Ozean und Felsenskelett
In den Aufzeichnungen zum Passagenwerk heißt es: In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. - Man fragt sich, ob diese Wahrheit, sofern es eine ist, sich in der erzählenden Prosa vielleicht vor allem anderen in Szenen des Erwachens, der ersten Wahrnehmung der Frühe spiegelt. In seiner Schlichtheit erhält dieser Ansatz Unterstützung von Benjamin selbst, der wenige Seiten zuvor eine große literarische Szene des Erwachens zum Muster einer geschichtlichen Wahrheit macht: Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen. – Denn auch der beschworene kühle Morgenwind ist Teil einer geschichtsphilosophischen Überlegung, es geht an dieser Stelle weiter im Text: Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht die Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.
Der letzte Satz in Thomas Bernhards Roman Beton lautet: Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst. - Das gesuchte motivische Zusammentreffen von Erwachen und kühler Morgenbrise ist hier nicht zu entdecken. Bei Bernhard führt der leichte Weg nicht zu der Stelle, in die man sich hineinversetzen muß, damit das wahrhaft Neue spürbar wird. Läßt man die Übernachtungsszenen in Sebalds Büchern vor dem inneren Auge vorbeiziehen, sieht es auch nicht verheißungsvoll aus. Metaphysische Augenblicke werden eher dem Abend als dem Morgen abgewonnen, in Amsterdam der Blick auf das Entenpaar im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide ein, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, in Ithaca der wogenden Schatten einer aus Tiefe heraufragenden Zypresse.
Der Hotelmorgen wird oft wortkarg abgehandelt. Gleichwohl gibt es einige Szenen des Erwachens und der Frühe, die Benjamins Vermutung Recht geben könnten und auch wieder nicht, Szenen der Frühe jedenfalls mit geschichtsphilosophischem Einschluß. In Venedig ist es ein anderes Aufwachen, als man es sonst gewohnt ist. Still bricht nämlich der Tag an, durchdrungen nur von einzelnen Rufen und vom Flügelklatschen der Tauben, während man in den Hotels anderer Städte nicht auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs horcht. Das also ist, habe ich dann immer wieder gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben kommen die Wellen daher, werden lauter, richten sich weiter auf, überschlagen sich in einer Art von Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Brecher aus über den Asphalt und die Steine. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten was da war lange vor uns. Ganz und gar unwirklich, als müßte sie bald zerreißen, dünkte mich darum die Stille über der Stadt Venedig.
An die Stelle der Morgenkühle ist, als verwandtes Motiv, die Morgenstille getreten, die allerdings als inzwischen unüblich eingeordnet wird und gedanklich sogleich dem üblicherweise grassierenden Lärm weichen muß, der das gerade noch Bestehende frißt und auf diese kannibalische Weise Geschichtsverlauf und Fortschritt bestimmt. Das entstehende neue Leben scheint auf und zersetzt schon die Gliedmaßen des alten, können wir uns überhaupt noch erheben und fortbewegen, wenn auch unter Schwindelgefühlen?
Als er in Deauville aus seinem Traum erwacht, der ihn zurück ins neunzehnte Jahrhundert versetzt hatte, tritt Selysses ans Fenster seines Hotelzimmers. Der Morgen bricht soeben an. Farblos noch geht der Strand in das Meer und das Meer in den Himmel über. Das ist der Morgen vor dem Abend des zweiten Tags, bevor noch Gott die Feste und das Wasser schied und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste oder, in zeitnäherer Ausdrucksweise: ein Restart von Grund auf. Aber auch das frisch anlaufende Wachprogramm bleibt sofort wieder auf groteske Weise im neunzehnten Jahrhundert stecken: Das letzte, die Gräfin Dembowski betreffende Traumbild setzt sich fort, und Selysses sieht durch das Hotelfenster die femme fatale vergangener Tage als eine auf das geschmackloseste zusammengerichtete Person, die ein weißes Angorakaninchen an der Leine spazieren führt. Ein giftgrün livrierter Clubman hält ihm immer dann, wenn es nicht weiter will, ein Stückchen Blumenkohl vor.
Selysses ist unterwegs im Nachtzug von Wien nach Venedig. Aufgewacht ist er erst mit dem Gefühl, daß der Zug nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir Nebenfetzen entgegen. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Sinn, und damit dachte ich natürlich sogleich an die Zerstörung, die im Friaulischen vor wenigen Monaten erst sich zugetragen hatte. Nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, Schutt- und Schotterhalden und hie und da kleine Zeltdörfer schemenhaft an den Tag.
Man könnte meinen, das gesuchte, von Benjamin postulierte künstlerische Epizentrum sei an dieser Stelle im Motivbereich aufgefunden. Von den Bächen her dringt die Morgenkühle direkt ans Gesicht. Jürgen Osterhammel läßt die Eisenbahn als, inzwischen freilich vergangenes Fortschrittssymbol des neunzehnten über den Einband seines großen Werkes fahren, hier ist sie auf halsbrecherischer Fahrt vom Gebirge herab in die Ebene. Der Fahrtwind wird zum Sturm, der den Nebel zerschlägt. Das Land ist von einer schweren Katastrophe heimgesucht, die Menschen leben als Nomaden in Zelten in einer Schotterwüste.
Auch das Flugzeug, Fortschrittssymbol des zwanzigsten Jahrhunderts, kommt zum Worte. Korsika fliegt Selysses in einem kleinen Motorflugzeug an. Bald tauchte die Insel vor uns auf, ein düsteres, noch von Nachtschatten umfangenes Gebirge. Wenig später aber waren wir, in der Höhe, in der wir uns befanden, umgeben von strahlendem Morgenlicht, und auch drunten auf dem Wasser wichen westwärts die Schatten zurück. Der Pegel des Lichts senkte sich nun auf die Steinwüsten oberhalb der Baumgrenze nieder. Es war, als würde auf der Morgenseite der Berge eine graue Stoffbahn eingeholt und Zoll für Zoll ein auf der glatten Fläche des Meers aufgebahrter Riesenkörper enthüllt oder doch die Überreste eines Felsenskeletts, eine Wirbelsäule, ein Schädeldach, eine Kinnlade, Schulterblätter und Rippen, bizarre Formen aus Quarz- und Feldspatgranit, die aufragten aus dem seit der Zeit des Tertiärs andauernd von ihnen abgefallenen Schutt.
Das Morgenlicht wird aus dem Nachtschatten geboren und bietet die Welt dar in ihrer Pracht, eine Welt ganz ohne die Menschen, die im Friaul immerhin noch als Wüstenbewohner in Zelten kampieren durften. In einer Art Totenfeier oder in postmortaler Verhöhnung der beseitigten Menschheit - immer wieder wird sie bei Sebald auf die eine oder andere Weise aus dem Bild gedrängt - nimmt der Fels selbst die Gestalt eines bizarren Skeletts an, mit Wirbelsäule, Schädel, Schulterblättern und Rippen. Wer, ermuntert von der korsischen Erfahrung, noch einmal zurückschaut nach Venedig, erinnert sich, daß hier das Neue, wenn es denn Neues geben wird, den Weg nicht über die minerale, wohl aber über die thalassale Regression geht - in großen Schüben kommen unaufhörlich die Wellen des neuen Ozeans daher.
Benjamin hat sich dem Wesen von Geschichte und Fortschritt mit immer neuen Bildern genähert, nicht unbedingt darauf bedacht, daß sie sich zu einem Gesamtpanorama fügen. Zu Recht am berühmtesten ist das Bild des Engels der Geschichte: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. – In seiner gleißenden Schönheit sollte das Bild von analysierendem Verstehensbemühen eher verschont bleiben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß im Rücken des dahinsegelnden Engels bereits der kühle Wind eines leuchtenden Zukunftsmorgen zu verspüren ist, wenig aber spricht dafür, und Sebald trägt zu diesem wenigen nicht bei. Nach dem Erwachen in Venedig wagt Selysses einen Blick in die Zukunft, it is murder. In Deauville verfängt er sich im neunzehnten Jahrhundert, die Zugfahrt nach Venedig führt zurück in das vorgeschichtliche Nomadenleben, der Flug nach Korsika bis an die Grenze der Kreidezeit. Je gewaltiger die Mittel und je größer der Fortschritt, desto ausgedehnter die Vergangenheit und desto weniger Zukunft.
Offenbar steht der unaufhaltsame Sturm, der den Engel der Geschichte vor sich hertreibt, in besserem Einklang mit Sebalds Erwachens- und Morgenszenen als der kühle Wind der Frühe. Sebalds eigene Engel, er hat sie bei Giotto gefunden, schweben allerdings wie zeit- und geschichtsentbunden im leichten Aufwind des eigenen Klagelieds: Am meisten erstaunte mich die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Der Salvator selbst hinterläßt in Verona für Selysses einen weiteren Engel Giottos, der wie von einem starken Wind getragen schwebt, ein direkter Vorläufer des Angelus Novus in der Kunstgeschichte. Es ist nicht zu erkennen, ob er, wenn auch rückwärts, noch in die Zukunft fliegt, oder aber, die sich einrollende Zukunft hinter sich herziehend, schon auf dem Weg zurück zum Felsenskelett im Ozean ist. Welche Aufgabe kann ein Engel in einer menschenleeren Welt noch erfüllen.
In den Aufzeichnungen zum Passagenwerk heißt es: In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht. - Man fragt sich, ob diese Wahrheit, sofern es eine ist, sich in der erzählenden Prosa vielleicht vor allem anderen in Szenen des Erwachens, der ersten Wahrnehmung der Frühe spiegelt. In seiner Schlichtheit erhält dieser Ansatz Unterstützung von Benjamin selbst, der wenige Seiten zuvor eine große literarische Szene des Erwachens zum Muster einer geschichtlichen Wahrheit macht: Wie Proust seine Lebensgeschichte mit dem Erwachen beginnt, so muß jede Geschichtsdarstellung mit dem Erwachen beginnen. – Denn auch der beschworene kühle Morgenwind ist Teil einer geschichtsphilosophischen Überlegung, es geht an dieser Stelle weiter im Text: Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann. Fortschritt ist nicht die Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause: dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht.
Der letzte Satz in Thomas Bernhards Roman Beton lautet: Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst. - Das gesuchte motivische Zusammentreffen von Erwachen und kühler Morgenbrise ist hier nicht zu entdecken. Bei Bernhard führt der leichte Weg nicht zu der Stelle, in die man sich hineinversetzen muß, damit das wahrhaft Neue spürbar wird. Läßt man die Übernachtungsszenen in Sebalds Büchern vor dem inneren Auge vorbeiziehen, sieht es auch nicht verheißungsvoll aus. Metaphysische Augenblicke werden eher dem Abend als dem Morgen abgewonnen, in Amsterdam der Blick auf das Entenpaar im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide ein, reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers, in Ithaca der wogenden Schatten einer aus Tiefe heraufragenden Zypresse.
Der Hotelmorgen wird oft wortkarg abgehandelt. Gleichwohl gibt es einige Szenen des Erwachens und der Frühe, die Benjamins Vermutung Recht geben könnten und auch wieder nicht, Szenen der Frühe jedenfalls mit geschichtsphilosophischem Einschluß. In Venedig ist es ein anderes Aufwachen, als man es sonst gewohnt ist. Still bricht nämlich der Tag an, durchdrungen nur von einzelnen Rufen und vom Flügelklatschen der Tauben, während man in den Hotels anderer Städte nicht auf die Stille, sondern mit wachem Entsetzen auf die Brandung des Verkehrs horcht. Das also ist, habe ich dann immer wieder gedacht, der neue Ozean. Unaufhörlich, in großen Schüben kommen die Wellen daher, werden lauter, richten sich weiter auf, überschlagen sich in einer Art von Phrenesie auf der Höhe des Lärmpegels und laufen als Brecher aus über den Asphalt und die Steine. Ich bin im Verlauf der Jahre zu dem Schluß gelangt, daß aus diesem Getöse jetzt das Leben entsteht, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wird, so wie wir das langsam zugrunde richten was da war lange vor uns. Ganz und gar unwirklich, als müßte sie bald zerreißen, dünkte mich darum die Stille über der Stadt Venedig.
An die Stelle der Morgenkühle ist, als verwandtes Motiv, die Morgenstille getreten, die allerdings als inzwischen unüblich eingeordnet wird und gedanklich sogleich dem üblicherweise grassierenden Lärm weichen muß, der das gerade noch Bestehende frißt und auf diese kannibalische Weise Geschichtsverlauf und Fortschritt bestimmt. Das entstehende neue Leben scheint auf und zersetzt schon die Gliedmaßen des alten, können wir uns überhaupt noch erheben und fortbewegen, wenn auch unter Schwindelgefühlen?
Als er in Deauville aus seinem Traum erwacht, der ihn zurück ins neunzehnte Jahrhundert versetzt hatte, tritt Selysses ans Fenster seines Hotelzimmers. Der Morgen bricht soeben an. Farblos noch geht der Strand in das Meer und das Meer in den Himmel über. Das ist der Morgen vor dem Abend des zweiten Tags, bevor noch Gott die Feste und das Wasser schied und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste oder, in zeitnäherer Ausdrucksweise: ein Restart von Grund auf. Aber auch das frisch anlaufende Wachprogramm bleibt sofort wieder auf groteske Weise im neunzehnten Jahrhundert stecken: Das letzte, die Gräfin Dembowski betreffende Traumbild setzt sich fort, und Selysses sieht durch das Hotelfenster die femme fatale vergangener Tage als eine auf das geschmackloseste zusammengerichtete Person, die ein weißes Angorakaninchen an der Leine spazieren führt. Ein giftgrün livrierter Clubman hält ihm immer dann, wenn es nicht weiter will, ein Stückchen Blumenkohl vor.
Selysses ist unterwegs im Nachtzug von Wien nach Venedig. Aufgewacht ist er erst mit dem Gefühl, daß der Zug nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hineinstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir Nebenfetzen entgegen. Wir befanden uns in einer halsbrecherischen Fahrt. Dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich, Bergbäche und Wasserfälle weiß stäubend in der kaum gebrochenen Nacht, waren so nah, daß der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. Das Friaulische, ging es mir durch den Sinn, und damit dachte ich natürlich sogleich an die Zerstörung, die im Friaulischen vor wenigen Monaten erst sich zugetragen hatte. Nach und nach brachte das Morgengrauen verschobenes Erdreich, Felsbrocken, Schutt- und Schotterhalden und hie und da kleine Zeltdörfer schemenhaft an den Tag.
Man könnte meinen, das gesuchte, von Benjamin postulierte künstlerische Epizentrum sei an dieser Stelle im Motivbereich aufgefunden. Von den Bächen her dringt die Morgenkühle direkt ans Gesicht. Jürgen Osterhammel läßt die Eisenbahn als, inzwischen freilich vergangenes Fortschrittssymbol des neunzehnten über den Einband seines großen Werkes fahren, hier ist sie auf halsbrecherischer Fahrt vom Gebirge herab in die Ebene. Der Fahrtwind wird zum Sturm, der den Nebel zerschlägt. Das Land ist von einer schweren Katastrophe heimgesucht, die Menschen leben als Nomaden in Zelten in einer Schotterwüste.
Auch das Flugzeug, Fortschrittssymbol des zwanzigsten Jahrhunderts, kommt zum Worte. Korsika fliegt Selysses in einem kleinen Motorflugzeug an. Bald tauchte die Insel vor uns auf, ein düsteres, noch von Nachtschatten umfangenes Gebirge. Wenig später aber waren wir, in der Höhe, in der wir uns befanden, umgeben von strahlendem Morgenlicht, und auch drunten auf dem Wasser wichen westwärts die Schatten zurück. Der Pegel des Lichts senkte sich nun auf die Steinwüsten oberhalb der Baumgrenze nieder. Es war, als würde auf der Morgenseite der Berge eine graue Stoffbahn eingeholt und Zoll für Zoll ein auf der glatten Fläche des Meers aufgebahrter Riesenkörper enthüllt oder doch die Überreste eines Felsenskeletts, eine Wirbelsäule, ein Schädeldach, eine Kinnlade, Schulterblätter und Rippen, bizarre Formen aus Quarz- und Feldspatgranit, die aufragten aus dem seit der Zeit des Tertiärs andauernd von ihnen abgefallenen Schutt.
Das Morgenlicht wird aus dem Nachtschatten geboren und bietet die Welt dar in ihrer Pracht, eine Welt ganz ohne die Menschen, die im Friaul immerhin noch als Wüstenbewohner in Zelten kampieren durften. In einer Art Totenfeier oder in postmortaler Verhöhnung der beseitigten Menschheit - immer wieder wird sie bei Sebald auf die eine oder andere Weise aus dem Bild gedrängt - nimmt der Fels selbst die Gestalt eines bizarren Skeletts an, mit Wirbelsäule, Schädel, Schulterblättern und Rippen. Wer, ermuntert von der korsischen Erfahrung, noch einmal zurückschaut nach Venedig, erinnert sich, daß hier das Neue, wenn es denn Neues geben wird, den Weg nicht über die minerale, wohl aber über die thalassale Regression geht - in großen Schüben kommen unaufhörlich die Wellen des neuen Ozeans daher.
Benjamin hat sich dem Wesen von Geschichte und Fortschritt mit immer neuen Bildern genähert, nicht unbedingt darauf bedacht, daß sie sich zu einem Gesamtpanorama fügen. Zu Recht am berühmtesten ist das Bild des Engels der Geschichte: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm. – In seiner gleißenden Schönheit sollte das Bild von analysierendem Verstehensbemühen eher verschont bleiben. Es ist nicht ausgeschlossen, daß im Rücken des dahinsegelnden Engels bereits der kühle Wind eines leuchtenden Zukunftsmorgen zu verspüren ist, wenig aber spricht dafür, und Sebald trägt zu diesem wenigen nicht bei. Nach dem Erwachen in Venedig wagt Selysses einen Blick in die Zukunft, it is murder. In Deauville verfängt er sich im neunzehnten Jahrhundert, die Zugfahrt nach Venedig führt zurück in das vorgeschichtliche Nomadenleben, der Flug nach Korsika bis an die Grenze der Kreidezeit. Je gewaltiger die Mittel und je größer der Fortschritt, desto ausgedehnter die Vergangenheit und desto weniger Zukunft.
Offenbar steht der unaufhaltsame Sturm, der den Engel der Geschichte vor sich hertreibt, in besserem Einklang mit Sebalds Erwachens- und Morgenszenen als der kühle Wind der Frühe. Sebalds eigene Engel, er hat sie bei Giotto gefunden, schweben allerdings wie zeit- und geschichtsentbunden im leichten Aufwind des eigenen Klagelieds: Am meisten erstaunte mich die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Der Salvator selbst hinterläßt in Verona für Selysses einen weiteren Engel Giottos, der wie von einem starken Wind getragen schwebt, ein direkter Vorläufer des Angelus Novus in der Kunstgeschichte. Es ist nicht zu erkennen, ob er, wenn auch rückwärts, noch in die Zukunft fliegt, oder aber, die sich einrollende Zukunft hinter sich herziehend, schon auf dem Weg zurück zum Felsenskelett im Ozean ist. Welche Aufgabe kann ein Engel in einer menschenleeren Welt noch erfüllen.
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