Heimlichkeiten vom Anfang
Möglicherweise hat Kafka bei seinem Aufenthalt in Verona die Geschichte des glücklosen Studenten von Prag als Film gesehen und, wenn es so war, in der Titelfigur namens Balduin seinen Doppelgänger erkannt. Schon in einer der ersten Szenen stellt sich Balduin, der beste Fechter von Prag, seinem eigenen Spiegelbild, und bald darauf tritt dieses zu seinem Entsetzen aus dem Rahmen, um fortan als Gespenst seiner Friedlosigkeit mit ihm umzugehen, gerad so wie in der Beschreibung eines Kampfes die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält. Und was bleibt einem derart in die Enge Getriebenen anderes, als zu versuchen, des stillen Kompagnons sich zu entledigen durch einen Pistolenschuß. Von seiner Wahnvorstellung befreit, atmet Balduin auf und spürt zugleich, wie die Kugel ihm durch die eigene Brust gedrungen ist.
Platons Mißtrauen gegenüber der Mimesis und der Kunst als eine ihrer wichtigen Ausprägungen ist bekannt. René Girard zufolge war er sich aber über den tieferen und tiefsten Grund dieses Vorbehalts nicht im Klaren. Girard selbst sieht in der Regulierung der aneignenden Mimesis den Beginn aller Religion und, ausgehend davon, aller Kultur und Gesellschaft. Ein Kind spielt mit Bauklötzen, darunter der einzige rote. Ein zweites kommt hinzu, und nur der rote Klotz in der Hand des anderen scheint ihm begehrenswert. Der Mensch ist nicht Souverän seines Begehrens, kennt es nicht, er imitiert das Begehren anderer. Der Erwachsene ist der Situation, deren fatale Folgen, ließe man ihr freien Lauf, ohne weiteres erkennbar sind, nicht etwa im Wege einer reifenden Vernunft entkommen, sondern durch Gewöhnung an eine durch Tabu, Ritual und Opfer gesellschaftlich gebändigte Mimesis. Zwillinge und Spiegelungen, natürliche Doppelgänger, die sich in ihrem Begehren nicht trennen lassen, gelten unter archaischen Verhältnissen als verbrecherische Störungen, die Ermordung Abels durch Kain und die Ermordung des Remus durch Romulus waren geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung. Das sind im Überblick quelques choses cachées depuis la fondation du monde, einige der Heimlichkeiten vom Anfang der Welt, kekrummena apo katabolês kósmou, wie Girard mit Blick auf Matthäus 13,35* ausführt.
Die Heimlichkeiten, wenn sie denn so bestanden haben, sind heute kaum noch sichtbar. Die religiöse und stratifikatorische Regulierung der Imitationskonflikte im Sinne Girards sind nach Luhmanns Worten entfallen, stattdessen werden Behinderungen des Begehrens als Folge eines Mangels an Kaufkraft erlebt. Das Spiel der Romantik mit Doppelgängern, Zwillingen und Spiegelungen deutet der Theoretiker, der selbst kaum einen Literaten häufiger zitiert als den doppelgängerisch versierten Jean Paul, als ein Phänomen der in Gang gekommenen Neuzeit, als die Umwandlung von Identität in Kommunikation. Kommunikation hat bei ihm keinen exklusiven Bezug zu Friedlichkeit, der Schuß auf den Doppelgänger, das Gespenst der Friedlosigkeit, bleibt im Konzept. Mit diesen Bemerkungen ist die literaturwissenschaftliche Forschungsfront zum Thema nicht in ihrer vollen Länge abgeschritten. Sie abzuschreiten würde aber auch mehr als ein Paar Stiefel verschleißen, umso mehr, als das Doppelgängerthema mit der Romantik nicht erledigt ist.
Dr. Jekyll verlagert seine dunklen Seiten in den Doppelgänger Mr. Hyde, wie in unseren Tagen eine Bank ihre faulen Papiere in eine Bad Bank verlagert. Der Name Hyde: Hide weist aber eher zurück zu den verborgenen Heimlichkeiten am Anfang der Welt, zum victime émissaire, dem Sündenbock, dessen Opfer in den Augen Girards unverzichtbar war für das periodische Reset des archaischen Regulierungssystems; Hyde, Kind der Neuzeit, weigert sich allerdings der Opferung und schlägt zurück. Iwan Karamasow mißbraucht seinen Halbbruder als Double und verleitet ihn zum Vatermord, in den Augen Freuds die Heimlichkeit schlechthin vom Anfang der Welt. Diese zwei Pflastersteine, Stevenson und Dostojewski, sollen ausreichen als Beleg, daß ein geebneter Weg führt von den romantischen zu Kafkas Doppelgängern. Selysses nun wiederholt Kafkas Reise durch Oberitalien, doppelt seinen Gang, und dabei bleibt es nicht. Kurz vor der Abfahrt stieg ein Junge von etwa fünfzehn Jahren ein, der auf die unheimlichste Weise, die man sich denken kann, den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Als ich unter Aufbringung allen Mutes ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen versuchte, reagierten sie nur mit einem blöden gegenseitigen Sich-Angrinsen. Und als ich mich dem äußerst reservierten Ehepaar zuwandte, das meine seltsamen Bemühungen um seine Söhne bereits mit wachsender Besorgnis verfolgt hatte, gelang es mir nicht annähernd, ihnen klarzumachen, welcher Art mein Interesse an den unablässig vor sich hinkichernden Knaben war. Als ich zuletzt zur Zerstreuung jeden Verdachts sagte, es würde mir schon reichen, wenn sie mir ein Bild ihrer Söhne nach England schicken würden, war es ihnen, wie ich genau merkte, vollends klar, daß es sich bei mir um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden Päderasten handeln konnte. - Hätte das ersehnte Photo den bereits verdreifachten Kafka verfünffacht, oder hätte es den Doppelgängerspuk verscheucht und aufgehoben?
Anlaß, gegen die Doppelgängerei vorzugehen, wäre hinreichend gegeben. Noch in Wien wird Selysses von einem ganzen Schwarm dieser Gattung heimgesucht. Öfters kam es mir vor, als ob ich irgend jemand mir Bekannten vor mir hergehen sähe. Es handelte sich ausschließlich um Menschen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte, Abgeschiedene sozusagen gewissermaßen. Auch solche, die sich mit Sicherheit nicht mehr am Leben befanden, wie die Mathild Seelos und den einarmigen Dorfschreiber Fürgut, habe ich gesehen. Einmal, in der Gonzagagasse, glaubte ich sogar, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante zu erkennen. In Venedig gesellt sich dann noch der König Ludwig hinzu. Er war um einiges älter und hagerer geworden und unterhielt sich seltsamerweise mit einer zwergenhaften Dame in dem stark nasalierten Englisch der gehobenen Klasse. Die kränkliche Blässe des Angesichts aber, die weit offenen Kinderaugen, das wellige Haar: il re lodovico, kein Zweifel. Die gesamte Schar ist der Gruppe der diachronen Doppelgänger oder auch Wiedergänger zuzurechnen. Es ist kaum zu entscheiden, ob das Heer der Doppelgänger Grund oder Folge der Schwindelgefühle ist, unter denen der Reisende leidet. Im weiteren Verlauf der ersten Reise verengt sich das Thema auf die bedrohlichen zwei Augenpaare eines unbekannt bleibenden Doppelgängerpaares, vom dem Selysses sich verfolgt fühlt und das wesentlich für seine wachsenden Angstgefühle und die panische Flucht aus Verona, Italien und dem europäischen Festland verantwortlich sind.
Auf der zweiten Reise bekommt das Thema einen anderen Tonfall. Die Doppelgänger sind einerseits weniger und andererseits wichtiger, ausführlicher gezeichnet, kaum beängstigend, einige gar beglückend. Für Kafka wird ausdrücklich hervorgehoben, er habe Balduins ostentativen Filmtod und seine letzten Zuckungen durchaus nicht als lächerlich empfunden. Für Selysses war der Ablauf seiner Begegnung mit den Kafkabuben im Bus voller Pein und Scham, Empfindungen, die im erzählenden Rückblick aber der Komik weichen. Für Erheiterung sorgen auch die motorisierten Schattenreiter in W., der eine zuständig für die unsterbliche Seele, der andere für die sterbliche Hülle. Zu jeder Tages- und Abendstunde sah man den Dr. Piazolo auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Er hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, sie auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll.
Kafkas Jäger Gracchus geht seinen Weg vom Anfang bis zu Ende des Buches. Seinen Doppelgänger hat er in Kafkas Jäger Hans Schlag. Der sitzt zunächst unerkannt auf dem Dachboden, eine große runde Mütze aus Krimmerpelz tief auf seinem Kopf, gekleidet in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug zusammenhielt. Später sieht man ihn, einigermaßen verändert, in der Gaststube des Engelwirts. Schlag findet den Tod, der Gracchus vorenthalten wurde, und am Oberarm des Toten findet sich eintätowiert die Barke des Gracchus. Bei dem Leichnam findet man aber auch eine Repetieruhr, die das Lied Üb' immer Treu und Redlichkeit abspielt, einer klarer Fall von Entmythologisierung der Jägergestalt und Verbürgerlichung des Doppelgängermotivs. Dem Jäger verwandt ist der Soldat und Drachentöter Georg, San Giorgio. Ebenfalls verbürgerlicht, mit Ehefrau, drei Töchtern und Schwiegermutter treffen wir ihn oder seinen Doppel- und Wiedergänger im deutschen Konsulat Mailand. In der Hand hält er den nämlichen Strohhut, den Pisanello San Giorgio geschenkt hatte. Von Beruf ist er Hochseilartist, ähnlich dem Dichter also doch eine Existenz am Rande der bürgerlichen Seinsweise. Selysses vergeht in der Gesellschaft der Artistensippe die Wartezeit denn auch wie im Flug.
Sie sind ganz verschieden und doch, vereint in Schönheit und durch eine Art Synchronlesen, ein Zwillingspaar. Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. Bei einer späteren Zugfahrt wiederholt sich die Szene in der Gestalt einer klassischen und in unbestimmter Weise verzauberten Doppel- oder Wiedergängerin. Die letzte der neuzugestiegenen Fahrgäste war eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar, in der ich auf den ersten Blick und, wie ich mir sagte, ohne den allergeringsten Zweifel, Elizabeth, die Tochter James I, erkannte, die als die Winterkönigin bekannt geworden ist. Diese junge Frau aus dem englischen siebzehnten Jahrhundert war, kaum hatte sie Platz genommen und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein nicht existentes Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten und tatsächlich nicht existenten Autorin namens Mila Stern.
Streckenweise hat es den Anschein, als reise Selysses Kafka in korrigierender Absicht nach, als wolle er, etwa im Wege einer Zivilisierung der Doppelgänger, die Welt ein wenig in die Richtung Stifters bewegen, aber was wäre korrigierbar an Kafka. Stifter war vermutlich überzeugt, im Nachsommer eine bürgerliche Welt für eines Hydes nicht bedürftige Jekylls entworfen zu haben, seine Kommentatoren nehmen ihm das aber nicht ab, der Dichter am allerwenigsten. Der behält gleichwohl Stifters Nachsommerwelt als Penthaus seiner Menschenbehausung bei, das Gebäude aber ist eine Ruine und frei der Blick von oben auf die Kellerverliese. Dort, in der Tiefe, lagern etwa die den Dichter faszinierenden Bestattungsformen und -rituale, Heimlichkeiten vom Anfang der Welt, pas de culture sans tombeau, pas de tombeau sans culture, les rites funéraires autour des premières victimes réconciliatrices pourraient bien constituer les premiers gestes proprement culturels. Die Doppel- und Wiedergänger haben sich emporgearbeitet und scheinen sich auf unterschiedlichen Etagen eingerichtet zu haben. Sind sie aber sicher in ihrer Unterkunft, wie weit reicht der Ernst des Spaßes mit der Repetieruhr des Jägers, den vertauschten Rucksäcken der beiden Schattenreiter aus dem Therapiebereich, wieviel kann man auf die beglückende aber ganz und gar rätselhafte Winterkönigin gebe.
*Pethau sy'n guddiedig er seiliad y byd.
Möglicherweise hat Kafka bei seinem Aufenthalt in Verona die Geschichte des glücklosen Studenten von Prag als Film gesehen und, wenn es so war, in der Titelfigur namens Balduin seinen Doppelgänger erkannt. Schon in einer der ersten Szenen stellt sich Balduin, der beste Fechter von Prag, seinem eigenen Spiegelbild, und bald darauf tritt dieses zu seinem Entsetzen aus dem Rahmen, um fortan als Gespenst seiner Friedlosigkeit mit ihm umzugehen, gerad so wie in der Beschreibung eines Kampfes die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält. Und was bleibt einem derart in die Enge Getriebenen anderes, als zu versuchen, des stillen Kompagnons sich zu entledigen durch einen Pistolenschuß. Von seiner Wahnvorstellung befreit, atmet Balduin auf und spürt zugleich, wie die Kugel ihm durch die eigene Brust gedrungen ist.
Platons Mißtrauen gegenüber der Mimesis und der Kunst als eine ihrer wichtigen Ausprägungen ist bekannt. René Girard zufolge war er sich aber über den tieferen und tiefsten Grund dieses Vorbehalts nicht im Klaren. Girard selbst sieht in der Regulierung der aneignenden Mimesis den Beginn aller Religion und, ausgehend davon, aller Kultur und Gesellschaft. Ein Kind spielt mit Bauklötzen, darunter der einzige rote. Ein zweites kommt hinzu, und nur der rote Klotz in der Hand des anderen scheint ihm begehrenswert. Der Mensch ist nicht Souverän seines Begehrens, kennt es nicht, er imitiert das Begehren anderer. Der Erwachsene ist der Situation, deren fatale Folgen, ließe man ihr freien Lauf, ohne weiteres erkennbar sind, nicht etwa im Wege einer reifenden Vernunft entkommen, sondern durch Gewöhnung an eine durch Tabu, Ritual und Opfer gesellschaftlich gebändigte Mimesis. Zwillinge und Spiegelungen, natürliche Doppelgänger, die sich in ihrem Begehren nicht trennen lassen, gelten unter archaischen Verhältnissen als verbrecherische Störungen, die Ermordung Abels durch Kain und die Ermordung des Remus durch Romulus waren geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnung. Das sind im Überblick quelques choses cachées depuis la fondation du monde, einige der Heimlichkeiten vom Anfang der Welt, kekrummena apo katabolês kósmou, wie Girard mit Blick auf Matthäus 13,35* ausführt.
Die Heimlichkeiten, wenn sie denn so bestanden haben, sind heute kaum noch sichtbar. Die religiöse und stratifikatorische Regulierung der Imitationskonflikte im Sinne Girards sind nach Luhmanns Worten entfallen, stattdessen werden Behinderungen des Begehrens als Folge eines Mangels an Kaufkraft erlebt. Das Spiel der Romantik mit Doppelgängern, Zwillingen und Spiegelungen deutet der Theoretiker, der selbst kaum einen Literaten häufiger zitiert als den doppelgängerisch versierten Jean Paul, als ein Phänomen der in Gang gekommenen Neuzeit, als die Umwandlung von Identität in Kommunikation. Kommunikation hat bei ihm keinen exklusiven Bezug zu Friedlichkeit, der Schuß auf den Doppelgänger, das Gespenst der Friedlosigkeit, bleibt im Konzept. Mit diesen Bemerkungen ist die literaturwissenschaftliche Forschungsfront zum Thema nicht in ihrer vollen Länge abgeschritten. Sie abzuschreiten würde aber auch mehr als ein Paar Stiefel verschleißen, umso mehr, als das Doppelgängerthema mit der Romantik nicht erledigt ist.
Dr. Jekyll verlagert seine dunklen Seiten in den Doppelgänger Mr. Hyde, wie in unseren Tagen eine Bank ihre faulen Papiere in eine Bad Bank verlagert. Der Name Hyde: Hide weist aber eher zurück zu den verborgenen Heimlichkeiten am Anfang der Welt, zum victime émissaire, dem Sündenbock, dessen Opfer in den Augen Girards unverzichtbar war für das periodische Reset des archaischen Regulierungssystems; Hyde, Kind der Neuzeit, weigert sich allerdings der Opferung und schlägt zurück. Iwan Karamasow mißbraucht seinen Halbbruder als Double und verleitet ihn zum Vatermord, in den Augen Freuds die Heimlichkeit schlechthin vom Anfang der Welt. Diese zwei Pflastersteine, Stevenson und Dostojewski, sollen ausreichen als Beleg, daß ein geebneter Weg führt von den romantischen zu Kafkas Doppelgängern. Selysses nun wiederholt Kafkas Reise durch Oberitalien, doppelt seinen Gang, und dabei bleibt es nicht. Kurz vor der Abfahrt stieg ein Junge von etwa fünfzehn Jahren ein, der auf die unheimlichste Weise, die man sich denken kann, den Bildern glich, die Kafka als heranwachsenden Schüler zeigen. Und als ob es damit nicht genug gewesen wäre, hatte er zudem noch einen Zwillingsbruder, der sich von ihm soweit ich in meinem Entsetzen feststellen konnte, nicht im geringsten unterschied. Als ich unter Aufbringung allen Mutes ein Gespräch mit ihnen anzuknüpfen versuchte, reagierten sie nur mit einem blöden gegenseitigen Sich-Angrinsen. Und als ich mich dem äußerst reservierten Ehepaar zuwandte, das meine seltsamen Bemühungen um seine Söhne bereits mit wachsender Besorgnis verfolgt hatte, gelang es mir nicht annähernd, ihnen klarzumachen, welcher Art mein Interesse an den unablässig vor sich hinkichernden Knaben war. Als ich zuletzt zur Zerstreuung jeden Verdachts sagte, es würde mir schon reichen, wenn sie mir ein Bild ihrer Söhne nach England schicken würden, war es ihnen, wie ich genau merkte, vollends klar, daß es sich bei mir um nichts anderes als um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden Päderasten handeln konnte. - Hätte das ersehnte Photo den bereits verdreifachten Kafka verfünffacht, oder hätte es den Doppelgängerspuk verscheucht und aufgehoben?
Anlaß, gegen die Doppelgängerei vorzugehen, wäre hinreichend gegeben. Noch in Wien wird Selysses von einem ganzen Schwarm dieser Gattung heimgesucht. Öfters kam es mir vor, als ob ich irgend jemand mir Bekannten vor mir hergehen sähe. Es handelte sich ausschließlich um Menschen, an die ich jahrelang nicht mehr gedacht hatte, Abgeschiedene sozusagen gewissermaßen. Auch solche, die sich mit Sicherheit nicht mehr am Leben befanden, wie die Mathild Seelos und den einarmigen Dorfschreiber Fürgut, habe ich gesehen. Einmal, in der Gonzagagasse, glaubte ich sogar, den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Dichter Dante zu erkennen. In Venedig gesellt sich dann noch der König Ludwig hinzu. Er war um einiges älter und hagerer geworden und unterhielt sich seltsamerweise mit einer zwergenhaften Dame in dem stark nasalierten Englisch der gehobenen Klasse. Die kränkliche Blässe des Angesichts aber, die weit offenen Kinderaugen, das wellige Haar: il re lodovico, kein Zweifel. Die gesamte Schar ist der Gruppe der diachronen Doppelgänger oder auch Wiedergänger zuzurechnen. Es ist kaum zu entscheiden, ob das Heer der Doppelgänger Grund oder Folge der Schwindelgefühle ist, unter denen der Reisende leidet. Im weiteren Verlauf der ersten Reise verengt sich das Thema auf die bedrohlichen zwei Augenpaare eines unbekannt bleibenden Doppelgängerpaares, vom dem Selysses sich verfolgt fühlt und das wesentlich für seine wachsenden Angstgefühle und die panische Flucht aus Verona, Italien und dem europäischen Festland verantwortlich sind.
Auf der zweiten Reise bekommt das Thema einen anderen Tonfall. Die Doppelgänger sind einerseits weniger und andererseits wichtiger, ausführlicher gezeichnet, kaum beängstigend, einige gar beglückend. Für Kafka wird ausdrücklich hervorgehoben, er habe Balduins ostentativen Filmtod und seine letzten Zuckungen durchaus nicht als lächerlich empfunden. Für Selysses war der Ablauf seiner Begegnung mit den Kafkabuben im Bus voller Pein und Scham, Empfindungen, die im erzählenden Rückblick aber der Komik weichen. Für Erheiterung sorgen auch die motorisierten Schattenreiter in W., der eine zuständig für die unsterbliche Seele, der andere für die sterbliche Hülle. Zu jeder Tages- und Abendstunde sah man den Dr. Piazolo auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Er hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, sie auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll.
Kafkas Jäger Gracchus geht seinen Weg vom Anfang bis zu Ende des Buches. Seinen Doppelgänger hat er in Kafkas Jäger Hans Schlag. Der sitzt zunächst unerkannt auf dem Dachboden, eine große runde Mütze aus Krimmerpelz tief auf seinem Kopf, gekleidet in einen weiten braunen Mantel, den ein mächtiges Riemenzeug zusammenhielt. Später sieht man ihn, einigermaßen verändert, in der Gaststube des Engelwirts. Schlag findet den Tod, der Gracchus vorenthalten wurde, und am Oberarm des Toten findet sich eintätowiert die Barke des Gracchus. Bei dem Leichnam findet man aber auch eine Repetieruhr, die das Lied Üb' immer Treu und Redlichkeit abspielt, einer klarer Fall von Entmythologisierung der Jägergestalt und Verbürgerlichung des Doppelgängermotivs. Dem Jäger verwandt ist der Soldat und Drachentöter Georg, San Giorgio. Ebenfalls verbürgerlicht, mit Ehefrau, drei Töchtern und Schwiegermutter treffen wir ihn oder seinen Doppel- und Wiedergänger im deutschen Konsulat Mailand. In der Hand hält er den nämlichen Strohhut, den Pisanello San Giorgio geschenkt hatte. Von Beruf ist er Hochseilartist, ähnlich dem Dichter also doch eine Existenz am Rande der bürgerlichen Seinsweise. Selysses vergeht in der Gesellschaft der Artistensippe die Wartezeit denn auch wie im Flug.
Sie sind ganz verschieden und doch, vereint in Schönheit und durch eine Art Synchronlesen, ein Zwillingspaar. Mir gegenüber saßen eine Franziskanerin von vielleicht dreißig oder fünfunddreißig Jahren und ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern. Die Schwester las ihr Brevier, das Mädchen, nicht minder versenkt, einen Bilderroman. Von vollendeter Schönheit waren sie beide, dachte ich mir, und ich bewunderte den tiefen Ernst, mit dem sie jeweils die Blätter umwendeten. Einmal blätterte die Franziskanerschwester um, dann das junge Mädchen und dann wieder die Franziskanerschwester. Bei einer späteren Zugfahrt wiederholt sich die Szene in der Gestalt einer klassischen und in unbestimmter Weise verzauberten Doppel- oder Wiedergängerin. Die letzte der neuzugestiegenen Fahrgäste war eine junge Frau mit einem braunen Samtbarett und lockigem Haar, in der ich auf den ersten Blick und, wie ich mir sagte, ohne den allergeringsten Zweifel, Elizabeth, die Tochter James I, erkannte, die als die Winterkönigin bekannt geworden ist. Diese junge Frau aus dem englischen siebzehnten Jahrhundert war, kaum hatte sie Platz genommen und in ihrer Ecke sich eingerichtet, auf das tiefste versenkt in ein nicht existentes Buch, welches den Titel Das böhmische Meer trug und verfaßt war von einer mir unbekannten und tatsächlich nicht existenten Autorin namens Mila Stern.
Streckenweise hat es den Anschein, als reise Selysses Kafka in korrigierender Absicht nach, als wolle er, etwa im Wege einer Zivilisierung der Doppelgänger, die Welt ein wenig in die Richtung Stifters bewegen, aber was wäre korrigierbar an Kafka. Stifter war vermutlich überzeugt, im Nachsommer eine bürgerliche Welt für eines Hydes nicht bedürftige Jekylls entworfen zu haben, seine Kommentatoren nehmen ihm das aber nicht ab, der Dichter am allerwenigsten. Der behält gleichwohl Stifters Nachsommerwelt als Penthaus seiner Menschenbehausung bei, das Gebäude aber ist eine Ruine und frei der Blick von oben auf die Kellerverliese. Dort, in der Tiefe, lagern etwa die den Dichter faszinierenden Bestattungsformen und -rituale, Heimlichkeiten vom Anfang der Welt, pas de culture sans tombeau, pas de tombeau sans culture, les rites funéraires autour des premières victimes réconciliatrices pourraient bien constituer les premiers gestes proprement culturels. Die Doppel- und Wiedergänger haben sich emporgearbeitet und scheinen sich auf unterschiedlichen Etagen eingerichtet zu haben. Sind sie aber sicher in ihrer Unterkunft, wie weit reicht der Ernst des Spaßes mit der Repetieruhr des Jägers, den vertauschten Rucksäcken der beiden Schattenreiter aus dem Therapiebereich, wieviel kann man auf die beglückende aber ganz und gar rätselhafte Winterkönigin gebe.
*Pethau sy'n guddiedig er seiliad y byd.
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