Sebald kauft sich eine Hose
Proust schreibt: Une œuvre où il y a des théories est comme un objet sur lequel on laisse la marque du prix. Ein Poeta doctus wie Proust oder Sebald hat nicht die Möglichkeit, Theorien aus dem Weg zu gehen, eher schon kann er sich die Gewohnheit der englischen Lords zueigen machen, aus neuen Kleidungsstücken nicht nur die Preisschilder und Markenzeichen zu entfernen, sondern sie vom Butler so lange eintragen zu lassen, bis sie das ursprüngliche glatte Format verloren haben. Das entsprechende Eintragen und Abnutzen der Theorien kann der Dichter allerdings keinem Butler überlassen, er muß es selbst im Verborgenen tun, bevor er mit den nun nicht mehr neuen Hosen auf die Straße geht.
Proust schreibt: Une œuvre où il y a des théories est comme un objet sur lequel on laisse la marque du prix. Ein Poeta doctus wie Proust oder Sebald hat nicht die Möglichkeit, Theorien aus dem Weg zu gehen, eher schon kann er sich die Gewohnheit der englischen Lords zueigen machen, aus neuen Kleidungsstücken nicht nur die Preisschilder und Markenzeichen zu entfernen, sondern sie vom Butler so lange eintragen zu lassen, bis sie das ursprüngliche glatte Format verloren haben. Das entsprechende Eintragen und Abnutzen der Theorien kann der Dichter allerdings keinem Butler überlassen, er muß es selbst im Verborgenen tun, bevor er mit den nun nicht mehr neuen Hosen auf die Straße geht.
In der Gestaltung der Austerlitz überfallenden Sprachlosigkeit sei Sebald dem Chandos-Brief gefolgt, ohne ihn aber recht verstanden zu haben, heißt es. Was als Vorwurf gemeint ist, kann kein Vorwurf sein, ein falsches Verständnis des Briefes hätte nur die notwendige Zeit des Eintragens und der Abnutzung verkürzt, wir wissen aber nicht, wie lange sie gedauert hat. In der Begleitliteratur wird gefragt, ob Sebald Gnostiker war, Beziehung zum Vulkanismus unterhielt, wie sein Verhältnis zum Christentum war &c. Bei allen diesen Fragen ist die Richtung entscheidend. Von vergleichsweise geringem Interesse ist die, welche zurückführt zum fertig geschneiderten, mit Markenzeichen und Preisschild versehenen Anzug im Schneiderladen der Geistesgeschichte, von weit höherem Interesse diejenige, die den Dichter heimlich beim Eintragen des Kleidungsstückes beobachtet. Was das Christentum anbelangt, so wird es vom Dichter selbst, in der Gestalt des Majors Le Strange, in unmittelbare Beziehung zum Motiv der abgetragenen Kleidung gebracht: Le Strange sei in seinem späteren Alter, weil er seine Garderobe völlig abgetragen hatte und neue Stücke sich nicht mehr zulegen wollte, in Kleidern aus früheren Zeiten herumgegangen, die er bei Bedarf aus den Kästen auf dem Dachboden seines Hauses hervorholte. Es gab Leute, die behaupteten, ihn gelegentlich gesehen zu haben in einem kanarienfarbenen Gehrock oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen. Auch hieß es, Le Strange, der immer schon einen zahmen Hahn auf seinem Zimmer gehalten hatte, sei nachmals wie der heilige Franz ständig umschwärmt gewesen von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Einmal im Sommer habe Le Strange in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste.
Die in Sebald den Prime Speaker of the Holocaust sehen, möchten in Proust vermutlich gern den Prince de l’affaire Dreyfus erkennen, werden aber vom Dichter aktiv daran gehindert. In der gleiche Passage der Temps retrouvé heißt es weiter: Je sentais que je n’aurais pas à m’embarrasser des diverses théories littéraires qui m’avaient un moment troublé - notamment celles que la critique avait développées au moment de l’affaire Dreyfus et avait reprises pendant la guerre, et qui tendaient à faire sortir l’artiste de sa tour d’ivoire, et à traiter des sujets frivoles ni sentimentaux, mais peignant de grands mouvements ouvriers ou bien de nobles intellectuels, ou des héros. Bei Proust hat man sich der Einsicht beugen müssen, daß bei ihm die sujets frivoles, wie das in den Tee getauchte Küchlein, das unebene Pflaster im Hof der Guermantes, die Kirchtürme von Martinville und der kleine gelbe Mauerfleck der Dreyfusaffäre an Bedeutsamkeit voraus sind, bei Sebald steht die entsprechende Einsicht noch aus, obwohl bei ihm allein im Tierreich, mit Motten, Tauben, Seidenvögeln, Heringen und anderen, hinreichend frivole Kandidaten bereitstehen.
Sebald hat seine Literatur als Literatur der Armut bezeichnet. Im Zeichen der Armut werden selten neue Hosen gekauft, man flickt sie, wendet und vererbt sie. So sehen wir Selysses in Kellers Hosen beim Entfachen kleiner Feuerchen, in der Kleidung Bernhards, der dabei war, als Peymann sich eine neue Hose kaufte, auf der Fahrt nach Innsbruck und, ähnlich elegant wie der Major Le Strange, in Prousts Gehrock in der Saison des Jahres 1913 in Deauville.
Die in Sebald den Prime Speaker of the Holocaust sehen, möchten in Proust vermutlich gern den Prince de l’affaire Dreyfus erkennen, werden aber vom Dichter aktiv daran gehindert. In der gleiche Passage der Temps retrouvé heißt es weiter: Je sentais que je n’aurais pas à m’embarrasser des diverses théories littéraires qui m’avaient un moment troublé - notamment celles que la critique avait développées au moment de l’affaire Dreyfus et avait reprises pendant la guerre, et qui tendaient à faire sortir l’artiste de sa tour d’ivoire, et à traiter des sujets frivoles ni sentimentaux, mais peignant de grands mouvements ouvriers ou bien de nobles intellectuels, ou des héros. Bei Proust hat man sich der Einsicht beugen müssen, daß bei ihm die sujets frivoles, wie das in den Tee getauchte Küchlein, das unebene Pflaster im Hof der Guermantes, die Kirchtürme von Martinville und der kleine gelbe Mauerfleck der Dreyfusaffäre an Bedeutsamkeit voraus sind, bei Sebald steht die entsprechende Einsicht noch aus, obwohl bei ihm allein im Tierreich, mit Motten, Tauben, Seidenvögeln, Heringen und anderen, hinreichend frivole Kandidaten bereitstehen.
Sebald hat seine Literatur als Literatur der Armut bezeichnet. Im Zeichen der Armut werden selten neue Hosen gekauft, man flickt sie, wendet und vererbt sie. So sehen wir Selysses in Kellers Hosen beim Entfachen kleiner Feuerchen, in der Kleidung Bernhards, der dabei war, als Peymann sich eine neue Hose kaufte, auf der Fahrt nach Innsbruck und, ähnlich elegant wie der Major Le Strange, in Prousts Gehrock in der Saison des Jahres 1913 in Deauville.
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