Donnerstag, 15. Mai 2014

Innenwelt Außenhirn

Pour me tirer du néant

Wien: Jeden Morgen machte ich mich früh auf und legte anscheinend end- und ziellose Wege zurück von denen keiner, wie sich zu meinem Erstaunen bei einem späteren Blick auf den Plan zeigte, über einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich hinausführte. Hätte man die Wege, die ich damals gegangen bin, nachgezeichnet, so wäre der Eindruck entstanden, es habe hier einer auf einer vorgegebenen Fläche immer wieder neue Traversen und Winkelzüge versucht, um aufs neue an den Rand seiner Vernunft, Vorstellungs- oder Willenskraft anzugelangen und zum Umkehren gezwungen zu werden.
Dunwich: In die unablässig in meinem Kopf sich drehenden Gedanken verloren und wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen, wanderte ich auf der hellen Sandbahn dahin, bis ich zu meinem Erstaunen, um nicht zu sagen zu meinem Entsetzen, mich wiederfand vor demselben verwilderten Wäldchen, aus dem ich vor einer Stunde etwa hervorgetreten war. Der tief herabhängende bleierne Himmel, das krankhafte, die Augen trübende Violett de Heide, die Fliegen, die mich dauernd umschwärmten, beängstigend und grauenvoll kam mir das alles vor. Ich kann nicht sagen, wie lange ich in dieser Verfassung herumgeirrt bin, und wie ich schließlich einen Ausweg gefunden habe. Monate danach bin ich in einem Traum abermals auf der Heide von Dunwich gewesen, bin wieder über die unendlich verschlungenen Wege gegangen wie in einem für mich eigens angelegten Irrgarten. Von einem erhöhten Aussichtsposten sah ich schließlich auf das Labyrinth hinab, sah den hellen Sandboden, die scharf abgezirkelten Linien der nachtschwarzen Hecken, ein im Vergleich mit den Irrwegen, die ich zurückgelegt hatte, einfaches Muster, von dem ich im Traum mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn.

Für Anhänger eines konstruktivistischen oder systemtheoretischen Ansatz ist Selysses in diesen beiden pathologischen Augenblicken einer wichtigen Erkenntnis besonders nah: das Weltkonstrukt kann jederzeit einstürzen. Mag die Außenwelt, wie sie sich dem Menschen darstellt, eine Leistung seines Hirns sein, so ist die Suggestion ihrer Realität und die klare Abgrenzung vom Ich unverzichtbarer Teil dieser Leistung. Überdies scheint, wie der Theoretiker festhält, bei allem Geplänkel mit Konstruktivismus, irgendeine Deckung durch eine externe Realität unverzichtbar zu sein. Hier aber fällt die Außen- auf die Innenwelt zurück, Fremd- und Selbstreferenz sind eins, die Wiener Innenstadt erscheint Selysses als eine Kartierung seiner Psyche, die Heide von Dunwich als ein Querschnitt durch sein organisches Hirn. Bereits zu Beginn der Ringe des Saturn ist Selysses von Außenwelt und Realitätswahrnehmung so gut wie abgeschlossen. Tatsächlich war von meiner Bettstatt aus von der Welt nichts anderes mehr sichtbar als das farblose Stück Himmel im Rahmen des Fensters. Nur um den Preis der Verwandlung in Kafkas Käfer und mithin in eine literarische Figur beginnt die Rückgewinnung der Welt. Endlich stand ich dann gegen die Glasscheibe gelehnt ähnlich dem armen Gregor, der, mit zitternden Beinchen an die Sessellehne sich klammernd, aus seinem Kabinett hinausblickt in undeutlicher Erinnerung an das Befreiende, das früher einmal für ihn darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen. Durch die Fensterscheibe ist die klare Grenze wieder hergestellt, auf der einen Seite das Ich und auf der anderen Seite der Welt, und diese Grenze ist das Medium der Freiheit.
Traum und Schlaf sind immer eine Pathologie des Bewußtseins und der Realitätswahrnehmung mit in der Regel kurzer, sekundenschneller Genesungszeit. Bei Proust gestaltet sich die Sache schon etwas schwieriger: Quand je m'éveillais au milieu de la nuit je ne savais meme pas au premier instant qui j'étais; mais alors le souvenir venait à moi comme un secours d'en haut pour me tirer du néant. Er faßt die Gelegenheit des Erinnerns dann gleich gründlich beim Schopf und schreibt die Recherche vom Anfang bis zum Ende nieder. Selysses gerät tief in den Heidetraum hinein, übersteht ihn aber, soweit erkennbar, ebenso unbeschadet wie die tatsächlichen Irrgänge zuvor. Zwei Stunden zirka nach meiner wunderbaren Befreiung aus dem Heidelabyrinth erreichte ich die Ortschaft Middleton. Die Bewußtseinstrübung im Wachzustand zu Beginn der Schwindel.Gefühle ist schwerer zu überwinden als der Heidetraum. Es fragt sich, ob Selysses überhaupt ernsthafte Anstalten macht, zu einem Zustand klaren Bewußtseins und klarer Realitätswahrnehmung zurückzukehren. Die Bühne des Buches betritt er nicht unmittelbar, sondern schickt Stendhal vor. Als Selysses Jahre später Luciana Michelotti, der Wirtin des Hotels Sole in Limone, erläutert, er arbeite an einem in Oberitalien spielenden Kriminalroman, in dem es um das Wiederauftauchen einer seit langem verschollenen Person gehe, dämmert es dem Leser, daß es sich bei dem Roman um die Schwindel.Gefühle handelt, die er gerade vor sich hat, und bei der seit langem verschollenen Person um den Jäger Gracchus, dem, wie sich zeigt und anders als bislang bekannt und verbürgt, schon Stendhal in Riva begegnet war. Selysses findet also nicht zurück in eine Realität, in der das Hirn im und die Straßen und Plätze zuverlässig außerhalb des Kopfes sind, sondern beginnt ein Leben in der Literatur, wo einiges durcheinander geht und die Verhältnisse von Haus aus so klar nicht sind.
Die Außenwelt, das sind nicht so sehr die Dinge, die wir sehen, als die Menschen, mit denen wir sprechen. Der erste, mit dem Selysses spricht, abgesehen von den Dohlen in der Anlage vor dem Rathaus und der weißköpfigen Amsel, ist der schizophrene Dichter Ernst Herbeck, der die meiste Zeit von der Kleinheit seiner Gedanken geplagt wird und die Dinge wie durch ein feines Netz vor seinen Augen wahrnimmt: vielleicht nicht der entschlossenste Schritt, um selbst die Klarheit des Realitätswahrnehmung zurückzugewinnen, eher die Mutmaßung, die Dichtung könne hinter dem feinen Netz vor den Augen ihr Zuhause haben. Das Fensterbild in den Ringen des Saturn, das den Himmelsausschnitt dokumentieren soll, ist seinerseits mit einem Gitternetz überzogen. An Maßnahmen und dokumentarischen Hilfsmitteln, sich der Realität zu vergewissern, fehlt es andererseits nicht, und die Leser sind als Zeugen aufgerufen. Das Eintrittsbillet belegt den Aufenthalt im Giardino Giusto, die Rechnung die Bestellung, wenn nicht den Verzehr einer Pizza in der Pizzeria Verona. Das vom Brigadiere schwungvoll aus der Walze gerissene Dokument kann allerdings nicht die Trauung mit Luciana belegen, und der im Konsulat zu Mailand ausgestellte Paß nicht das Zusammentreffen mit San Giorgio als Hochseilartist im Warteraum. Die Verzauberung der Welt läßt sich nicht dokumentieren, weder gibt es ein Photo von der Begegnung mit Dante noch von der mit König Ludwig, und selbst von den Kafkazwillingen im Bus zum Gardasee läßt sich trotz intensiver Bemühungen ein Lichtbild nicht beschaffen. Einige dieser Episoden ähneln den Träumen, an deren Realität der Schläfer keinen Zweifel hat, so daß er sich, angesichts ihres für ihn günstigen Charakters auch nach dem Erwachen noch lange weigert, sie als Illusion anzuerkennen. In Mailand dann warnt schon der Stadtplan vor einem Labyrinth ähnlich dem in der Dunwicher Heide, und als Selysses die oberste Galerie des Doms erklommen hat, kann er sich nur unter Aufbietung aller verbliebenen Geisteskräfte zu der Einsicht durchringen, daß es sich bei den Menschen, die weit unten über den Domplatz hasten, um lauter Mailänder und Mailänderinnen handeln dürfte. Unterdessen setzt der Jäger Gracchus seinen Weg durch alle vier Erzählungen fort, verwandelt sich in den ebenfalls von Kafka erfundenen Jäger Hans Schlag, den Selysses noch als Kind zunächst auf dem Dachboden der Mathild vermutet und dann, als reale Person, im Engelwirt beim Geschäft mit der Romana antrifft, bevor der Jäger nach jahrhunderterlanger Irrfahrt endlich unweit der Ortschaft W. die ersehnte Ruhe im Tod findet, die Barke jetzt geschrumpft zu einer Tätowierung auf dem Arm. Selysses findet in Verona, im Hotel oberhalb von Bruneck und auch auf dem Weg nach W. zu relativer Klarsicht, in W. selbst sehen wir ihn so gut wie nur als das erinnerte Kind. Auf der Rückreise dann setzt die Verzauberung wieder ein, im Zug rheinabwärts reist die Winterkönigin mit, im Zug in die ostenglische Heimat brennt London, im Traum, ein weiteres Mal.

Mit Hilfe der Erinnerung befreit sich Proust aus dem Zwischenreich von Schlaf und Wachen, auf die Erinnerung wendet er sich zurück, um aus ihr die verlorene Zeit zu befreien. Dabei ist er allerdings auf die Gnade des unwillkürlichen Erinnerns angewiesen, wie es aufsteigt aus der Madeleine oder dem unebenen Pflaster im Hof der Guermantes. Selysses findet in den Schwindel.Gefühlen kaum in den Schlaf und erwacht andererseits nicht recht aus dem Traum. Er nistet sich literarisch ein in dem üblicherweise kurzen, hier aber endlos gedehnten Augenblick des Wiederfindens der Realität nach dem Erwachen. Wer sich in der Literatur einnistet, ist nicht allein, in den Schwindel.Gefühlen vergewissert Selysses sich der Begleitung Stendhals, der eine Gravur mit der Wirklichkeit verwechselt und mit der imaginären Mme Gherardi eine imaginäre Reise an den Gardasee unternimmt und dort auf Kafkas imaginären Jäger Gracchus trifft; und Kafkas, dessen Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung planer Wirklichkeit detaillierter Ausführungen nicht bedürfen. Erst als Selysses sich der Ortschaft W., seinem Combray, nähert, wird die Sicht klarer.

Die englische Wallfahrt unternimmt Selysses in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit sich ausbreitenden Leere entkommen zu können, und diese Hoffnung erfüllte sich auch bis zu einem gewissen Grad, denn selten habe ich mich so ungebunden gefühlt wie damals bei dem stunden- und tagelangen Dahinwandern. Von einem vergleichbaren Gefühl der Ungebundenheit ist in den Schwindel.Gefühlen nicht die Rede. Sieht man ab vom Erlebnis in der Dunwicher Heide und einigen anderen Vorfällen, sind die Realitätseinbußen in den Ringen des Saturn vergleichsweise gering. Hotelübernachtungen zwischen Schlaflosigkeit und Alptraum fehlen. Wenn Selysses in Lowestoft vor dem Fernsehgerät sogleich in einen tiefen Schlaf sinkt, ist das aus der hier verfolgten Perspektive positiv zu bewerten. Die Erzählung Max Aurach beginnt mit einem Reisebericht und ähnlichen Bewußtseinsstörungen wie die beiden Reise- und Wanderbücher. Umfangen von einem unbegreiflichen Gefühl der Unverbundenheit, hätte Selysses sich leicht aus dem Leben entfernen können, dann aber bewegt sich seine Aufmerksamkeit weg von der eigenen Person und hin zu der des Titelhelden. Dabei bleibt es auch in den anderen langen Erzählungen und in Austerlitz. Der Blick auf die anderen geht wie durch eine zugleich trennende und verbindende Fensterscheibe als einem Medium der Befreiung. Ein dauerhaft verläßlicher Standort aber ist auch das, wie Gregor Samsa erfahren mußte, nicht.

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