Donnerstag, 17. April 2014

Organisationssoziologie

Freie und Gleiche

An einer Stelle seines Werkes macht Luhmann aufmerksam auf die erstaunliche Leistung von Organisationen, größere Mengen von Menschen auf engem Raum weitgehend konfliktlos beisammen zu halten. Zentraler noch ist die Feststellung, wonach die moderne Gesellschaft ohne Organisationen nicht denkbar, die Gesellschaft selbst aber keine Organisation ist. Ohne sonderlich bekannt zu sein, scheinen diese beiden Ansätze die dominierende Utopie dieser Tage zu beflügeln. Danach verwandelt sich die Weltgesellschaft für einen historischen Augenblick in eine riesige, übergreifende Organisation - auf die UNO richten sich große Hoffnungen - die, sobald sie die friedenstiftende Wirkung in ihrem Inneren uneingeschränkt zur Entfaltung gebracht hat, schwindet und eine nicht nur organisations-, sondern auch gesellschaftsfreie, windkraftgetriebene Assoziation Freier und Gleicher in die Natur entläßt. Schon Marx’ Gedanken gingen, abgesehen von der Windkraft, in eine ähnliche Richtung. Luhmanns Soziologie gibt diese günstige Zukunftsaussicht nicht her, und auch Sebalds dichterische Erwägungen folgen einer anderen, wenn auch auf eine dunkle Art ähnlichen Melodie.
 Ungeachtet der von der Wissenschaft bescheinigten mildernden Wirkung auf das Zusammenleben der Menschen sind Organisationen bei den Dichtern nicht beliebt, man denke nur an Kafka. Das alltägliche Betreten der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen hat ihm keine Freude bereitet, und für seinen Helden K. verläuft die Begegnung mit Organisationen verschiedener Art katastrophal. Selysses scheint, so wie wir ihn erleben, in keine Organisationen eingebunden, und seine Wanderbewegungen scheinen nicht zuletzt darauf angelegt, den Kontakt mit Organisationen zu vermeiden. Bürogebäude, Zitadellen der organisierten Menschheit, werden von Selysses so gut wie nie betreten, womöglich traut er dem Friedensversprechen nicht. An den Bürotürmen der Docklands führt der Weg nur vorbei und dann durch einen Fußgängertunnel und den Park von Greenwich zum königlichen Observatorium, in dem sich kaum ein Besucher fand. Nur ein weitgereister Japaner erscheint lautlos und unversehens auf der Schwelle. Wenn man es recht bedenkt, waren zahlreiche Organisationen beschäftigt, den einsamen Mann bis hierher zu bringen, das Foreign Office für das Visum, die Fluggesellschaft, die Flughafenhafengesellschaft, die Zollbehörde, Banken. Bevor sich diese Überlegungen noch abschließen lassen, ist der Japaner schon wieder verschwunden. Auch von dem organisatorischen Hintergrund der Ausstellung ist unmittelbar nichts zu spüren, die Dinge in den Vitrinen, kunstreiche Beobachtungs- und Meßgeräte, Quadranten und Sextanten, Chronometer und Regulatoren, führen, wie es scheint, ein eigenmächtiges, selbstbestimmtes Dasein. Austerlitz und Selysses studieren die Geräte, jeder für sich, über Stunden hin. Gesellschaft, die, verlassen wir uns weiter auf Luhmann, ausschließlich aus Kommunikation besteht und nicht etwa, einem ebenso verwunderlichen wie verbreiteten Irrtum entsprechend, aus Menschen, kommt so gut wie zum Erliegen. Zwei Menschen, mit dem Rücken zueinander, ohne Blickwechsel, ganz dem eigenen Erleben hingegeben, da brennt nur noch die kleinste Stichflamme, die dem völligen und endgültigen Erlöschen vorbeugen soll.
Selysses sucht die aktionsbereiten Sitze von Firmen, Banken oder Verwaltungsstellen nach Möglichkeit zu meiden. Als er in Italien nicht umhinkommt, wegen des verlorenen Paßes die Polizeistation und später das Konsulat aufzusuchen, entfaltet er magische Kräfte und verwandelt den ersten Besuch in ein Hochzeitsfest, den zweiten in eine Begegnung mit dem heiligen Georg als Hochseilartist. Faszinierend sind für ihn dagegen leerstehende und aufgegebene Gebäude großer Organisationen. In Manchester sind es die geräumten und aufgelassenen Gebäude der Firmen und Produktionsstätten. Man konnte vorausblicken auf die ungefähr eine Meile noch entfernte, hauptsächlich aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzte, nach wie vor ungeheuer gewaltig wirkende, in Wahrheit aber beinahe restlos ausgehöhlte Wunderstadt aus dem letzten Jahrhundert. Als wir hineinfuhren in die dunklen Schluchten zwischen den meist sechs- bis achtstöckigen, aus Backstein aufgeführten und zum Teil mit glasierten Keramikplatten kunstvoll verkleideten Gebäuden, war nirgends ein Mensch zu sehen. Im Brüsseler Justizpalast konnte man viele Stunden lang wie in einem steinernen Gebirge durch die Säulenwälder irren, vorbei an kolossalen Statuen, treppauf und treppab, ohne je von einem Menschen nach seinem Begehr gefragt zu werden. In leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren richteten sich immer wieder kleine Geschäfte ein, etwa ein Tabakhandel oder ein Wettbüro, ohne in den Blick der Gewerbeaufsicht zu geraten oder der Steuerbehörde. Die Sanatoriumsanlage in Ithaca erreicht Selysses erst, als sie längst verlassen ist und droht, zu Staub zu verfallen. Auf den Bahnhöfen, auffällige Knotenpunkte immenser Organisationsnetze, sind kaum Offizielle anzutreffen. Beim Zug im Prager Bahnhof, bei dem es scheint, als sei er, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken, ist nicht ersichtlich, daß von zuständiger Seite die Fahrerlaubnis erteilt worden war. Auf dem Londoner Bahnhof läßt sich vom Management nur der Inder mit der Pappschachtel und dem Feger blicken, sein Handeln im offiziellen Auftrag ist nicht verbürgt, ebensowenig wie bei der schwarzen Frau in der Londoner U-Bahnstation oder bei den zwei winzigen Spinnenmenschen im Pariser Austerlitzbahnhof. Möglicherweise sind sie mit Reparaturen beschäftigt, möglicherweise auch handelt es sich um Geenpeaceaktivisten, die gleich eine Leinwand zum Wohle der Umwelt werden abrollen lassen. In Venedig lagert unbehelligt vom beamteten Personal, in der Bahnhofshalle hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Reisenden in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz lagen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhob sich der eine oder andere und wanderte herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise. Das ist wohl ein früher Ausblick auf das Reich der Freien und Gleichen, deren gesellschaftliche Struktur sich der archaischen der Wüstenmenschen wieder annähert, die, in kleineren Scharen freilich, frei von Sorgen, wenn auch nicht von den Mühen der Reise, immer wieder mit ihren Karawanen durch Sebalds Prosa ziehen.
Immer wieder auch stößt Selysses auf Fragmente oder vergessene Außenposten großer Organisationen. Jetzt also stand er auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der fraglichen Station, an der er nie jemanden hatte ein- oder aussteigen sehen, und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer einer sehr schwarzen, in einer Art Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen war. Ist die Station noch Teil des Verkehrsnetzes, oder gehört sie schon zu einem anderen Reich, steht die Negerfrau noch auf der Gehaltsliste der Verkehrsbetriebe, oder wird sie von anderer Seite auf geheimnisvolle Weise alimentiert. Wie ist es mit der Mesnerin von Sant' Anatsasia, bei der der Verdacht besteht, daß sie in ihrem Verschlag nicht nur tagsüber die Zeit verbringt, sondern buchstäblich wohnt, was mit der Pförtnerin im Giardino Giusti, die Selysses aus ihrem dunklen Gehäuse heraus zunickt, was mit den hinter ihren Tresen versteckten Rezeptionistinnen in den Museen: sind sie noch eingebunden in ein Organisationsgefüge oder betreiben sie, wie die Händler im Justizpalast, ihr Geschäft auf eigene Faust? Mit Garrad, Farrar, Malachi und Altamura, bei denen wir ein einsiedlerhaftes Dasein, wenn auch weniger strenger Observanz als im Fall des Majors Le Strange sehen oder annehmen, verkehrt Selysses der emanzipatorischen Zielvorstellung entsprechend als Freier und Gleicher unter Freien und Gleichen. Zu diesen Privateremiten sind die Organisationseremiten in ihren dunklen Gehäusen und Verschlägen hinzuzuzählen, die, nach allem, was man sieht, auch kaum anderen Umgang haben als den mit Selysses.
Erneut Rat beim Theoretiker suchend, erinnern wir uns, daß der Mensch der Gesellschaft äußerlich ist, gleichzeitig aber ihr mit Vorsprung wichtigster Umweltfaktor, ohne den, wie jeder auch theoriefrei weiß, Gesellschaft nicht sein kann. Das Umgekehrte, Mensch ohne Gesellschaft, scheint auf den ersten Blick nicht ganz so unmöglich. Unbestritten soll zugleich bleiben, daß es nicht gut ist für den Menschen, allein zu sein, und unbestritten wären wir alle gern befreit von der Last der anderen in den Augenblicken, wo sie nicht unsere Lust ist. Wünschen aber hilft schon lange nicht mehr, und von Organisationen sollte nur das erwartet werden, was sie leisten können. Selysses bekennt sich zu einer durchaus realistischen Einsicht: Wenn Gesellschaft schwinden soll zugunsten eines Reiches der Freien und Gleichen, so nur um den Preis, daß die Menschheit schwindet, sieben oder zehn Milliarden gesellschaftslose Freie und Gleiche sind ein Unding. Immer wieder, und nicht nur vom Flugzeug aus, erscheint vor den Augen des Wanderers eine leere, vom Menschen befreite Welt. Für den Augenblick ist er der letzte Gesellschafter der Eremiten. Nachfahren sind nirgends in Sicht, das Modell hat keine Zukunft und soll es auch nicht haben. Es ist eine dunkle Utopie, Menschendämmerung, die allerdings ihr vorausberechnetes Ende im Jahre 2013 bereits überdauert hat, kleinere Unebenheiten in der Kalkulation lassen sich nie ganz ausschließen.

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