus, dehnt man den Begriff immer weiter, läßt sich schließlich auch Loriot mit seiner Försterfrau noch unterbringen.

Für die Schwindel.Gefühle, das vom Holocaust am weitesten entfernte Werk, findet Schley nur wenige und noch weniger freundliche Worte. Im ganzen Prosawerk entdeckt er nur im Ausnahmefall Ironieanzeichen. Hätte er genauer auf die Schwindel.Gefühle geschaut, so hätte er sehen müssen, daß der Erzähler hier durchgehend mit der Selbstironisierung des Autors beauftragt ist, so wie auch Kafka vom Anfang bis zum Ende im Lichtkreis einer liebevollen Ironie steht. Auch die Melancholie, Sebalds Middlename, wie es heißt, tritt meist im Gewand des Selbstspotts auf, so wenn Selysses sich in den Ringen des Saturn gleich nach dem spielerisch intonierten melancholischen Auftakt zunächst in einen von Sebalds zahlreichen Krüppeln und dann in Kafkas Käfer verwandelt, oder wenn nach der wirklich nicht zum Zurückhalten des Lachens auffordernden Schilderung der Papierlandschaften in Janine Rosalind Dakyns Büro Dürers Melancholia vorbeigetragen wird. Wer von der Wissenschaft herkommend überall verbissene Wahrheitssuche sieht, verpaßt den Spaß der Literatur. Wer in Sebalds Prosa die Freude und die Freundlichkeit nicht spürt, ist verraten.

Da sich die Schwindel.Gefühlen auch unter großer Anstrengung in den Holocaustkomplex nicht einbinden lassen, wird ihnen im Verein mit dem Prosagedicht Nach der Natur innerhalb der unterstellten Gesamtstrategie die erfolgreiche Erledigung der vorbereitenden Aufgabe bescheinigt, Sebalds Ruf als literarisch anspruchsvollem Exzentriker zu begründen und abzusichern. Der Exzentriker definiere sich als willentlicher Einzelgänger, der das Vernünftige tut in der allgemeinen Unvernunft. Sebalds taumelnder fiktionaler Counterpart in den Schwindel.Gefühlen macht sich aber des Vernunftgebrauchs kaum schuldig, fast schon ist es, als habe er Luhmanns flehentlichen Ruf vernommen: Nie wieder Vernunft!

Eine anderes Kleid, das Sebald gern überstreife, sei der Talar des Richters. Für weite Teile des Essaywerks ist das unbestritten. Im Erzählwerk treffen wir den Richter Frederick Farrar. Er hatte in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Freunde der Sebaldschen Prosa sind versucht, Farrars Übergang vom Richterdasein zum Pensionär einschließlich des entsetzten Rückblicks und des Rosengartens als Bild für Sebalds Übergang vom Literaturwissenschaftler zum Dichter zu deuten. Als Dichter mit einsetzendem Weltruhm war Sebald den germanistischen Graben- und Hahnenkämpfen, seinen Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen, entkommen, was konnte ihn ein Sternheim aus ferner Vergangenheit noch kümmern. Auch Schley äußert an einer Stelle die Vermutung, daß Sebald als arrivierter Autor eine Jahre zuvor beim Kollegen Grass noch getadelte Sache versöhnlicher gesehen hätte. Tatsächlich wird im Prosawerk so gut wie niemand ver- oder auch nur beurteilt, schon gar nicht die auftretenden Literaten. Was Sebald von Swinburne oder Chateaubriand gehalten hat, bleibt verborgen. Wer, in der Literatur oder in der Welt, zu verurteilen wäre, wird erst gar nicht zugelassen zum Werk. Eine wahre Urteilsphobie scheint eingekehrt. Schon im Landhaus waren nur noch positive und elogenhafte Urteile möglich, Freisprüche allesamt. In einer anderen Bildvorstellung könnte man sagen, bevor er die offene See des Prosawerks erreichte, war Sebald wie ein Fisch an Land mit den entsprechenden wilden Bewegungen und Schlägen. Im Wasser hat er sich unter die Makrelen begeben und mit Scomber scombrus ein Prosastück von betörender Eleganz geschaffen. Auch Schley setzt die skrupulöse Sanftheit der Prosa von der Aggressivität der rezensierenden Texte ab, den Gedanken, Sebald könne sich in der Belletristik vom Zwang zum heftigen Urteil befreit haben, verfolgt er aber nicht.

Die ins Feld geführten Bildvorstellungen können naturgemäß der Härte der Wissenschaft nicht standhalten. Für seine Idee des gewandelten Sebalds kann der Literaturfreund letzlich nur anführen, daß ihm am wissenschaftlich-essayistischen Werk wenig, am Prosawerk alles liegt. Gut denkbar, daß Sebald Thomas Bernhard beneidet hat, der sich theoretische Überlegungen ersparen und seinen Zorn ins Werk selbst verlagern konnte, wo er niemand störte und Gerechtigkeit des Urteils programmatisch ausgeschlossen war. Vereinzelt darf Bernhard sich auch im Werk seines bekennenden Freundes Sebald umtun, so in den Vernichtungspredigten des Emyr Elias oder bei der Verwandlung der armen Belgier in lauter Krüppel und Irre. Auch könnte man meinen, Sebald habe sich bei der Erarbeitung seines literarischen Deutschlandbildes leiten lassen von der peniblen Akkuratesse Bernhards bei der Darstellung Österreichs.

Wie Sebald ist Fridolin Schley Wissenschaftler und Prosaautor zugleich. Auf eine Selbstdiagnose im Lichte Bourdieus zur Klärung der Frage, wie es um seine intratextuelle, autorengesteuerte Positionierungsstrategien bestellt ist, wäre man gespannt.

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