Sonntag, 23. Dezember 2012

Andante sostenuto

Das Ethos des Dichters

Verschiedentlich ist der Sound der Sebaldschen Prosa gerühmt und insgeheim getadelt worden. Unter den Musikern wird ein Sound eher James Last als Robert Schuhmann zugeschrieben. Im deutschen und überdies im literarischen Kontext hat das englische Wort vollends etwas unmittelbar Herablassendes. Die Musikalität der Sätze steht im Verdacht, dem Ernst der Dinge nicht angemessen zu sein und spätestens angesichts der ernstesten Dinge, wie es der Holocaust ist, habe sich jedwedes embroidery und jedwede Phrasierung, so die Einschätzung, zugunsten umfassender Korrektheit der Haltung und des Ausdrucks zu verabschieden. Dem steht ein von Walter Benjamin beifällig angeführtes Wort Cajetan Freunds gegenüber, wonach die Musikalität der Worte nicht eine gesonderte technische Qualität darstellt, sondern nichts anderes ist als das eigentliche Ethos des Dichters. Bach hat niemand die Musikalität bei der Behandlung so ernster Dinge wie der Passionsgeschichte verübelt, und von einem Sound spricht Blumenberg bei seiner Würdigung der Matthäuspassion nicht.
Sebald hat sich musikalisch zu Schubert bekannt, sicher wäre es aber verfehlt, im Klang seiner Prosa nach Spuren Schuberts oder eines anderen Komponisten zu suchen. Es bedarf andererseits gar nicht Sebalds Bekenntnis im Hinblick auf das Andante sostenuto aus Schuberts Klaviersonate B-Dur, seiner Grundposition entsprechend bevorzuge er die langsamen Sätze in der Musik, um diese Grundposition als bestimmend für sein literarisches Schaffen zu erkennen. Die Musik der Worte und Sätze ist aber anders als die der Töne. Ein verläßlicher Hinweis auf musikalische Verwandtschaft in der Dichtung findet sich wohl in Sebalds Wahrnehmung der Prosa Kellers, die sich dahin bewege auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn. Mittel mit denen Sebald einen ähnlichen Effekt erzielt sind eine aufwendige und immer geschmeidige Hypotaxe, das häufige, die Fließgeschwindigkeit regulierende Vorziehen des Verbs im Satz, semantisch entbehrliche, allein die Satzmelodie tragende Wörter, blasse Verben nach der Art Stifters (gehen für die Wolkenbewegung), die wie Leichtbauteile in einem Flugapparat wirken. Wenn Sebald zu Thomas Browne bemerkt, seine Sätze vermöchten wegen dieser enormen Belastung durch die beförderten Bedeutungen nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen würde wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreife selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation, so ist klargestellt, daß die Musikalität einer Prosa nicht allein in Wortwahl und Syntax, sondern nicht weniger in der Semantik wirkt. Auch in dieser Weise lassen Freund, und ihm folgend Benjamin, sich in der Einschätzung von der Musikalität als dem Ethos des Dichters verstehen. Zu folgern ist, daß Sätze nicht zählen, die sich aufschwingen, ohne gewichtige Bedeutung zu tragen, während andererseits Bedeutungen, die nicht ins Klingen und Schweben geraten, kaum zur Literatur rechnen. Insofern ergibt sich eine Relativierung der Bedeutsamkeit der Inhalte, die aber durchaus als Steigerung erlebt werden kann. Wir haben der klingenden, die einzelnen Werke übergreifenden Motivik der Empfangsdamen, Mitreisenden, Lesegefährten, Heiligen, Uhren, den Textwanderungen des heiligen Georg &.a.m. gelauscht.
Die Tonart der Sebaldschen Prosa, da sind sich die meisten einig, ist das Moll der Melancholie. Wer aber nur sie und schwarzen Ernst hört, ist gefährdet und sollte medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Eine gelindere Form des gleichen Leidens, die vielleicht mit Hausmitteln kuriert werden kann, besteht in der Idee, man könne sich Sebald und seinen Worten ausschließlich in weihevoller Haltung nähern. Vor allem in den Reise- und Wanderbüchern tritt Melancholie nicht selten im Gewand des heilenden Selbstspotts auf, so wenn Selysses sich in den Ringen des Saturn gleich nach dem spielerisch intonierten melancholischen Auftakt zunächst in einen von Sebalds zahlreichen Krüppeln und dann in Kafkas Käfer verwandelt, oder wenn nach der wirklich nicht zum Zurückhalten des Lachens auffordernden Schilderung der Papierlandschaften in Janine Rosalind Dakyns Büro Dürers Melancholia vorbeigetragen wird. In den Schwindel.Gefühlen häufen sich spöttische Tonfolgen dieser Art, so beim Kampf um dem Cappuccino im Bahnhofsbistro Venedig, bei der scharfen Rasur, die bei der Kindheitserinnerung an den Bader Köpf nachträglich schaudernden Schrecken verursacht, beim Pädophilieverdacht im Bus nach Riva. Die Bilder Kafkas und Stendhals sind ganz in lächelnde Melancholie gekleidet. Die beiden Trauszenen, mit der Wirtin Luciana Michelotti und dem Lehrerfräulein Rauch, leiten über zu Bildern lächelnder Menschenfreundlichkeit wie der Bahnfahrt nach Mailand in Begleitung zweier vollendeter Lesegefährtinnen oder der Begegnung mit der Negerfamilie auf dem amerikanischen Highway in der Erzählung Ambros Adelwarth. Es sind zugleich Szenen der Vergeblichkeit und des Abschieds und insofern melancholische Momente. Gelegentlich gibt es unvermutete und ungläubig wahrgenommene harte und disharmonische, nicht ohne Übermut angeschlagene Klänge wie den der Verwandlung der Belgier in lauter Krüppel und Irre oder den der krächzenden Tiroler Weiber im Bus von Innsbruck nach Oberjoch, Klänge, die bei nichtmusischer Leseweise zu Menschenrechtskritik Anlaß geben könnten und, was die Belgier anbelangt, auch gegeben haben.
Jede Sebalddeutung, die Gehör verdient, muß erklären können, warum wir uns so wohl fühlen in diesem Werk, das der Holocaustliteratur zugerechnet wird. Die Welt sei ohne Sinn, und das sei ausnahmslos allen bekannt, äußert Sebald in einem Gespräch, eine Anmerkung aus dem Bezirk des Nihilismus. In seinem Aufsatz zu Becketts En attendant Godot stellt Günther Anders fest, das Stück unterscheide sich von fast allen nihilistischen Dokumenten durch den Ton. Der Clown sei von einer Traurigkeit, die, da sie das traurige Los der Menschen überhaupt abspiegelt, die Herzen aller Menschen erleichtert. Sebald, der auf seine Weise das traurige Los der Menschen nachzeichnet, vermag unser Herz, bei nur dezenten Anleihen aus dem Clownesken – die Zirkusleute allerdings haben ihren gebührenden Platz im Werk - zu erleichtern, mehr noch: er vermag die Welt bei all ihren Schrecken wohnlich zu erhalten, wohnlich nicht durch freundliche und insofern unsinnige Behauptungen über sie, sondern durch den stillen Klang der Prosa.
Sind die ersten Takte gespielt, die ersten Sätze geschrieben, ist noch so gut wie alles möglich, das meiste gleichwohl bereits nicht mehr. Die aufgefundenen Tonlagen lassen sich nachweisen im Text, im Ohr des Lesers werden sie aber unterschiedliche Wirkung erzielen. Dem einen ist dies heller, dem anderen das, in dem einen Ohr hallt dieser Ton länger nach, in dem anderen ein anderer. Sebald habe immer das gleiche Buch geschrieben, heißt es, aus verschiedenen Gründen eine fehlgeleitete Einlassung, nicht zuletzt wegen der doch sehr unterschiedlichen Mischung der bedeutungsmusikalischen Komponenten. So muß das Element des Selbstspotts in den Lebensgeschichtenbüchern, in denen Selysses sich in die Rolle eines Komparsen begibt, notwendig zurücktreten im Vergleich mit den Reise- und Wanderbüchern, in denen er Hauptdarsteller ist. Wer diese Tonlage besonders liebt, wird Sebalds Prosaerstling einen Vorzugsplatz einräumen. Innerhalb des Andante sostenuto sind die Schwindel.Gefühle ständigen, feineren oder heftigeren Stimmungswechseln unterworfen. Gerade noch hat Selysses das Zugabteil mit zwei wirklich bezaubernden Reisegefährtinnen, der Franziskanerin und dem jungen Mädchen, geteilt, als er auf dem Mailänder Bahnhofsplatz Opfer eines Raubversuchs wird. Das Gebirgsmassiv des Großvenedigers noch im Rücken trifft er im ansonsten noch leeren Innsbrucker Bahnhof die Schar der philosophischen Sandler, dann die ausgeschämte Bedienerin, im Bus die gräßlichen Tirolerinnen, das Land liegt im Regen, es klart auf, die Schar der Hühner läuft hinaus aufs Feld, aus einem nicht ganz erfindlichen Grund geht ihm der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar sehr ans Herz, überhaupt weiß er nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das ihn manchmal so rührt, vom Fernpaß aus wird die dunkeltürkisgrüne Fläche des Fernsteinsees sichtbar, ein Inbegriff aller erdenklichen Schönheit. Läßt man die Schwindel.Gefühle mit ihren, im Sinne einer Sonate, vier Sätzen in Gedanken an sich vorüberziehen, so ist es, als würden die Bedeutungen jegliche Festigkeit verlieren zugunsten eines reinen semantischen Klangspiels, um sie, die Festigkeit, auch bei anschließender sorgfältiger Lektüre nur unvollkommen zurückzugewinnen.

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