Wechselrede
Der mittelalterliche katalanische Dichter Joanot Martorell fragt: Woher kommen die Worte? – und findet die Antwort: Allein aus dem Mund der Menschen. Dann, so seine Folgerung, muß der Dichter ihnen dort auflauern. In seinem Roman Tirant lo Blanch läßt Martorell den Comte Guillem de Varoic den Entschluß fassen, das Sant Sepulcre im Heiligen Land zu besuchen. Der Comte gibt seiner Gattin, der Comtessa, seinen Entschluß aus dem Mund heraus in einer anderhalbseitigen Ansprache zur Kenntnis. Die Comtessa bringt ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung gleichumfänglich zum Ausdruck. Darauf erneut der Comte und dann wieder die Comtessa, beide erneut ohne Eile, ausführlich. Die Schilderung der Reise selbst, von der sich der Comte naturgemäß nicht abbringen läßt, beansprucht samt Rückkehr - nicht in die Arme der Comtessa, sondern in die Klause des Eremiten - nur eine halbe Seite. Im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte und der Entwicklung der erzählenden Literatur werden die Ansprachen kürzer, werden zu Rede und Gegenrede, zum Gespräch, zu Dialogen in direkter Rede, die dann fester Bestandteil des klassischen Romans im neunzehnten Jahrhundert sind, bei Jane Austin nicht weniger als bei Tolstoi, Fontane oder Flaubert.
Von Hemingway weiß man, daß er die Dialoge und die verbleibende Prosa seiner Erzählungen unterschiedlich geschrieben hat, die Dialoge auf der Schreibmaschine und die Prosa mit der Hand. Offenbar waren es für ihn zwei unterschiedliche Literaturgattungen, die separat produziert und erst nachträglich vernäht wurden. Elmore Leonards Ten Rules for Good Writing gelten im Prinzip nur für die Art von Literatur, die er schreibt, die dritte, das Vernähen betreffende Regel aber kann universelle Gültigkeit beanspruchen: Never use a verb other than said to carry dialogue. Groß ist die Zahl derer, die es besser wissen und in einem Roman die ganze Liste von nuscheln, zischen, fauchen, flüstern, hecheln, murmeln, raunzen, aufbrausen &c. abarbeiten. Wenn sie, ans Ende gelangt, keine Vokabel zwei Mal benutzt haben, macht sie das in den eigenen Augen vermutlich zu begnadeten Stilisten. Dabei läßt schon ein einziges der Verben die Naht wieder aufplatzen, die Modalität der Dialogaussage muß in ihr selbst spürbar sein, allenfalls so kann sie als Teil der Prosa gelten. Aber ist der Dialog überhaupt ein begrüßenswertes Element der Erzählprosa, sollten die beiden Teile überhaupt vernäht werden? Der Beginn eines Dialogs in direkter Rede in der Prosa ist wie der Aufbau einer Bühne für das Theaterspiel. Für Leser, die das Theater meiden, ist das immer ein schmerzlicher Augenblick, gerade haben sie sich voller Freude auf lange Atemzüge eingestellt, da müssen sie hecheln zum raschen Beat der Wechselrede. Thomas Bernhard hat die Trennung vollzogen, Theater zum einen und Prosa zum anderen.
Mit der unbefangenen Verwendung des Dialogs in der erzählenden Literatur ist es im zwanzigsten Jahrhundert auch sonst vorbei. Wer die ersten fünf Seiten der Recherche gelesen hat, erwartet für die nachfolgenden viertausend keine Dialoge in direkter Rede mehr - etwas anderes sind die Redebeispiele, mit denen die Personen, losgelöst von einer konkreten Gesprächssituation, immer wieder charakterisiert werden -, es gibt sie aber, oft so ungelenk, daß sie den Verlagsanforderungen für Heimat- und Arztromane nicht genügen würden. Prousts gewaltige und in jeder Hinsicht großartige, nie auf Plan und Regel oder auch Literatur bedachte Wortmoräne bewegt sich ungerührt weiter. William Gaddis geht in die exakt andere Richtung und erzielt doch ein in gewisser Weise vergleichbares Resultat, bei ihm wird nur gesprochen. Dabei wird auch noch Leonards said eingespart und die Übergänge von einem Sprecher zum anderen bleiben ungekennzeichnet durch Absatz oder andere Mittel. Wenn Prousts Werk gern mit einer Kathedrale verglichen wird, so fühlen wir uns bei Gaddis wie unter einer von Tiepolo mit Stimmen ausgemalten Kuppel. George V. Higgins geht den Weg zurück zu Martorell. Der übliche kurze Wortaustausch mit der Kassiererin im Supermarkt kann sich bei ihm über fünf Seiten erstrecken, mit jeder Zeile mehr stellt sich der sensible Leser auf blutige Übergriffe aus der Warteschlange ein, die auf wunderbare Weise aber ausbleiben.
Sebald entledigt sich des Dialogs zum einen durch weitgehende Schweigeverordnungen. In Manchester hat Selysses die stumm dastehende teas-maid als Gesprächspartner, in Wien die Dohlen und eine weißköpfige Amsel, diese Unterhaltungen werden aus verständlichen Gründen nicht in direkter Rede wiedergegeben. Die junge Frau im Victoriahotel in Lowestoft bleibt so stumm wie die Engelwirtin in W. Le Strange stellt Florence Barnes als Haushälterin mit der Bedingung, die von ihr zubereiteten Mahlzeiten gemeinsam mit ihm ohne Wortwechsel zu verzehren. Still nebeneinander sitzen die Geistesarbeiter in den Lesesälen der Bibliotheken. Auf der Fahrt nach Mailand gelingt es Selysses nicht, mit der Franziskanerin und dem jungen Mädchen auch nur ein Wort zu wechseln, und auch dem Gesprächsangebot der Winterkönigin begegnet er nur dumm und stumm.
Nun ist es nicht so, als ob über Sebalds Literatur ein großes Schweigen liegen würde. Es bleibt nicht bei den Dohlen und Amseln, andere Gesprächspartner stellen sich ein, Herbeck, Malachio, Altamura, Farrar, de Jong, Garrad &c. Nie erfolgt eine realistische, dialogische Wiedergabe der Gespräche in direkter Rede, Selysses unterschlägt seine Gesprächsanteile weitestgehend und referiert nur die Worte der anderen. In Austerlitz erreicht die spezielle Dialogform You talk, I listen seinen Höhepunkt, der Erzähler tritt das Verfassen des Buches sozusagen an den Titelhelden ab. Gleichzeitig wird hier ein weiteres Prinzip der Gesprächswiedergabe überdeutlich und offen formuliert: das Aussparen aller Floskeln und Trivialia. Als Selysses Austerlitz in der Bar des Great Eastern Hotels in London trifft, nimmt dieser, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über das nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgte Zusammentreffen, das Gespräch mehr oder weniger dort wieder auf, wo es einst abgebrochen war. Umschweife kennt keiner der Gesprächspartner des Selysses.
Nicht der Roman, sondern die Prosa sei sein Metier, so Sebald, und man fragt sich, wo die Unterschiede zu suchen sind. Der wichtigste ist wohl der Verzicht auf romanhafte Intrigen, ein weiterer die Ausschaltung des Theaterdialogs. Optisch - Literatur ist ein optisches Medium – führt, neben anderem, das Fehlen von Dialogen zu einer radikalen Verringerung der Absätze im Text. Auffälliger noch ist naturgemäß eine andere optische Eigenschaft der Texte Sebalds.
In zwei Gesprächen oder besser Gesprächsversuchen, in denen es um Photographien geht, wird aus dem zuhörenden Selysses jemand, dem man nicht zuhört. Nachdem er bereits längere Zeit auf die Schweigen bewahrenden Eltern der Kafkazwillinge im Bus nach Riva eingeredet hatte, sagte er zuletzt, zur Zerstreuung jeden Verdachts, den sie, seine Person betreffend, hegen mochten, es würde ihm schon reichen, wenn sie, sobald sie aus den Ferien wieder zurück in Sizilien seien, ihm ein Bild ihrer Söhne nach England schicken würden, eine Bitte, der Erfolg nicht beschieden ist. Auf das Bild der Kafkaknaben müssen wir in den Schwindel.Gefühlen verzichten. In Verona ist der Photograph in dem Laden neben der seit geraumer Zeit geschlossenen Pizzeria weder bereit zu einer Auskunft zu den Gründen der Geschäftschließung, noch läßt er sich überreden, von der Vorderfront des Hauses eine Photographie aufzunehmen.
Die auffälligen Schwierigkeiten der Bildbeschaffung verweisen wohl auf das tieferliegendes Problem einer sachgerechten Dokumentation der Welt, die allerdings durch das Photo nur scheinbar zu erreichen ist. Für seine späteren Reisen hat Selysses sich zur Vermeidung weiteren Ärgers offenbar eine eigene Kamera beschafft. Er läßt sie an den Schwindelgefühlen teilhaben und nutzt sie gleichermaßen zum Beleg und zur Verfälschung der Realität. Die in den Text eingesetzten Bilder sind von der Fiktion nicht weniger in Dienst genommen als die Worte. An die Stelle des aus der Prosa verbannten Theaterdialogs tritt der Dialog von Prosa und Bild. Der Leser fragt sich, mit welchem Ernst und in welcher Tiefe er sich auf diesen Dialog einlassen soll. Die Pizzeriarechnung aus Verona oder das Entrittsbillet zum Giardino Giusti lassen keinen weiten Sinnhorizont vermuten. Die Bildausschnitte zu Giotto und Pisanello können als einfache Orientierungshilfe gelten, warum fehlen sie dann aber für Tiepolo. Leichtfertig geworden, nimmt man vielleicht den Le Strange betreffenden, als Photo beigebenen Zeitungsausschnitt für bare Münze. Warum beanspruchen in Austerlitz zwei Billardkugeln eine ganze Doppelseite? Offenbar handelt es sich bei den Bildern um einen quirligen, wenn nicht launischen Dialogpartner, fast schon ein musikalischer Dialog, eine selbständige Oberstimme, dem Sebaldleser so vertraut, daß er ihre selbstverständliche Anwesenheit kaum noch wahrnimmt, wenn sie aber fehlt, wie in den in dieser Hinsicht nicht auskomponierten Korsikafragmenten, vermißt er sie.
Der Aufenthalt in Limone ist kaum bebildert. Das in indirekter Rede wiedergegebene Gespräch zwischen Selysses und Luciana ist beidseitig geführte, keine Seite schweigt und hört nur zu. Triviale Dinge wie Kaffee und Brote treten hinzu. So wie Georg in Grünewalds Gemälde sich anschickt, aus dem Rahmen zu treten, so scheint Sebald die Prosa hin zum Roman, zum Liebesroman zu verlassen, mit dem glücklichen Ende einer Trauung gar, die sich allerdings mit der Phantasie als Handlungsort begnügen muß. Es ist einer der schönsten Liebensromane überhaupt und einer der kürzesten.
Der mittelalterliche katalanische Dichter Joanot Martorell fragt: Woher kommen die Worte? – und findet die Antwort: Allein aus dem Mund der Menschen. Dann, so seine Folgerung, muß der Dichter ihnen dort auflauern. In seinem Roman Tirant lo Blanch läßt Martorell den Comte Guillem de Varoic den Entschluß fassen, das Sant Sepulcre im Heiligen Land zu besuchen. Der Comte gibt seiner Gattin, der Comtessa, seinen Entschluß aus dem Mund heraus in einer anderhalbseitigen Ansprache zur Kenntnis. Die Comtessa bringt ihr Entsetzen und ihre Verzweiflung gleichumfänglich zum Ausdruck. Darauf erneut der Comte und dann wieder die Comtessa, beide erneut ohne Eile, ausführlich. Die Schilderung der Reise selbst, von der sich der Comte naturgemäß nicht abbringen läßt, beansprucht samt Rückkehr - nicht in die Arme der Comtessa, sondern in die Klause des Eremiten - nur eine halbe Seite. Im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte und der Entwicklung der erzählenden Literatur werden die Ansprachen kürzer, werden zu Rede und Gegenrede, zum Gespräch, zu Dialogen in direkter Rede, die dann fester Bestandteil des klassischen Romans im neunzehnten Jahrhundert sind, bei Jane Austin nicht weniger als bei Tolstoi, Fontane oder Flaubert.
Von Hemingway weiß man, daß er die Dialoge und die verbleibende Prosa seiner Erzählungen unterschiedlich geschrieben hat, die Dialoge auf der Schreibmaschine und die Prosa mit der Hand. Offenbar waren es für ihn zwei unterschiedliche Literaturgattungen, die separat produziert und erst nachträglich vernäht wurden. Elmore Leonards Ten Rules for Good Writing gelten im Prinzip nur für die Art von Literatur, die er schreibt, die dritte, das Vernähen betreffende Regel aber kann universelle Gültigkeit beanspruchen: Never use a verb other than said to carry dialogue. Groß ist die Zahl derer, die es besser wissen und in einem Roman die ganze Liste von nuscheln, zischen, fauchen, flüstern, hecheln, murmeln, raunzen, aufbrausen &c. abarbeiten. Wenn sie, ans Ende gelangt, keine Vokabel zwei Mal benutzt haben, macht sie das in den eigenen Augen vermutlich zu begnadeten Stilisten. Dabei läßt schon ein einziges der Verben die Naht wieder aufplatzen, die Modalität der Dialogaussage muß in ihr selbst spürbar sein, allenfalls so kann sie als Teil der Prosa gelten. Aber ist der Dialog überhaupt ein begrüßenswertes Element der Erzählprosa, sollten die beiden Teile überhaupt vernäht werden? Der Beginn eines Dialogs in direkter Rede in der Prosa ist wie der Aufbau einer Bühne für das Theaterspiel. Für Leser, die das Theater meiden, ist das immer ein schmerzlicher Augenblick, gerade haben sie sich voller Freude auf lange Atemzüge eingestellt, da müssen sie hecheln zum raschen Beat der Wechselrede. Thomas Bernhard hat die Trennung vollzogen, Theater zum einen und Prosa zum anderen.
Mit der unbefangenen Verwendung des Dialogs in der erzählenden Literatur ist es im zwanzigsten Jahrhundert auch sonst vorbei. Wer die ersten fünf Seiten der Recherche gelesen hat, erwartet für die nachfolgenden viertausend keine Dialoge in direkter Rede mehr - etwas anderes sind die Redebeispiele, mit denen die Personen, losgelöst von einer konkreten Gesprächssituation, immer wieder charakterisiert werden -, es gibt sie aber, oft so ungelenk, daß sie den Verlagsanforderungen für Heimat- und Arztromane nicht genügen würden. Prousts gewaltige und in jeder Hinsicht großartige, nie auf Plan und Regel oder auch Literatur bedachte Wortmoräne bewegt sich ungerührt weiter. William Gaddis geht in die exakt andere Richtung und erzielt doch ein in gewisser Weise vergleichbares Resultat, bei ihm wird nur gesprochen. Dabei wird auch noch Leonards said eingespart und die Übergänge von einem Sprecher zum anderen bleiben ungekennzeichnet durch Absatz oder andere Mittel. Wenn Prousts Werk gern mit einer Kathedrale verglichen wird, so fühlen wir uns bei Gaddis wie unter einer von Tiepolo mit Stimmen ausgemalten Kuppel. George V. Higgins geht den Weg zurück zu Martorell. Der übliche kurze Wortaustausch mit der Kassiererin im Supermarkt kann sich bei ihm über fünf Seiten erstrecken, mit jeder Zeile mehr stellt sich der sensible Leser auf blutige Übergriffe aus der Warteschlange ein, die auf wunderbare Weise aber ausbleiben.
Sebald entledigt sich des Dialogs zum einen durch weitgehende Schweigeverordnungen. In Manchester hat Selysses die stumm dastehende teas-maid als Gesprächspartner, in Wien die Dohlen und eine weißköpfige Amsel, diese Unterhaltungen werden aus verständlichen Gründen nicht in direkter Rede wiedergegeben. Die junge Frau im Victoriahotel in Lowestoft bleibt so stumm wie die Engelwirtin in W. Le Strange stellt Florence Barnes als Haushälterin mit der Bedingung, die von ihr zubereiteten Mahlzeiten gemeinsam mit ihm ohne Wortwechsel zu verzehren. Still nebeneinander sitzen die Geistesarbeiter in den Lesesälen der Bibliotheken. Auf der Fahrt nach Mailand gelingt es Selysses nicht, mit der Franziskanerin und dem jungen Mädchen auch nur ein Wort zu wechseln, und auch dem Gesprächsangebot der Winterkönigin begegnet er nur dumm und stumm.
Nun ist es nicht so, als ob über Sebalds Literatur ein großes Schweigen liegen würde. Es bleibt nicht bei den Dohlen und Amseln, andere Gesprächspartner stellen sich ein, Herbeck, Malachio, Altamura, Farrar, de Jong, Garrad &c. Nie erfolgt eine realistische, dialogische Wiedergabe der Gespräche in direkter Rede, Selysses unterschlägt seine Gesprächsanteile weitestgehend und referiert nur die Worte der anderen. In Austerlitz erreicht die spezielle Dialogform You talk, I listen seinen Höhepunkt, der Erzähler tritt das Verfassen des Buches sozusagen an den Titelhelden ab. Gleichzeitig wird hier ein weiteres Prinzip der Gesprächswiedergabe überdeutlich und offen formuliert: das Aussparen aller Floskeln und Trivialia. Als Selysses Austerlitz in der Bar des Great Eastern Hotels in London trifft, nimmt dieser, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über das nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgte Zusammentreffen, das Gespräch mehr oder weniger dort wieder auf, wo es einst abgebrochen war. Umschweife kennt keiner der Gesprächspartner des Selysses.
Nicht der Roman, sondern die Prosa sei sein Metier, so Sebald, und man fragt sich, wo die Unterschiede zu suchen sind. Der wichtigste ist wohl der Verzicht auf romanhafte Intrigen, ein weiterer die Ausschaltung des Theaterdialogs. Optisch - Literatur ist ein optisches Medium – führt, neben anderem, das Fehlen von Dialogen zu einer radikalen Verringerung der Absätze im Text. Auffälliger noch ist naturgemäß eine andere optische Eigenschaft der Texte Sebalds.
In zwei Gesprächen oder besser Gesprächsversuchen, in denen es um Photographien geht, wird aus dem zuhörenden Selysses jemand, dem man nicht zuhört. Nachdem er bereits längere Zeit auf die Schweigen bewahrenden Eltern der Kafkazwillinge im Bus nach Riva eingeredet hatte, sagte er zuletzt, zur Zerstreuung jeden Verdachts, den sie, seine Person betreffend, hegen mochten, es würde ihm schon reichen, wenn sie, sobald sie aus den Ferien wieder zurück in Sizilien seien, ihm ein Bild ihrer Söhne nach England schicken würden, eine Bitte, der Erfolg nicht beschieden ist. Auf das Bild der Kafkaknaben müssen wir in den Schwindel.Gefühlen verzichten. In Verona ist der Photograph in dem Laden neben der seit geraumer Zeit geschlossenen Pizzeria weder bereit zu einer Auskunft zu den Gründen der Geschäftschließung, noch läßt er sich überreden, von der Vorderfront des Hauses eine Photographie aufzunehmen.
Die auffälligen Schwierigkeiten der Bildbeschaffung verweisen wohl auf das tieferliegendes Problem einer sachgerechten Dokumentation der Welt, die allerdings durch das Photo nur scheinbar zu erreichen ist. Für seine späteren Reisen hat Selysses sich zur Vermeidung weiteren Ärgers offenbar eine eigene Kamera beschafft. Er läßt sie an den Schwindelgefühlen teilhaben und nutzt sie gleichermaßen zum Beleg und zur Verfälschung der Realität. Die in den Text eingesetzten Bilder sind von der Fiktion nicht weniger in Dienst genommen als die Worte. An die Stelle des aus der Prosa verbannten Theaterdialogs tritt der Dialog von Prosa und Bild. Der Leser fragt sich, mit welchem Ernst und in welcher Tiefe er sich auf diesen Dialog einlassen soll. Die Pizzeriarechnung aus Verona oder das Entrittsbillet zum Giardino Giusti lassen keinen weiten Sinnhorizont vermuten. Die Bildausschnitte zu Giotto und Pisanello können als einfache Orientierungshilfe gelten, warum fehlen sie dann aber für Tiepolo. Leichtfertig geworden, nimmt man vielleicht den Le Strange betreffenden, als Photo beigebenen Zeitungsausschnitt für bare Münze. Warum beanspruchen in Austerlitz zwei Billardkugeln eine ganze Doppelseite? Offenbar handelt es sich bei den Bildern um einen quirligen, wenn nicht launischen Dialogpartner, fast schon ein musikalischer Dialog, eine selbständige Oberstimme, dem Sebaldleser so vertraut, daß er ihre selbstverständliche Anwesenheit kaum noch wahrnimmt, wenn sie aber fehlt, wie in den in dieser Hinsicht nicht auskomponierten Korsikafragmenten, vermißt er sie.
Der Aufenthalt in Limone ist kaum bebildert. Das in indirekter Rede wiedergegebene Gespräch zwischen Selysses und Luciana ist beidseitig geführte, keine Seite schweigt und hört nur zu. Triviale Dinge wie Kaffee und Brote treten hinzu. So wie Georg in Grünewalds Gemälde sich anschickt, aus dem Rahmen zu treten, so scheint Sebald die Prosa hin zum Roman, zum Liebesroman zu verlassen, mit dem glücklichen Ende einer Trauung gar, die sich allerdings mit der Phantasie als Handlungsort begnügen muß. Es ist einer der schönsten Liebensromane überhaupt und einer der kürzesten.
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