Dienstag, 8. April 2014

Inselleben

Narrenschiff

Die gargantueske Zahl von zwanzigtausend auf Ynys Enlli zur Ruhe gebetteten Heiligen erlaubte es für einen scherzhaften Moment, Bücher von Sebald und Fflur Dafydd gleichzeitig ins Auge zu fassen, eine besondere Nähe zwischen den beiden Autoren besteht nicht. Dafydds Buch ist ganz vom Motiv der Insel bestimmt, ein Motiv, das bei Sebald weitgehend fehlt, Insel verstanden im Sinne eines kleinen Eilands, auf dem man das Meer an keinem Ort für keinen Augenblick vergessen kann, ynys gyfrinachol yng nghanol y mor, also nicht Nowaja Zemlja oder Ynys Prydain und auch nicht Korsika. Entgegen den eingeschlagenen Wegen der Literaturwissenschaft sind Unähnlichkeiten aber nicht weniger aufschlußreich als Ähnlichkeiten, so daß wir ungeniert fortfahren können.

Als Metapher kommen dem Leser der Bücher Sebalds Insel und Eiland leicht in den Sinn, führen doch die zurückgezogenen Helden wie Le Strange, Garrad oder Aurach ein ganz und gar insulares Leben. Niemand ist eine Insel, no man is an iland, beides gilt für sie allenfalls eingeschränkt. In einem Fall wird die Metapher real eingelöst, und die beabsichtigte, allerdings mißlingende Einsiedlung findet auf einem kleinen Eiland, der Peterinsel im Bieler See statt. Eine in einem Binnensee gelagerte Insel ist naturgemäß nicht das gleiche wie eine vom Meer umtoste, wenn Selysses aber, indem er seinem auf einem weißem Feldweg sich entfernenden Begleiter nachschaut, an einen Seefahrer denkt, den es nach vielen Jahren auf den Weltmeeren auf ein ihn fremdes festes Land verschlagen habe, so weht gleichwohl auch hier eine ozeanische Brise. Mit Einsiedlerabsichten trägt sich weniger Selysses als, lange vor ihm, Jean-Jaques Rousseau. Den Rest seines Lebens könne er hier verbringen, ohne sich je zu langweilen. Den Beweis für diese, angesichts seines Temperaments mutige Aussage muß er nicht antreten, denn nach wenigen Wochen schon wird er von seinen Feinden auch aus dieser Zuflucht vertrieben. Wenn der Urheber bürgerlicher Gefühlswallungen sich, wie er schreibt, im Kahne ausstreckt, zum Himmel emporschaut und sich langsam vom Wasser abtreiben läßt, oft mehrere Stunden lang, so sieht Sloterdijk darin eine philosophische und kulturhistorische Zeitenwende in Europa eingeläutet, weg vom Streß und hin zur Freiheit, ein Umschwung, von dem allerdings die wenigsten etwas spüren. Auch Selysses sieht diesen epochalen Bruch nicht und hegt im Stillen den Verdacht, von den genannten mehreren Stunden habe der weitaus größere Teil wohl dazu gedient, die in wenigen Minuten gewonnenen Eindrücke schriftlich zu fixieren. Als Robinson auf der Insel hätte Rousseau in jedem Fall zahllose für seine Belehrungen offene Freitage in der Gestalt von Lesern auf dem Festland benötigt, und die hatte er auch.
Zwanzigtausend Heilige auf einem Areal von knapp zwei Quadratmeilen bieten, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, ohnehin kein Bild der Zurückgezogenheit. Zwar ist in der aktuellen Belegschaft von Ynys Enlli eine Einsiedlernonne, a hermit nun, vertreten, das Sebaldmotiv klingt an, in der Hauptsache aber geht es um das Miteinanderauskommen einiger mehr oder weniger für eine kürzere Dauer zufällig auf engem Areal zusammengewürfelter Menschen. Das Motiv der kleinen Insel ähnelt insofern dem des Passagierschiffes auf hoher See, wie wir es etwa in Katherine Anne Porters Remake des Narrenschiffes antreffen oder in Cortázar Los premios. Was ist ein Oceanliner anderes als eine bewegliche Insel. Mererid, die Hauptperson in Dafydds Roman, ist als writer-in residence auf der Grundlage einer Preisverleihung zeitweilige Inselbewohnerin, Cortázars Passagiere haben ihr Reisebillet sämtlich in einer Lotterie gewonnen, kaum in See gestochen aber müssen sie zweifeln, das große Los gezogen zu haben.

In Venedig bringt Selysses die Motive Insel und Schiff auf eigenartige Weise zusammen. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn ich über die graue Lagune auf die Friedhofsinsel, nach Murano oder weiter noch bis San Erasmo oder auf die Isola San Francesco del Deserto hinüberfahren würde. Ich sah den Nebel sich heben, die grüne Lagune ausgebreitet im Mailicht und die grünen Inseln wie Krauthäupter auftauchen aus der ruhigen Weite des Wassers. Ich sah die Krankenhausinsel La Grazia mit einem runden panoptischen Bau, aus dessen Fenstern winkend, als befänden sie sich auf einem großen, davonfahrenden Schiff, Tausende von Irren herausschauten. - Ein ganzes Archipel, und eine der Inseln fährt als Narrenschiff davon, die anderen scheinen verlassen, deserti, alle sind irre und entwichen, als Gesellschaft bleiben Selysses der heilige Franz, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser in einem schwankenden Schilfbett liegt, und die heilige Katharina, die über die Sümpfe schreitet, ein kleines Modell des Rads, auf dem man sie gebrochen hatte, in der Hand. Wäre er besser mit den Irren und als einer von ihnen davongefahren?
Mit einigem Erstaunen hören wir, Ritorno in Patria sei auf einer griechischen Insel, möglicherweise einem kleinen Eiland, niedergeschrieben worden. Die näheren Umstände kennen wir nicht, stellen uns aber nichts grundsätzliche anderes vor als Selysses zu Beginn von Ritorno in Patria, wie wir ihn sehen, allein in einem Hotel weit oberhalb von Bruneck, am Ende der Vegetation, beschäftigt mit seinen Schreibarbeiten: dies also versetzt auf eine einsame Insel. Aber vielleicht ist das ein Trugbild und die Wirklichkeit ganz anders. Womöglich noch erstaunlicher ist auf den ersten Blick der Einleitungssatz zu der Erzählung Scomber scombrus: Die beiden Segel waren im Westwind gebläht, und wir setzten den Kurs: Selysses als Teil eines Wir, das findet man kaum. Das Wir ist nicht näher bestimmt, neben Selysses tritt nur noch seine Begleiterin hervor, die Stimmung aber ist die von Licht und Frische und einer bella compagnia. Wir waren längst von dem Fischzug zurückgekehrt und schauten vom festen Land noch einmal hinaus auf das nun graue Meer: Auch eine Insel ist festes Land, vielleicht sind zahllose Inselaufenthalte in froher, wenngleich intellektuell anspruchsvoller Gesellschaft unerzählt geblieben, und es gilt, das Selyssesbild gründlich zu revidieren und die Forschungsfront neu abzustecken.

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