Sonntag, 22. Juni 2014

Kunst und Kultur

Armes Herz

Kein Gegensatz sei schärfer, so Benn, kein Graben tiefer, als der zwischen Kunst und Kultur. Der Begriff der Kultur ist deutlich verschwommener als der der Kunst, gemeint ist offenbar weniger die Lebensweise indigener Völker als der sogenannte Kulturbetrieb in entfalteten Zivilisationen. Vergleicht man Benn und Sebald, so fallen gemeinsame Merkmale der Herkunft ins Auge. In beider Elternhäusern hingen keine Gainsboroughs, im Fall Sebalds verfügen wir über eine detaillierte Beschreibung des elterlichen Wohnzimmers, die das Fehlen von Gainsboroughs zwar nicht ausdrücklich hervorhebt, Gainsborough praktisch aber ausschließt. In beiden Häusern wurde nicht Chopin gespielt, bei den Sebalds war es stattdessen altbayerische Volksmusik aus dem Radio. Das Gedankenleben war im Hause Benn amusisch, im Hause Sebald obendrein eher unauffällig. Theaterbesuche waren hier und dort selten, für Benn ist Wildenbruchs Haubenlerche zu nennen, für Sebald die Aufführung von Schillers Räubern im heimischen Engelwirtssaal. Im weiteren Werdegang hat Benn den kulturbetiebsfernen Beruf des Arztes ergriffen, der Beruf des Hochschullehrers, Fall Sebald, ist kulturaffiner aber, sofern man sich an der ursprünglichen deutschen Universitätsidee orientiert oder etwa an Kant denkt, ebenfalls nicht dem Kulturbetrieb zuzurechnen. Beide, Benn und Sebald, sind dann, aus amusischen Verhältnissen stammend, zu bedeutenden Meistern in der künstlerischen Behandlung der deutschen Sprache geworden.
Betrachten wir die Protagonisten der vier langen Erzählungen sowie der sehr langen Erzählung Austerlitz, so sehen wir einen Arzt, einen Lehrer, einen Butler, einen Maler und einen Architekturhistoriker. Unter den zahlreichen Komaparsen ist Salvatore Altamura als Redaktionsmitarbeiter in Verona möglicherweise dem Kulturbetrieb zuzurechnen, er, der sich am Abend in die Prosa wie auf eine Insel flüchtet, hinterläßt aber keinen betriebsamen Eindruck. Konzentrieren wir uns auf Aurach, den Künstler. Er scheint Benns eingangs genanntes Diktum voll und ganz zu bestätigen. Er arbeitet Tag für Tag zehn Stunden in seinem Atelier, den siebten Tag nicht ausgenommen. Nichts weist drauf hin, daß er sich um Anerkennung und Ausstellungen bemüht. Die Entdeckung durch den Kunstmarkt, auf dem seine Bilder später zu den höchsten Preisen gehandelt werden, geschieht gleichsam hinter seinem Rücken und wider seinen Willen und hat auf seine Lebensweise keinen Einfluß. Die Trennung zwischen Kunstschaffen und Kunstbetrieb, als einer Sparte des Kulturbetriebs, ist perfekt.
Selysses verfertigt keine Bilder, betrachtet sie aber gern, vorzugsweise in Kirchen und nicht in den kulturbetrieblichen Museen. In jedem Fall aber gelingt es ihm, kulturbeflissenen Touristen aus dem Weg zu gehen. Die Kapelle Enrico Scrovegni in Padua ist bei seinem Besuch so menschenleer wie die Kapelle der Pellegrini in Verona. In der Nationalgalerie in London wartet er geduldig ab, bis die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchstreifenden Besucher abgewandert sind. Keinerlei Kulturgehabe soll zwischen ihm und dem Kunstwerk stehen. Daß er sich bereiterklärt hatte, einen Part im Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele zu übernehmen, reut ihn noch heute. Nebst einem Honorar erhält er für seine Bemühungen eine Karte für die abendliche Nabuccoaufführung. In Rahmen der Inszenierung war man auf die Idee verfallen, aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen, und da stand er nun mit seiner Billet in der Hand und will den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen. Der Lyriker hat es leichter sich von Kultur zu distanzieren als der Dramaturg. Von Haus aus Spektakel wird das Schauspiel im Rahmen eines Festivals vom Kulturbetrieb unter tätiger Mithilfe des sogenannten Regietheaters gleichsam niedergerungen und als Kunstwerk ausgeschaltet. Nur ein allesfresserisches oder aber ein von Distinktionsbedürfnissen à la Bourdieu geplagtes Publikum, so ungefähr muß man es verstehen, läßt Dinge über sich ergehen, die bei hellem Verstand ein jeder vermeiden würde.

Anders als Aurach hat Sebald sich für vier Jahrzehnte aus dem Inneren der Kunst herausgehalten. Einmal begonnen, wird sein Arbeitspensum kaum geringer gewesen sein, die Familie jedenfalls habe von ihm bis zum Abend nur den unter der Tür hervorquellenden Zigarettenqualm gesehen. Dem Kulturbetrieb in Form von Interviews, Lesungen und Auftritten konnte er sich nicht entziehen. Photoaufnahmen aus dieser Zeit erwecken den Eindruck, die Aufmerksamkeit habe ihm gut getan, einige aber meinen, es seien diese Belastungen gewesen, denen sein armes Herz nicht standgehalten hat.

Donnerstag, 19. Juni 2014

Zahlungsmoral

Athrophie

Die Wirtschaft habe den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt, so hört man, und Beifall, nicht zuletzt aus der Politik, ist sicher. Wie sollte es auch anders sein, ist das Wesen der Wirtschaft doch die materielle Daseinsfürsorge, sie ist das Mittel und wir sind der Zweck. Andererseits ist bei Überlegungen dieser Art Vorsicht geboten seitdem eingeräumt werden mußte, daß die Erde sich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Die professionellen Ökonomen schweigen denn auch und die Philosophen zeigen sich gegenüber der Mittel-Zweck-Vorstellung grundsätzlich reserviert. Man müsse allmählich darauf verzichten, die Menschheit als noch einmal größeren Pantagruel und feistes Hätschelkind des Universums zu verstehen. Aus der Sicht der Soziologie beruht die geschmeidige Anatomie der Wirtschaft auf einem ununterbrochenen Strom von Zahlungen, reißen die Zahlungen ab, sind Wirtschaft und Gesellschaft im uns vertrauten Sinn am Ende. Aus diesem Grund wechselt die Politik in Zeiten ökonomischer Krisen die Seite und hilft dann doch wieder den Banken und nicht, wie es heißt, den Menschen.
Die Kunst muß die Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen nicht teilen, in Sebalds Prosawerk sind die Zahlungsströme gering. Ich legte 10 000 Lire auf den Teller, raffte die Zeitung zusammen und stürzte auf die Straße hinaus: Das ist eine der wenigen Szenen, in denen wir Selysses bei einer Barzahlung beobachten können. Der Versuch, im Bus nach Riva gegen Vorkasse ein Bild der Kafkazwillinge zu bestellen scheitert. Gegen Aushändigung eines Zehnmarkscheins gelingt es ihm in einer ähnlichen Lage, die Erlanger Hochzeitsreisenden zu einem Photo von der inzwischen geschlossenen Pizzeria Verona zu veranlassen, ob sie es ihm jemals zugeschickt haben, erfahren wir nicht. Finanzielle Transaktionen werden nur in außergewöhnliche Situationen, sozusagen in Notfällen offengelegt, ansonsten bleibt das Geld ein unsichtbares Fluidum. Wir können nur annehmen, daß Selysses in den Hotels nicht die Zeche prellt oder öffentliche Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrausweis benutzt. Ernstliche Sorge ist aber unbegründet, Geld scheint immer in hinreichendem Maße verfügbar, mit dem Prekariat oder gar Subprekariat kommen wir kaum in Berührung, zu erwähnen wären immerhin die Sandler im Innsbrucker Bahnhof, aber auch die können sich ihr Bier leisten, dies und philosophische Gespräche, mehr streben sie nicht an. In Wahrheit ist Armut ein Sehnsuchtsziel. Seine Nachbarn seien von der aberwitzigen Brüsseler Landwirtschaftspolitik immer fetter geworden, bemerkt Alec Garrad, der Tempelbauer, mißbilligend, und auch Sebald selbst ist seine Heimat dadurch verleidet, daß die Bauern dort jetzt, wie er sagt, ein Schweinegeld verdienen. Treffen wir auf große Vermögen, so sind sie, wie im Fall des Cosmo Solomon, Gegenstand einer Vernichtungsabsicht, oder das Vermögen ist, wie im Fall des Majors Le Strange, stillgelegt und ungenutzt, für Investitionen steht es nicht zur Verfügung.
Geringer Konsum, brachliegende Vermögen, die in Sebalds Prosawerk erkennbar geleisteten Zahlungen können die Konjunktur nicht befeuern, den Dichter wird das nicht anfechten. Auch um die anderen sozialen Systeme steht es nicht gut. Von der Politik ist nach dem Nationalsozialismus nichts mehr zu erwarten, im heutigen Brüssel geben Bucklige und Irre den Ton an, von London und Berlin wird geschwiegen. Die Religion, auf der katholischen Seite vertreten durch den Katecheten Meier sowie den Benefiziaten Meyer, auf der protestantischen durch den Prediger Elias hinterläßt keinen guten Eindruck, auch wenn dem Prediger Größe nicht abzusprechen ist. Das Gesundheitswesen ist selbst siech, die Therapie oft eine Folterprozedur oder ein Martyrium. Im Erziehungswesen trifft man vereinzelt begeisterte und begnadete Lehrer wie Bereyter oder Hilary, sonst gibt es nicht viel zu lernen an den Schulen und Hochschulen. Auch die Wissenschaft ist ein von Grund auf problematischer Bereich, die ringsum mit Unmengen von Steinen zugeschütteten Betongehäuse, in denen Hundertschaften von Technikern an der Entwicklung neuer Waffensysteme gearbeitet hatten, nehmen sich aus der Entfernung wie Hügelgräber aus. Auf eine Karriere im Rechtswesen kann man als emeritierter Richter nur mit einem gewissen Entsetzen zurückblicken.
Sebald malt das melancholisches Bild einer schon fast gesellschaftsfreien Gesellschaft mit absterbenden Funktionen, naturgemäß kein genaues Abbild der Realität. Daß der Mensch ein geselliges Wesen sei, mag mit den Worten Benns eine Balkanidee sein, der Gesellschaft im harten Sinn kann er nicht entkommen. Eine gesellschaftfreie Gesellschaft, also etwa eine Gesellschaft ohne Zahlungen und ohne die Logik des Geldes, ist nur in der nahen Todesstunde der Menschheit denkbar. Diesen dunklen Augenblick der Freiheit, diese eigenartige Form der Emanzipation gilt es zu nutzen. Sebalds Menschen und wir, die Leser, sind nicht weniger glücklich als Sisyphos, wenn auch auf andere Weise. Immer wieder wird uns eine Vorausschau auf den schon menschenleeren Planeten gegönnt.

Samstag, 14. Juni 2014

Gwalchmai

Legato

King Arthur did not understand this coarse anglish language,
just so many grunts and groans, but only melodious Welsh
and the tongue of God, which was Latin.



Peredur fab Efrawg, Titelheld einer der drei Romanzen des Mabinogion, Parzival in anderen Fassungen der Artussage, hat es am Hof des Königs zu tun einerseits mit Cei, der ihm, ohne daß er seinerseits etwas Böses getan hätte, übelwill, und andererseits mit dem ihm wohlgesonnenen Gwalchmai. Gegen Ende der Erzählung zieht Gwalchmai auf seine eigene Âventiure, anturiaeth. Wie immer bei diesen Unternehmungen reitet er schon bald ein in die bevorzugte ritterliche Landschaftsformation, ein Flußtal, dyffryn afon, das ihn zu einem Schloß führt, auf dem es, wie später selbst noch bei Kafka, nicht mit rechten Dingen zugeht. In der Morgenfrühe bricht er wieder auf, und dann heißt es unvermittelt und zur nicht geringen Überraschung des Lesers: ac ni ddywed yr hanes fwy na hynny am Walchmai i'r cyfeiriad hwnnw - und das ist soweit das letzte, was diese Geschichte von Gwalchmai berichtet. Der Autor hält Wort, keine Silbe vorerst mehr über Gwalchmai, geschweige denn, daß wir vom Fort- und Ausgang seiner Queste, hynt, erfahren würden. Ein gerade erst begonnener und dann so abrupt abgebrochener Erzählbogen, das hinterläßt einen einigermaßen modernistischen Effekt. Ganz zum Schluß trifft Peredur Gwalchmai auf einem anderen Schloß wieder, wie der dort hingelangt ist und was er in der Zwischenzeit getrieben hat, erfahren wir nicht.

Der traditionelle Roman, nehmen wir Krieg und Frieden, legt Wert auf eine lückenlose, in ihrem Ablauf klare Geschichte. Jederzeit kann sich der Blick weg vom Fürsten Andrej hin zu Pierre Besuchow wenden und von dort zu den Rostows, der jeweils Verlassene und die Leser können aber vertrauensvoll abwarten, daß der Dichter zurückfindet zum ursprünglichen Ort und den dort ruhenden Faden wieder aufnimmt. Sebalds Bücher sind nicht nach diesem traditionellen Muster gebaut, bei ihm ersetzt das extreme Legato der Sätze das Legato der Handlung und verdeckt die Brüche in ihrem Verlaufs. In Austerlitz ergibt sich geradezu ein musikalisches Spiel zwischen dem ruhigen Fluß der Sätze und den unerwarteten, abrupten Begegnungen des Erzählers mit dem Titelhelden, gleichzeitig erstellt sich aus Austerlitz' Berichten ein gerundetes Bild seines Lebens. Das Buch mit mittelalterlicher Einschlag aber sind die Schwindel.Gefühle, werden wir doch Zeuge zweier Anturiaethau, der des Jägers Gracchus, dessen Barke von weit her aus der Tiefe der Zeit einfährt in den Hafen von Riva, und der des heiligen Georg, der schon nach kurzer Zeit als Heiliger wieder aussteigt aus dem geistlichen Tableau Grünewalds und, beginnend mit den Bildern Pisanellos, sein ritterliches Leben in wechselnder Gestalt wieder aufnimmt.
Die Ritter sind ihrer Natur nach ein einsame Reisende, zu Hauf auf des Königs Schloß Caer Llion ar Wysg fällt ihnen außer fortwährendem Tafeln gan bob math o fwydydd a diodydd nicht allzuviel ein, die Jagd, das Gwyddbwyllspiel, ab und zu ein Barde mit seiner Harfe, davon zehren sie, das ist alles. Das Wesen des Ritters erfüllt sich erst auf der einsamen Queste, und so ist er für jedweden Anlaß zum Aufbruch dankbar, bevorzugterweise naturgemäß, um einer Demoiselle en détresse beizuspringen. In den Schwindel.Gefühlen begeben sich drei Ritter oder Reisende neuzeitlicher Art auf eine Queste nach Oberitalien. Was sie suchen, ist unklar, aber das war mit dem Gral nicht anders, a quest from which a knight could not return but unsatisfied, owing to its peculiar nature. Stendhal folgt Napoleon, den man wohl nicht als den Artus, dessen Regentschaft als short reign of decency beschrieben wird, aber doch als den Uthr Bendragon seiner Zeit ansehen kann. Schon bald aber nimmt Stendhal Abschied vom bewaffneten Reiterwesen und begibt sich auf die zivile Suche nach der Frau, die er am meisten liebt, y wraig a garwn fwyaf, in seinem Fall ein langwieriges Unternehmen mit vielen letzten Endes vergeblichen Zugriffen. Schließlich verharrt er bei Mme Gherardi, die er sich als seinen Wünschen gemäß erfunden und ausgedacht hat. Bei Kafka und Selysses ist der Kampfesmut von Beginn an weniger ausgeprägt, auch wenn Selysses in Mailand eine Joute, ymladd, bravourös übersteht: Indem er sich auf dem Absatz drehend die Tasche von der Schulter schwang und in die beiden schwarzen Ritter hineinfahren ließ, gelang es ihm freizukommen und sich mit dem Rücken gegen einen der Pfeiler des Türbogens zu stellen, eine Position, in der er dann unbesiegbar war. Auch was die Amouren anbelangt, sind Kafka und Selysses weitaus weniger zupackend als die Ritter der Tafelrunde oder auch noch Stendhal. Kafka kapriziert sich darauf, der jungen Dame aus der Schweiz das Wesen der körperlosen Liebe zu erläutern, und Selysses beschränkt sich, was Luciana Michelotti oder die Winterkönigin anbelangt, ganz und gar auf das innere Erleben, das kannten die Ritter der herkömmlichen Art so nicht, auch wenn Arthur sie, einigen Fassungen der Legende zufolge, sie in diese Richtung drängte.

Gwalchmais abgebrochene Âventiure ist längst nicht die einzige Unebenheit in der Erzählung des Mabinogion. Peredurs ritterliche Unternehmungen folgen einander in ruppig zusammengesetzter und nicht immer widerspruchsfreien Reihe. Bei der Erstlektüre der Schwindel.Gefühle kann sich ein ähnliches Lesegefühl einstellen. Stendhals Italienabenteuer bricht zwar nicht unversehens ab, sondern wird ordnungsgemäß bis zum Ende in Form des Todes geführt, wenn im Anschluß daran dann aber Selysses all'estero auftritt, weiß man nicht, wie das zusammenhängen soll. Es werden wohl vier getrennte Erzählungen sein, so das erste Resümee, das sich aber nicht halten läßt, da All'estero und Ritorno in patria zueinander im direkten Verhältnis der Fortsetzung stehen. Als der dazwischen liegende Kafkaabschnitt beginnt, ist der Leser durch die diversen Gracchusverweise schon hinreichend eingestellt, ihn als integralen Teil der Gesamterzählung zu sehen, und je mehr er vertraut wird mit dem Buch, desto mehr weicht der Eindruck unverbundener Teile dem gegenteiligen Gefühl, eingesponnen und verstrickt zu werden, und schließlich bewegt er sich in einem Zauberwald, aus dem es kaum ein Entkommen gibt.

Als Georg, wie von Pisanello im Bilde festgehalten, aufbricht, im Dienste der Prinzessin von Trapezunt den Drachen zu erlegen, ist das spezifisch christliche, die Heiligsprechung rechtfertigende Element schwer zu entdecken, dagegen finden sich alle Merkmale eines Ritters der Tafelrunde vor der Zeit, der einer Damsel in distress beispringt. Nicht von ungefähr bestätigt der Dichter ihm etwas herzbewegend Weltliches. Unter welchem Namen Siôr Sant zweihundert Jahre später an dem riesigen, gut hundertundfünfzig Rittern Platz bietenden runden Tisch Platz genommen hat, ist nicht bekannt. Pisanellos Bild, das ihn bedeckt mit einem Strohhut zeigt, hält einen der kostbaren moments of decency in history fest, mythologische Lichtblicke im realen Dunkel, Momente des Ausgleichs der himmlischen und der üblicherweise zerstrittenen irdischen Kräfte, ganz offenbar ein Bild aus Arthurs Zeit. Mittelalterliche Helden, Georg und Gracchus, eine auf den ersten Blick sprunghafte und undurchsichtige Erzählabfolge, magische Elemente, Koinzidenzen und Zahlenalchimie, Zauberei: Vergleicht man Sebalds Erzählliteratur zum einen mit der klassischen Romanliteratur (Krieg und Frieden) und zum anderen mit der mittelalterlichen Erzählweise (Peredur fab Efrawg), so ist, angesichts der großen Distanz zur einen sowohl wie zur anderen Seite hin, gar nicht einmal leicht zu entscheiden, was ferner und was näher liegt. Eine verläßliche literaturwissenschaftliche Metrologie für Fragen dieser Art konnte bislang nicht entwickelt werden.  

Donnerstag, 5. Juni 2014

Baldachin

Der Dichter stellt seine Geburt in den Mittelpunkt des kosmischen Geschehens: Als ich zum Himmelsfahrtstag auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in das blühende Maifeld hinaus. Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Wir sehen den Baldachin, das ramponierte Himmelszelt, verlassen auf dem Feld.
Das gesamte Werk läßt sich als Auflösung dieser Urszene lesen. Der Phantomschmerz über den Verlust des Himmels, richtiger noch: der Schmerz abgesichts des gestörten Verhältnisses zwischen Himmel und Erde ist allenthalben spürbar. Giottos Engel fahren fort in ihrer stummen Klage, allem Anschein nach aber sind sie getrennt vom beweinten Christi, der, so hieß es, bald auferstehen wird, sie weinen jetzt über die vom Heiland Verlassenen. Bei allem Schrecken der Pest war es tröstlich, wenn Tiepolo einen himmlischen Truppenteil im Einsatz gegen sie malen konnte - nun, die Pest scheint jetzt mit anderen Mitteln besiegt. Gleichwohl dürfen die Bemühungen der fachkundigen heilenden Hände nicht überschätzt werden, man denke an die Heilbehandlung Adelwarths in Ithaca oder an Austerlitz in der Salpêtrière, einem ein eigenes Universum bildenden Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, wo er in einem der oft mit vierzig Patienten und mehr belegten Männersälen lag. Tiepolo, der Meister der Decken- und Himmelsbilder, der schon sehr an der Gicht litt, liegt mit kalk- und fragverspritzten Gesicht in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter nur unter der Decke und trägt trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur ein in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. Dem heiligen Georg reicht schon die Handbreit, die er über der Welt steht, um frühzeitig auszutreten aus dem Verband der Nothelfer, seither bewegt er sich in wechselnder Gestalt durch die Zeiten. Gerald Fitzpatrick wird die nackte Astrophysik zum metaphysischen Erlebnis, und mit seiner Cessna steigt er immer wieder auf in den entleerten Himmel, bis er dann von seinem letzten Flug nicht zurückkommt. - Dies nur einige Einblicke in das schwierige Verhältnis von Himmel und Erde.
Es ist längst nicht alles schlecht am Himmel und auf der Erde, aber das Sehnen aller Kreatur nach Erlösung ist ohne Hoffnung, seit Saturn den Baldachin zu Fall brachte. Der säkulare Humanismus ist für jemanden, der nach Art der Fundamentalökologen eine Sonderstellung des Menschen in der Welt nicht sieht, kein geeigneter Nachfolger für die vom Unwetter zerschlagene Gotteswelt. Schon dem Herrn selbst war ein böser Kunstfehler unterlaufen, als er zur Rettung des einen tobsüchtigen Gadareners mehrere tausend Säue über die Klippe schickte. Die großen Geschichtsdeutungen mit gutem Ausgang für die Menschen mit oder ohne Gottes Hilfe in der Art von Hegel und Marx sind ihrerseits ausgelaufen. Nehmen wir etwa den 13. April 1995, und schauen uns um. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit; ja, und zuletzt, wie wir am Morgen früh noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater, kurz nach seiner Einlieferung in das Coburger Spital, aus dem Leben geholt wurde. Soviel ungefähr läßt sich verstehen vom Geschichtsverlauf. Als letzte und naturgemäß wie immer endgültige Errungenschaft teleologischen Geschichts- verständnisses gilt Demokratie. Ohne daß er etwas Böses, also etwas entschieden Undemokratisches getan hätte, zählt der Dichter nicht zu den Jüngern der Demokratie als Heilslehre. Generell fehlt ihm eine sogenannte Vision für die politische Gestaltung der Zukunft. Von Brüssel, der Welthauptstadt der Demokratie, wohin die mühseligen und beladenen Völker drängen, bis her vom Rande der Welt, Ukraju, auf daß sie erquickt werden und geheilt von ihren Wunden, behauptet er bündig und unter Mißachtung schonender demokratischer Sprachregelungen, er habe dort in einem Monat mehr Bucklige und Irre gesehen als irgendwo sonst in einem Jahr.

Die Welt sei sinnlos und jeder wisse es, hat Sebald bemerkt. Die längste Zeit hat das fast niemand gewußt oder wahrhaben wollen. Sinn ist das Medium menschlichen Erlebens, und so konnte man schlecht darauf gefaßt sein, daß Sinn in der Welt draußen keinen Widerhall hat. Wenn planvoller Geschichtsverlauf undurchsichtiger gesellschaftlicher Evolution Platz machen muß, bleibt nur noch die Hoffnung, den Zufall bei seiner Arbeit beobachten zu können. Vorsichtiger Umgang mit der Zahl Dreizehn könnte sich lohnen, ebenso, die Bahn des Saturn im Auge zu behalten. Naturgemäß ist das sinnlos, aber, so wie die Dinge liegen, nicht auffällig sinnlos. Aberglaube ist nicht schlechter als Glaube, wenn auch nicht so schön auszumalen.

Montag, 2. Juni 2014

Agoraphobie

Öffentliche Plätze

forumque vitat

Städtische Plätze sind im Gespräch, der Tahrir, der Taksim, der Maidan. Bei einigen Kommentatoren* rufen diese Namen das Bild einer als erfüllbar erscheinenden Sehnsucht hervor, der Sehnsucht nach, wie sie es sehen, gelebter, greifbarer Demokratie. Zunächst, so die gedachte Abfolge, wird über Barrikaden hinweg grob für Ordnung und das Einschlagen des rechten Wegs gesorgt, dann aber treffen sich die Menschen auf dem Platz und, zumal bei schlechtem Wetter, in den angrenzenden Gebäuden und handeln miteinander das künftige und in jedem Fall friedliche Zusammenleben aus. Als sich die Dinge weit entfernt auf dem Platz des himmlischen Friedens abspielten, blieben diese Erwartungen noch aus, aber jetzt, rund ums Mittelmeer, in der demokratischen Aura Europas, kann es eigentlich nur so oder so ähnlich ablaufen. Tatsächlich aber ist es bislang nirgendwo so abgelaufen. Am Taksim hat die Neuordnung nicht stattgefunden, am Tahrir schon eher, aber vom anschließenden friedlichen Aushandeln des Zusammenlebens kann nicht die Rede sein, und am Maidan steckt die Zukunft noch in der Gegenwart fest mit eher ungünstiger Prognose.

Die Agora der Polis, die als Wunschbild und Utopie im Hintergrund steht, war Markt- und Versammlungsplatz der Bürger, niemand wird behaupten, daß sich das relevante Marktgeschehen in modernen Gesellschaften noch auf offenen Plätzen abspielt, der Amazonmarktplatz mit seinen riesigen, nicht einsehbaren und für das Publikum gesperrten Lagerhäusern kommt der Wahrheit schon näher. Gleichwohl ist der Besuch eines offenen Marktes auch heute noch für viele eine besondere Lust. Je mehr in der modernen Gesellschaft die Bedeutung von Kommunikation unter Anwesenden schwindet, desto stärker wird das als Verlust empfunden. Für ein erstes grobes, gewaltsames Zurechtrücken der politischen Verhältnisse aber scheint leibliche Präsenz, vorzugsweise auf Plätzen, in der Tat unabdingbar. An jedem Wochenende, auf dem Weg zur Besetzung der Stadien und wieder zurück, wird ohne erkennbaren Anlaß oder Ziel gewaltsam geübt, vermutlich, um gerüstet zu sein für den Ernstfall, der nicht ausbleiben wird. Der Konflikt benötigt die Plätze, der Konsens nicht. Hinter allen idealen Demokratievorstellungen steht die Annahme, die Welt liege den Menschen entscheidungsfähig zu Füßen und alle müßten sich nur auf die eine oder andere Weise einig werden, wie entschieden werden soll. Wenn der Realitätsgehalt dieser Vorstellung schon gering ist, so bringt ihn die Rückprojektion auf idealisierte Polisverhältnisse vollends zum Schwinden: und bleibt doch ein Licht in der Finsternis. Für die Dichter ist der Realitätsgehalt eines Sehnsuchtsbildes professionsbedingt ohnehin von geringer Bedeutung.
Sebald zeigt uns Gottfried Keller unterwegs zum öffentlichen Platz mit dem Ziel, die Dinge zurechtzurücken. Der kleine Mann, der in der Mitte die Trommel rührt, das ist der Schweizer Dichter als seltsam ziviler Tambour mit Zylinderhut. Überhaupt hat die Szene etwas auffallend Zivilistisches und Zugeknöpftes. Man kann sich schwerlich denken, daß der Dichter und seine Begleiter jetzt gleich auf die Barrikaden gehen. Da sind die Erwartungen gedämpft, das Komödiantische des Auftritts nimmt gewissermaßen das Scheitern der Revolution oder Neuordnung schon vorweg. Ein gutes halbes Jahrhundert später ist die Mathild Seelos unmittelbar vor dem ersten Krieg in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Was ihr im einzelnen auf den Plätzen in München widerfahren ist, wissen wir nicht. Jedenfalls hat sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt. Wiederum knapp zwanzig Jahre später erhalten wir einen weitaus genaueren Einblick in das Geschehen auf den Straßen und Plätze. Aus der Münchner Zeit nach 1933 ist kaum etwas anderes erinnerlich als die Prozessionen, Umzüge und Paraden, zu denen es offenbar immer einen Anlaß gegeben hat. Entweder es war Maifeiertag oder Fronleichnam, Fasching oder der zehnte Jahrestag des Putschs, Reichsbauerntag oder die Einweihung des Hauses der Kunst. Entweder trug man das Allerheiligste Herz Jesu durch die Straßen der inneren Stadt oder die sogenannte Blutfahne. Von Mal zu Mal hat bei den einander ablösenden Versammlungen und Aufmärschen die Anzahl der verschiedenen Uniformen und Abzeichen zugenommen. Es war, als entfalte sich unmittelbar vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der anderen.

Der Dichter nimmt, was die öffentlichen Plätze anbelangt, die seiner Profession erteilte Lizenz zum freien Umgang mit Realitätsgehalten kaum in Anspruch. Bei unverkennbarer Sympathie für Gottfried Keller und Mathild Seelos hat er doch klar die wahren Herren der Plätze vor Augen. Ein Platz ist kein freies Gelände, erst durch die Umbauung wird er zum Platz. Wenn der Brüsseler Justizpalast mit seinen türlosen Räume und Hallen, die nie jemand zu betreten scheint, als die ummauerte Leere das innerste Geheimnis aller sanktionierten Gewalt ist, so ist die Herrschaft auf den Plätzen Demonstration ihrer Reichweite einschließlich der willkürlichen Bestimmung dessen, was als Realität zu gelten hat: Auf dem Photo war die Bücherverbrennung auf dem Würzburger Residenzplatz zu sehen, offenbar aber handelte es sich um eine Fälschung, Weil man aufgrund der bereits einsetzenden Dunkelheit keine brauchbaren Photographien hatte machen können, war man kurzerhand hergegangen und hatte dem Bild irgendeiner anderen Ansammlung vor der Residenz eine mächtige Rauchfahne und einen tiefschwarzen Nachthimmel hineinkopiert. Und so, wie dieses Dokument eine Fälschung war, so war alles eine Fälschung von Anfang an; eine Fälschung, und doch grauenhaft realer als alles, was man sich als real ausdenken mochte.
Ein weiteres Bild einer Menschenansammlung auf einem Platz ist gefälscht. Die Mehrzahl der Einwohner von Desenzano hatte sich zum Empfang des Vicesekretärs der Prager Arbeiterversicherungsanstalt auf dem Marktplatz versammelt. Ob es sich bei dem abgebildeten Marktplatz um den in Desenzano handelt, ist unsicher, sicher ist, die Angetretenen warten nicht auf Kafka. Die Fälschung in Desenzano ist der in Würzburg gegenläufig. Dort bestimmten die Machthaber, was real ist, hier ist es ein Bild, das vor dem innerem Auge Kafkas, des Machtlosen par excellence, auftaucht, geboren aus seiner Furcht im Blickpunkt auf ihn gerichteter Augen zu stehen, und so ist das Bild falsch aber wahr. Selysses erleben wir nie unterwegs zu einer Versammlung oder zu einem Aufmarsch, angesichts seiner geringen Hoffnung auf eine gelungene Neuordnung und ein gutes Ende nicht weiter verwunderlich. Die englische Wallfahrt führt durch abgelegene Landstriche ohne städtischen Plätze. Auch wenn sie frei sind von Menschenansammlungen, scheint er die öffentlichen Plätze nicht sonderlich zu schätzen. Vor dem Wiener Rathaus sehen wir ihn in einer versteckten Ecke des Platzes, außerhalb des Blickfeldes der Passanten, mit den Dohlen und mit der weißköpfigen Amsel reden. In Venedig weist nichts darauf hin, daß er bis zum Platz San Marco vordringt. In Mailand schließlich steigt er bis auf die oberste Galerie des Doms hinauf und schaut von hoch oben auf die Piazza, wo die Menschen sich in seltsamer Neigung bewegten, als stürze ein jeder einzelne von ihnen seinem Ende entgegen. Wäre es so, müßte der Platz schon bald so menschenleer sein, daß er gefahrlos herabsteigen kann. Einerseits wird er auf der Galerie von immer wiederkehrenden Schwindelgefühlen geplagt, andererseits scheint die Agoraphobie, bei der es sich bei genauerem Hinsehen um eine Anthropo-Agoraphobie handelt, ausgeglichen durch eine gewisse Höhenlust, die uns auch aus seiner Neigung zu kleinen einmotorigen Propellerflugzeugen bekannt ist.
Als erstes hat die Entwicklung von Schrift die Bedeutung der Kommunikation unter Anwesenden vermindert, dann der Buchdruck, jetzt, vermutlich ein gewaltiger Stoß, sind es die elektronischen Medien. Vermehrt werden Menschen beobachtet, die sich auch als Anwesende über die Apparate unterhalten, als seien sie Abwesende. Sebald hat sich auf die neue Entwicklung nicht eingelassen, aber auch ohne das beschwört er immer wieder das Verschwinden der Menschen in ihren Apparaten. Nirgends war ein Mensch zu erblicken, wenn auch über die nassen Landstraßen genügend in dichte Sprühwolken gehüllte Fahrzeige brausten. Tatsächlich schien es, als habe unsere Art bereits einer neuen Platz gemacht oder als lebten wir doch zumindest in einer Form der Gefangenschaft. Auch in den Städten sind weitaus mehr Fahrzeuge als Menschen zu sehen, aus vielen städtischen Plätzen sind Parkplätze geworden. Sofern hier Kommunikation unter Anwesenden stattfindet, ist sie meistens konfliktgeladen, weil Blech auf Blech gestoßen war.

*Ausführlich FR Feuilleton 6. Mai 2014