Freitag, 2. Mai 2014

Wegfahrlosigkeit

Vegetabil

Vom Fürsten Andrej heißt es in Tolstois Roman an einer Stelle, er habe zwei Jahre wegfahrlos (beswyjesdno) auf seinem Gut verbracht. Im Sinne eines korrekten Gebrauchs der deutschen Sprache müßte man ein Adjektiv wie ständig oder eine verbale Phrase wie ohne auch nur einmal wegzufahren verwenden. Ständig unterdrückt den Gegensatz zum Fahren und Reisen, und die verbale Phrase läßt das Fahren als eine Tätigkeit erscheinen, auf die man verzichten kann oder auch nicht. Wegfahrlos dagegen erscheint wie eine unveräußerliche Eigenschaft des Fürsten Andrej, für zwei Jahre zumindest. Die bloße Vorstellung einer zweijährigen Wegfahrlosigkeit läßt das Empfindungspendel weit zur Seite von Ruhe und Frieden hin ausschlagen. Selysses erleben wir nie wegfahrlos, er ist immer schon weggefahren und wandert weiter. Gern aber besucht er aus seinen Reisen weitgehend oder vollständig wegfahrlose Menschen, ganz besonders in den Ringen des Saturn. Bei näherer Betrachtung unterscheidet er sich von den standortfesten Eremiten wie Garrad oder Le Strange nicht so grundsätzlich, wie es scheinen mag, sein Refugium ist, wie beim Wandermönch, die Reise. Die Ringe des Saturn sind Sebalds Buch vom Krieg und vom Frieden.

Tolstoi war wie Sebald ein Nachkriegskind, wenn auch mit einem gehörigen zeitlichen Abstand zur Schlacht an der Beresina. In seinem Buch geht es aus russischer Sicht um einen Abwehrkrieg, einen guten Krieg mit einem guten Ende, Napoleon wird geschlagen und des russischen Landes verwiesen. Die Überlebenden dürfen am Ende froh in die Zukunft blicken. Für Sebald ist die Zeit der guten Kriege vorbei. Napoleons Kriege begegnen uns in den Schwindel.Gefühlen, auch in Austerlitz, im Korsikaprojekt, wäre es ausgeführt worden, hätten sie uns ein weiteres Mal begegnen können. In den Ringen des Saturn, sind es der Seekrieg zwischen Holländern und Engländern, der englische Kolonialkrieg in China, das nicht einmal als Krieg zu bezeichnende Abschlachten der Schwarzen im belgischen Kongo, das Wüten des Ustascha auf dem Balkan, der Luftkrieg der Engländer, der große vaterländischer Krieg der Deutschen und der wahre Weltkrieg, der gegen die Natur. Le Strange hatte an der Befreiung von Bergen Belsen teilgenommen, den Siegern will es aber nicht scheinen, als könnten sie erleichtert die Waffen beiseite legen, zuviel ist zerstört im Inneren der Überlebenden.
Mit dem Sieg und dem insofern eingetretenen äußeren Frieden ist es nicht getan, der innerer Frieden muß sich einstellen. Tolstois Helden, Pierre Besuchow und Nikolai Rostow, suchen den inneren Frieden durch Rückzug aufs Gut, allerdings nicht einsam, sondern als reclus en famille, avec femme et enfants. Es gilt, die zerstörerische erotische Unrast in beständige ehelicher Liebe umzuformen, Unfrieden, so die Hoffnung, tritt nur noch sporadisch und beherrscht im Inneren des Friedens auf. In Anna Karenina spielt Tolstoi die gleiche Geschichte, allerdings ohne vorausgegangenes Kriegsgeschehen, in der Gestalt Lewins noch einmal durch. Aber auch der großzügigste Landsitz kann nicht Pascals Problem beheben: de ne savoir pas demeurer en repos dans une chambre, ce que fait tout le malheur des hommes. Im wahren Leben gewann bei Tolstoi der Gedanke zunehmend die Oberhand, die üppige Ausstattung seiner Kammer in Gestalt des Gutes Jasnaja Poljana sei gerade nicht Garant des Gelingens, sondern Ursache des Mißlingens. Er verläßt das Gut zugunsten eines Lebens als Wandereremit, gelangt aber nur bis zur nächsten Bahnstation, wo er, wie inzwischen dank der Verfilmung jeder weiß, wegfahrlos noch eine Weile verharrt und dann stirbt.

Auf sein Gut zurückziehen kann sich nur, wer ein Gut besitzt. Zu unserer aller Glück erfüllt Le Strange die Bedingung, denn ihm gelingt der vielleicht vollendetste Rückzug überhaupt. Mehr oder weniger im gleichen Alter wie Besuchow oder Lewin, umgeht er doch, als habe er ihr von Tolstoi selbst ins wahre Leben verlängertes Beispiel vor Augen, deren Fehler und macht keine Anstalten, das Gut zu verwalten oder ein Familienleben aufzunehmen. Er entläßt nach und nach all sein Hauspersonal ebenso wie seine Landarbeiter, Gärtner und Verwalter, das ganze Gut, die Gartenanlagen und der Park verwildern zusehends und verfallen, und die brachliegenden Felder wachsen von den Rändern her zu mit Strauchwerk zu. Er engagiert die damals noch sehr junge Florence Barnes als Haushälterin unter der ausdrücklichen Bedingung, daß sie die von ihr zubereiteten Mahlzeiten mit ihm gemeinsam, aber unter Wahrung absoluten Stillschweigens einnehme. Die verbreitete Gemeinschaft von Tisch und Bett ist auf den Tisch reduziert, und der wird seinerseits um das Tischgespräch gebracht und damit sozusagen halbiert. Wir wissen naturgemäß nicht, mit welcher Strenge die ursprüngliche Vereinbarung über die Frist von dreißig Jahren und mehr eingehalten wurde, und was sonst noch alles geschehen sein mag. Über die Gartenhecke hinweg sieht man Le Strange jedenfalls nur in animalischer Begleitung, umgeben von allem möglichen Federvieh, von Perlhühnern, Fasanen Tauben und Wachteln und den verschiedenen Garten- und Singvögeln, die teils am Boden um ihn herumliefen, teils in der Luft ihn umflogen. Wenn man ihn selbst gelegentlich sieht in einem kanarienfarbenen Gehrock sieht oder einer Art Trauermantel aus verschossenem veilchenfarbenen Taft mit vielen Knöpfen und Ösen, hat seine Erscheinung durchaus etwas Blumen- oder Blütenhaftes, eine riesenwüchsige Wanderorchidee, könnte man meinen. Einmal im Sommer habe Le Strange, so heißt es, in seinem Garten eine Höhle ausgehoben, in der er tage- und nächtelang gesessen sei gleich dem heiligen Hieronymus in der Wüste, vielleicht aber nicht nur dem Beispiel des Heiligen folgend, sondern um sich einzupflanzen und Wurzeln zu schlagen und die letzten Reste von Lokomotion abzustellen. Das vegetabile Leben ist bei Tolstoi ein häufiges Motiv, oft mit dem Charakter einer simplen und gut vernehmbaren didaktisch-moralischen Begleitmusik, so der Baum, der den gelungensten der Drei Tode stirbt, oder die von keinem Schicksalsschlag zu bezwingende Distel in Hadschi Murat, zerstörbar aber nicht besiegbar. Bei Sebald ist es eine verborgene Melodie, von der man, wenn sie verklungen ist, nicht recht weiß, ob man sie tatsächlich gehört hat.
Man stellt sich Le Strange eher nicht als fröhlichen Menschen vor, aber nachdem selbst Sisyphos als glücklicher Mensch gilt, ist Zurückhaltung bei der Beurteilung von Gemütszuständen mythischer Gestalten zu empfehlen. Nachdenklich muß auch stimmen, daß Le Strange keine Anstalten macht, den Zustand der Wegfahrlosigkeit und des Rückzuges aufs Gut zu beenden, es muß ihm alles gepaßt haben. Verborgen in der kleinen Transzendenz seines Hauses und seines Gartens ist er nahezu so unbekannt und so endlos ausdeutbar wie Gott in seiner großen. Schlägt man im modernen Medium unserer Tage nach zur Frage, ob Gott lachen kann und gegebenenfalls von diesem Vermögen Gebrauch macht, so ist die Angelegenheit längst entschieden: er ist ein immer fröhlicher und lachlustiger Gott, ein gutgelaunter Demokrat wie du und ich. In Zeiten, als Theologen noch etwas zu sagen hatten und ernsthaft nachdachten, bevor sie sich äußerten, waren sie vorsichtiger in ihrem Urteil. Gott dachten sie als eher jenseits von Frohsinns und Ernstes, beider nicht bedürftig. So ähnlich denken wir uns auch Le Strange, mit dem leichten, oft unmerklichen Lächeln seines Schöpfers in den Augenwinkeln.

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