Armes Herz
Kein Gegensatz sei schärfer, so Benn, kein Graben tiefer, als der zwischen Kunst und Kultur. Der Begriff der Kultur ist deutlich verschwommener als der der Kunst, gemeint ist offenbar weniger die Lebensweise indigener Völker als der sogenannte Kulturbetrieb in entfalteten Zivilisationen. Vergleicht man Benn und Sebald, so fallen gemeinsame Merkmale der Herkunft ins Auge. In beider Elternhäusern hingen keine Gainsboroughs, im Fall Sebalds verfügen wir über eine detaillierte Beschreibung des elterlichen Wohnzimmers, die das Fehlen von Gainsboroughs zwar nicht ausdrücklich hervorhebt, Gainsborough praktisch aber ausschließt. In beiden Häusern wurde nicht Chopin gespielt, bei den Sebalds war es stattdessen altbayerische Volksmusik aus dem Radio. Das Gedankenleben war im Hause Benn amusisch, im Hause Sebald obendrein eher unauffällig. Theaterbesuche waren hier und dort selten, für Benn ist Wildenbruchs Haubenlerche zu nennen, für Sebald die Aufführung von Schillers Räubern im heimischen Engelwirtssaal. Im weiteren Werdegang hat Benn den kulturbetiebsfernen Beruf des Arztes ergriffen, der Beruf des Hochschullehrers, Fall Sebald, ist kulturaffiner aber, sofern man sich an der ursprünglichen deutschen Universitätsidee orientiert oder etwa an Kant denkt, ebenfalls nicht dem Kulturbetrieb zuzurechnen. Beide, Benn und Sebald, sind dann, aus amusischen Verhältnissen stammend, zu bedeutenden Meistern in der künstlerischen Behandlung der deutschen Sprache geworden.
Betrachten wir die Protagonisten der vier langen Erzählungen sowie der sehr langen Erzählung Austerlitz, so sehen wir einen Arzt, einen Lehrer, einen Butler, einen Maler und einen Architekturhistoriker. Unter den zahlreichen Komaparsen ist Salvatore Altamura als Redaktionsmitarbeiter in Verona möglicherweise dem Kulturbetrieb zuzurechnen, er, der sich am Abend in die Prosa wie auf eine Insel flüchtet, hinterläßt aber keinen betriebsamen Eindruck. Konzentrieren wir uns auf Aurach, den Künstler. Er scheint Benns eingangs genanntes Diktum voll und ganz zu bestätigen. Er arbeitet Tag für Tag zehn Stunden in seinem Atelier, den siebten Tag nicht ausgenommen. Nichts weist drauf hin, daß er sich um Anerkennung und Ausstellungen bemüht. Die Entdeckung durch den Kunstmarkt, auf dem seine Bilder später zu den höchsten Preisen gehandelt werden, geschieht gleichsam hinter seinem Rücken und wider seinen Willen und hat auf seine Lebensweise keinen Einfluß. Die Trennung zwischen Kunstschaffen und Kunstbetrieb, als einer Sparte des Kulturbetriebs, ist perfekt.
Selysses verfertigt keine Bilder, betrachtet sie aber gern, vorzugsweise in Kirchen und nicht in den kulturbetrieblichen Museen. In jedem Fall aber gelingt es ihm, kulturbeflissenen Touristen aus dem Weg zu gehen. Die Kapelle Enrico Scrovegni in Padua ist bei seinem Besuch so menschenleer wie die Kapelle der Pellegrini in Verona. In der Nationalgalerie in London wartet er geduldig ab, bis die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchstreifenden Besucher abgewandert sind. Keinerlei Kulturgehabe soll zwischen ihm und dem Kunstwerk stehen. Daß er sich bereiterklärt hatte, einen Part im Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele zu übernehmen, reut ihn noch heute. Nebst einem Honorar erhält er für seine Bemühungen eine Karte für die abendliche Nabuccoaufführung. In Rahmen der Inszenierung war man auf die Idee verfallen, aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen, und da stand er nun mit seiner Billet in der Hand und will den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen. Der Lyriker hat es leichter sich von Kultur zu distanzieren als der Dramaturg. Von Haus aus Spektakel wird das Schauspiel im Rahmen eines Festivals vom Kulturbetrieb unter tätiger Mithilfe des sogenannten Regietheaters gleichsam niedergerungen und als Kunstwerk ausgeschaltet. Nur ein allesfresserisches oder aber ein von Distinktionsbedürfnissen à la Bourdieu geplagtes Publikum, so ungefähr muß man es verstehen, läßt Dinge über sich ergehen, die bei hellem Verstand ein jeder vermeiden würde.
Anders als Aurach hat Sebald sich für vier Jahrzehnte aus dem Inneren der Kunst herausgehalten. Einmal begonnen, wird sein Arbeitspensum kaum geringer gewesen sein, die Familie jedenfalls habe von ihm bis zum Abend nur den unter der Tür hervorquellenden Zigarettenqualm gesehen. Dem Kulturbetrieb in Form von Interviews, Lesungen und Auftritten konnte er sich nicht entziehen. Photoaufnahmen aus dieser Zeit erwecken den Eindruck, die Aufmerksamkeit habe ihm gut getan, einige aber meinen, es seien diese Belastungen gewesen, denen sein armes Herz nicht standgehalten hat.
Kein Gegensatz sei schärfer, so Benn, kein Graben tiefer, als der zwischen Kunst und Kultur. Der Begriff der Kultur ist deutlich verschwommener als der der Kunst, gemeint ist offenbar weniger die Lebensweise indigener Völker als der sogenannte Kulturbetrieb in entfalteten Zivilisationen. Vergleicht man Benn und Sebald, so fallen gemeinsame Merkmale der Herkunft ins Auge. In beider Elternhäusern hingen keine Gainsboroughs, im Fall Sebalds verfügen wir über eine detaillierte Beschreibung des elterlichen Wohnzimmers, die das Fehlen von Gainsboroughs zwar nicht ausdrücklich hervorhebt, Gainsborough praktisch aber ausschließt. In beiden Häusern wurde nicht Chopin gespielt, bei den Sebalds war es stattdessen altbayerische Volksmusik aus dem Radio. Das Gedankenleben war im Hause Benn amusisch, im Hause Sebald obendrein eher unauffällig. Theaterbesuche waren hier und dort selten, für Benn ist Wildenbruchs Haubenlerche zu nennen, für Sebald die Aufführung von Schillers Räubern im heimischen Engelwirtssaal. Im weiteren Werdegang hat Benn den kulturbetiebsfernen Beruf des Arztes ergriffen, der Beruf des Hochschullehrers, Fall Sebald, ist kulturaffiner aber, sofern man sich an der ursprünglichen deutschen Universitätsidee orientiert oder etwa an Kant denkt, ebenfalls nicht dem Kulturbetrieb zuzurechnen. Beide, Benn und Sebald, sind dann, aus amusischen Verhältnissen stammend, zu bedeutenden Meistern in der künstlerischen Behandlung der deutschen Sprache geworden.
Betrachten wir die Protagonisten der vier langen Erzählungen sowie der sehr langen Erzählung Austerlitz, so sehen wir einen Arzt, einen Lehrer, einen Butler, einen Maler und einen Architekturhistoriker. Unter den zahlreichen Komaparsen ist Salvatore Altamura als Redaktionsmitarbeiter in Verona möglicherweise dem Kulturbetrieb zuzurechnen, er, der sich am Abend in die Prosa wie auf eine Insel flüchtet, hinterläßt aber keinen betriebsamen Eindruck. Konzentrieren wir uns auf Aurach, den Künstler. Er scheint Benns eingangs genanntes Diktum voll und ganz zu bestätigen. Er arbeitet Tag für Tag zehn Stunden in seinem Atelier, den siebten Tag nicht ausgenommen. Nichts weist drauf hin, daß er sich um Anerkennung und Ausstellungen bemüht. Die Entdeckung durch den Kunstmarkt, auf dem seine Bilder später zu den höchsten Preisen gehandelt werden, geschieht gleichsam hinter seinem Rücken und wider seinen Willen und hat auf seine Lebensweise keinen Einfluß. Die Trennung zwischen Kunstschaffen und Kunstbetrieb, als einer Sparte des Kulturbetriebs, ist perfekt.
Selysses verfertigt keine Bilder, betrachtet sie aber gern, vorzugsweise in Kirchen und nicht in den kulturbetrieblichen Museen. In jedem Fall aber gelingt es ihm, kulturbeflissenen Touristen aus dem Weg zu gehen. Die Kapelle Enrico Scrovegni in Padua ist bei seinem Besuch so menschenleer wie die Kapelle der Pellegrini in Verona. In der Nationalgalerie in London wartet er geduldig ab, bis die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchstreifenden Besucher abgewandert sind. Keinerlei Kulturgehabe soll zwischen ihm und dem Kunstwerk stehen. Daß er sich bereiterklärt hatte, einen Part im Rahmenprogramm der Bregenzer Festspiele zu übernehmen, reut ihn noch heute. Nebst einem Honorar erhält er für seine Bemühungen eine Karte für die abendliche Nabuccoaufführung. In Rahmen der Inszenierung war man auf die Idee verfallen, aus den anonymen Sklaven richtige Juden in Zebraanzügen zu machen, und da stand er nun mit seiner Billet in der Hand und will den Chor der verkleideten KZ-Häftlinge nicht sehen. Der Lyriker hat es leichter sich von Kultur zu distanzieren als der Dramaturg. Von Haus aus Spektakel wird das Schauspiel im Rahmen eines Festivals vom Kulturbetrieb unter tätiger Mithilfe des sogenannten Regietheaters gleichsam niedergerungen und als Kunstwerk ausgeschaltet. Nur ein allesfresserisches oder aber ein von Distinktionsbedürfnissen à la Bourdieu geplagtes Publikum, so ungefähr muß man es verstehen, läßt Dinge über sich ergehen, die bei hellem Verstand ein jeder vermeiden würde.
Anders als Aurach hat Sebald sich für vier Jahrzehnte aus dem Inneren der Kunst herausgehalten. Einmal begonnen, wird sein Arbeitspensum kaum geringer gewesen sein, die Familie jedenfalls habe von ihm bis zum Abend nur den unter der Tür hervorquellenden Zigarettenqualm gesehen. Dem Kulturbetrieb in Form von Interviews, Lesungen und Auftritten konnte er sich nicht entziehen. Photoaufnahmen aus dieser Zeit erwecken den Eindruck, die Aufmerksamkeit habe ihm gut getan, einige aber meinen, es seien diese Belastungen gewesen, denen sein armes Herz nicht standgehalten hat.