Donnerstag, 5. Juni 2014

Baldachin

Der Dichter stellt seine Geburt in den Mittelpunkt des kosmischen Geschehens: Als ich zum Himmelsfahrtstag auf die Welt kam, zog gerade die Flurumgangsprozession unter den Klängen der Feuerwehrkapelle am Haus vorbei in das blühende Maifeld hinaus. Die Mutter nahm dies zunächst für ein gutes Zeichen, nicht ahnend, daß der kalte Planet Saturn die Stunde regierte und daß über den Bergen schon das Unwetter stand, das bald darauf die Bittgänger zersprengte und einen der vier Baldachinträger erschlug. Wir sehen den Baldachin, das ramponierte Himmelszelt, verlassen auf dem Feld.
Das gesamte Werk läßt sich als Auflösung dieser Urszene lesen. Der Phantomschmerz über den Verlust des Himmels, richtiger noch: der Schmerz abgesichts des gestörten Verhältnisses zwischen Himmel und Erde ist allenthalben spürbar. Giottos Engel fahren fort in ihrer stummen Klage, allem Anschein nach aber sind sie getrennt vom beweinten Christi, der, so hieß es, bald auferstehen wird, sie weinen jetzt über die vom Heiland Verlassenen. Bei allem Schrecken der Pest war es tröstlich, wenn Tiepolo einen himmlischen Truppenteil im Einsatz gegen sie malen konnte - nun, die Pest scheint jetzt mit anderen Mitteln besiegt. Gleichwohl dürfen die Bemühungen der fachkundigen heilenden Hände nicht überschätzt werden, man denke an die Heilbehandlung Adelwarths in Ithaca oder an Austerlitz in der Salpêtrière, einem ein eigenes Universum bildenden Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, wo er in einem der oft mit vierzig Patienten und mehr belegten Männersälen lag. Tiepolo, der Meister der Decken- und Himmelsbilder, der schon sehr an der Gicht litt, liegt mit kalk- und fragverspritzten Gesicht in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter nur unter der Decke und trägt trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur ein in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. Dem heiligen Georg reicht schon die Handbreit, die er über der Welt steht, um frühzeitig auszutreten aus dem Verband der Nothelfer, seither bewegt er sich in wechselnder Gestalt durch die Zeiten. Gerald Fitzpatrick wird die nackte Astrophysik zum metaphysischen Erlebnis, und mit seiner Cessna steigt er immer wieder auf in den entleerten Himmel, bis er dann von seinem letzten Flug nicht zurückkommt. - Dies nur einige Einblicke in das schwierige Verhältnis von Himmel und Erde.
Es ist längst nicht alles schlecht am Himmel und auf der Erde, aber das Sehnen aller Kreatur nach Erlösung ist ohne Hoffnung, seit Saturn den Baldachin zu Fall brachte. Der säkulare Humanismus ist für jemanden, der nach Art der Fundamentalökologen eine Sonderstellung des Menschen in der Welt nicht sieht, kein geeigneter Nachfolger für die vom Unwetter zerschlagene Gotteswelt. Schon dem Herrn selbst war ein böser Kunstfehler unterlaufen, als er zur Rettung des einen tobsüchtigen Gadareners mehrere tausend Säue über die Klippe schickte. Die großen Geschichtsdeutungen mit gutem Ausgang für die Menschen mit oder ohne Gottes Hilfe in der Art von Hegel und Marx sind ihrerseits ausgelaufen. Nehmen wir etwa den 13. April 1995, und schauen uns um. Es ist Gründonnerstag, der Tag der Fußwaschung und das Namensfest der Heiligen Agathon, Papylus und Hermengild. Auf den Tag genau vor dreihundertsiebenundneunzig Jahren wurde von Heinrich IV das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin, vor zweihundertdreiundfünfzig Jahren, das Messias Oratorium Händels aufgeführt; Warren Hastings vor zweihundertdreiundzwanzig Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; in Preußen, vor einhundertunddreizehn Jahren die antisemitische Liga gegründet; &c. bis in die nahe Vergangenheit; ja, und zuletzt, wie wir am Morgen früh noch nicht wußten, ist Gründonnerstag, der 13. April 1995 auch der Tag, an dem Claras Vater, kurz nach seiner Einlieferung in das Coburger Spital, aus dem Leben geholt wurde. Soviel ungefähr läßt sich verstehen vom Geschichtsverlauf. Als letzte und naturgemäß wie immer endgültige Errungenschaft teleologischen Geschichts- verständnisses gilt Demokratie. Ohne daß er etwas Böses, also etwas entschieden Undemokratisches getan hätte, zählt der Dichter nicht zu den Jüngern der Demokratie als Heilslehre. Generell fehlt ihm eine sogenannte Vision für die politische Gestaltung der Zukunft. Von Brüssel, der Welthauptstadt der Demokratie, wohin die mühseligen und beladenen Völker drängen, bis her vom Rande der Welt, Ukraju, auf daß sie erquickt werden und geheilt von ihren Wunden, behauptet er bündig und unter Mißachtung schonender demokratischer Sprachregelungen, er habe dort in einem Monat mehr Bucklige und Irre gesehen als irgendwo sonst in einem Jahr.

Die Welt sei sinnlos und jeder wisse es, hat Sebald bemerkt. Die längste Zeit hat das fast niemand gewußt oder wahrhaben wollen. Sinn ist das Medium menschlichen Erlebens, und so konnte man schlecht darauf gefaßt sein, daß Sinn in der Welt draußen keinen Widerhall hat. Wenn planvoller Geschichtsverlauf undurchsichtiger gesellschaftlicher Evolution Platz machen muß, bleibt nur noch die Hoffnung, den Zufall bei seiner Arbeit beobachten zu können. Vorsichtiger Umgang mit der Zahl Dreizehn könnte sich lohnen, ebenso, die Bahn des Saturn im Auge zu behalten. Naturgemäß ist das sinnlos, aber, so wie die Dinge liegen, nicht auffällig sinnlos. Aberglaube ist nicht schlechter als Glaube, wenn auch nicht so schön auszumalen.

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