Dekalog, Position 10
Das Alte Testament setzt auf Gesetz und Gebot, das Neue auf das Beispiel, die Imitatio oder Mimesis Christi. Girard führt vor, wie schon das Alte Testament vorbereitend mit Erzählungen arbeitet, die den archaischen Mythen mit ihrer Bestätigung und zugleich Verhüllung des Opfermordes äußerlich ähneln, ihren Sinn aber in die genaue Gegenrichtung umkehren, so etwa die Erzählung von Joseph und seinen Brüdern: der von der Gemeinschaft der Brüder einmütig als schuldig bestimmte unschuldige Joseph wird, entgegen aller Mythenlogik, als unschuldig erkannt. La crucifixion, enfin, réduit la mythologie à l'impuissance en révélant la contagion dont l'efficacité trop grande dans les mythes empêche les communautés de répéter jamais la vérité, à savoir l'innocence de leurs victimes. Die Heilige Schrift ist bereits die Entmythologisierung, versteckt nur hinter einem dünnen traditionellen Schleiergewand mythologischen Zuschnitts, und Bultmanns nächstfolgender Entmythologisierung nicht bedürftig, die sogenannte Anpassung an unsere Zeit kann entfallen. Das Evangelium hat uns alle notwendigen Hinweise gegeben, seither sind wir frei und können weitere Unterstützung nicht erwarten. Achever la résurrection: soviel in aller Girard kaum gerecht werdenden Kürze.
Die Geburt Christi ist nicht zur zweiten Geburt des Menschen geworden. Daß die Menschen dem Beispiel Christi in der Entlarvung der Gewalt folgen, hat die Kirche nicht bewerkstelligen können, le christianisme historique a échoué. Der aufgeklärte Humanismus ist davon zunächst nicht beeindruckt, aber: L'épanouissement humaniste attendu d'un désir enfin pleinement libéré ne se vérifie jamais. Tatsächlich ist vor dem Hintergrund der Mimesistheorie schwer zu sehen, wie das vorgeblich befreite, tatsächlich aber in seine Begierden entlassene Individuum zum Heil führen soll. Selbstverwirklichung, ob dieser Denkfigur konnte bereits Luhmann, dem es ja so leicht nicht die Sprache verschlug, nur ratlos den Kopf schütteln. Wenn Luhmann notiert, die Imitationskonflikte im Sinne Girards seien in der modernen Gesellschaft entfallen, stattdessen würden Behinderungen des Begehrens als Folge eines Mangels an Kaufkraft erlebt, so ist das wohl ein wenig leger formuliert. Die Imitationskonflikte sind nicht entfallen, sondern durch eine immerfort aber vermutlich nicht endlos wachsende Kaufkraft fürs erste anästhesiert, die Suchtfolgen sind bereits unverkennbar. Der Mythos lebt fort in den Institutionen, im Rahmen eines offen konfliktuellen Wirtschaftssystems kann die Nachfolge Christi keinen Raum gewinnen. Die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts, alle haben es bemerkt, hatten Sündenbockcharakter, daß sie im laufenden Jahrhundert entfallen könnten, war ein Traum, aus dem wir gerade aufwachen. Luhmann hat über alle denkbaren Sparten der Gesellschaft eine Monographie verfaßt, die Armee der Gesellschaft aber ausgespart, Clausewitz wurde nicht zu Ende gedacht, bevor Girard sich der Sache annahm. Zwar ist mittlerweile richtig, notre société est la plus préoccupée de victimes, qui fut jamais, le phénomène est sans précédent, mais il n'est qu'une vaste comédie.
Mit dem zentralen Begriff Girards, der Mimesis, war Sebald, das kann man voraussetzen, in der Fassung Adornos vertraut, auf Pisanello schaut er wohl auch mit Adornos Augen, wenn er dort sieht, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Den Menschen und den Vögeln und allem anderen die gleiche Daseinsberechtigung: geleitet davon versucht Selysses sich an der Exegese der Heiligen Schrift: Hinter einem niedrigen Elektrozaun lagerte eine an die hundert Stück zählende Schweineherde, und ich näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Ich fuhr ihm mit der Hand über den staubbedeckten Rücken, strich ihm über den Rüssel und das Gesicht und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch - Selysses erinnert all das an die Geschichte, die der heilige Evangelist aus der Gegend der Gadarener erzählt, als der Herr den bösen Geistern befiehlt, herauszufahren aus dem Tobsüchtigen und hinein in die Säue, die, zweitausend an der Zahl, sich von dem Abhang hinabstürzen und ersaufen in der Flut. Offenbar ist unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen. - Selysses hat sich die vielleicht abstoßendste Episode des Evangeliums ausgesucht, zweitausend fraglos Unschuldige werden bedenkenlos für einen möglicherweise Unschuldigen geopfert. Girard schließt die Episode naturgemäß von seinen Demonstrationen aus, zeigt aber an anderer Stelle, daß er den Impetus Selysses' durchaus teilt: Les psaumes nous font penser à un homme, qui aurait l'idée saugrenue de porter une magnifique fourrure à l'envers et qui, au lieu de rayonner de luxe, de calme et de volupté, nous montrerait la peau sanglante des bêtes écorchées vives. Toute cette splendeur, on verrait alors que c'est à la mort de créatures vivantes qu'on la doit.
Weitere Bibelarbeit im engeren Sinne leistet Selysses nicht. Die Menge meidet er, als fürchte er, ihr Opfer zu werden. Daß der heilige Franz mit dem Gesicht nach unten im Brackwasser treibt, kann ihm nicht gefallen, er läßt ihn wiederauferstehen in der Gestalt des ständig vom Geflügel unterschiedlichster Art umschwärmten Majors Le Strange. Wer wollte bestreiten, daß das immer unschuldiger werdende Leben der Ashburys in einer Art verborgener Imitatio Christi verläuft. Der Selbstvorwurf des Dichters, nicht auf immer bei ihnen geblieben zu sein, um dieses Leben zu teilen, ist ernst zu nehmen. Sebalds Helden sind nicht auf Selbstverwirklichung aus, die Dämpfung des Begehrens ist allenthalben spürbar. Stendhal zieht letztendlich die von ihm selbst erdachte Mme Gherardi den leibhaftigen Geliebten vor. Kafka erläutert in der Wasserheilanstalt des Dr. Hartung in Riva der in ihn verliebten Schweizerin die Theorie der körperlosen Liebe. Selysses' Trauung mit Luciana Michelotti fällt in eins mit dem Augenblick ihres Verschwindens: sie strahlte, legte den Gang ein und fuhr davon. Das Begehren liegt nur noch als milder Schimmer über dem Land. An anderer Stelle erleben wir das Schwinden des auf die Güter gerichteten Begehrens: Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen.
Das kleine Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Nous voyons Satan tomber comme l'éclair, und als Kriechtier am Boden hat Georg den Satan erstochen. Der Herr der Finsternis, der nichts anderes ist als das Prinzip der schlechten Mimesis, macht aber selbst im Tode noch einen vitalen Eindruck. Il ne faut pas en conclure que les hommes vont tout de suite être débarrassés de leur prince aujourd'hui déchu. Achever Clausewitz: der preußische Offizier ist zu Ende gedacht aber nicht erledigt. Als Major George Le Strange muß der heilige Georg dann noch ein weiteres Mal ausrücken in Bergen Belsen, bevor er sich in den heiligen Franz verwandeln kann. Wir treffen in dann noch einmal als den Zirkuskünstler Giorgio Santini. Das Prinzip der Kunst ist die gute Mimesis, schwerlos vergeht denn auch die Zeit in der Gesellschaft des Artisten und seiner Familie.
Der eine oder andere maßvolle Atheist mag durch die Lektüre der Schriften René Girards an die Schwelle der Möglichkeit geführt werden, sich als Christ zu verstehen. Girards Auslegung der Schrift - Auslegung nicht eines Theologen, sondern eines Anthropologen, Mythologen und Literaturwissenschaftlers - erfüllt dafür zwei Vorbedingungen. Zum einen ist sie nicht, so Benjamins Vorwurf gegen die Theologie, klein und häßlich und kann sich durchaus sehen lassen, hechelt nicht den Parolen und Launen des säkularen Humanismus hinterdrein, namhafte Gesprächspartner wie Hegel, Hölderlin, Nietzsche, Freud, Heidegger oder Lévi-Strauss muß Girard nicht fürchten. Zum anderen verpflichtet seine Auslegung nicht zu einer sogenannten positiven Weltsicht. Im Roman eines deutschen Autors äußert eine junge Frau die Überzeugung, alles werde immer besser und sei schon fast gut, sie stirbt kurz darauf an einer allergischen Reaktion nach einem Wespenstich. Das geht zu Herzen, man hätte ihr zu Lebzeiten nicht widersprechen wollen und nun, da sie tot ist, erst recht nicht, es ist ihre gültige Wahrheit. Ein Gott aber, der nach Einschätzung seiner Exegeten und Exegetinnen, chrétiens et chrétiennes vertueusement progressistes, von transzendenter Warte aus, mit unverstelltem Panoramablick sozusagen, zum gleichen Ergebnis gelangt und überdies, wie man hört, die Menschen Tag aus Tag ein nur liebt und Gefallen an ihnen findet - offenbar von all seinen Geschöpfen nur an ihnen und nicht auch, was ja nicht schwer fiele, an den Kapuzineräffchen, von den Heringen, die Sebald besonders am Herzen liegen, ganz zu schweigen -, ist eine fragwürdige Erscheinung. Girard führt uns heim ins Reich der realen Apokalypse mit frischer Atemluft. Notre monde d'aujourd'hui est à la fois le pire de
ce qu'il a été, et le meilleur: soviel kann auch der besonnene immanente
Betrachter feststellen.
Le christianisme historique, et avec lui la société moderne ont échoué: wohl nichts hätte den Dichter gehindert, diesen Satz abzuzeichnen. Girard geht von bislang zwei Geburten der Menschheit aus, einer Notgeburt und einer nachfolgenden Fehlgeburt. Die Notgeburt datiert er auf den Tag, als sich die wandernde Horde am Abend als Primaten schlafenlegte, um am nächsten Morgen als Hominiden aufzuwachen, und zu ihrem Entsetzen festzustellte, daß ihnen die die Selbstzerfleischung unterbindende Instinktsteuerung abhanden gekommen war. Das Problem liegt in der Ambivalenz des mimetischen Verhaltens. Die gute Mimesis, die lernende etwa, war unverzichtbar schon für die Primaten, umso mehr ist sie für die Menschen, bei denen es schon bald um den Erwerb von Sprache und der daran anschließenden Kulturtechniken gehen wird. Als kaum beherrschbar aber erweist sich die begehrende Mimesis. Der Mensch kennt sein Begehren nicht, orientiert sich am Begehren der anderen. Die Konflikte am gemeinsamen Objekt des Begehrens sind unausweichlich, der Hominidenclan steuert auf die Selbstauslöschung zu. In dieser Situation entsteht als Notmaßnahme angesichts der scheiternden Geburt des Menschen das Sakrale als Gewalt, La Violence et le sacré. Ein Unschuldiger, Pharmakos oder Sündenbock, wird als Schuldiger bestimmt und einmütig geopfert, die Spannungen in der Gruppe sind für den Augenblick befriedet. Das zehnte und letzte Gebot aber erweist sich langfristig als das erste, den anderen vorgelagert: Du sollst nicht begehren. Das Alte Testament setzt auf Gesetz und Gebot, das Neue auf das Beispiel, die Imitatio oder Mimesis Christi. Girard führt vor, wie schon das Alte Testament vorbereitend mit Erzählungen arbeitet, die den archaischen Mythen mit ihrer Bestätigung und zugleich Verhüllung des Opfermordes äußerlich ähneln, ihren Sinn aber in die genaue Gegenrichtung umkehren, so etwa die Erzählung von Joseph und seinen Brüdern: der von der Gemeinschaft der Brüder einmütig als schuldig bestimmte unschuldige Joseph wird, entgegen aller Mythenlogik, als unschuldig erkannt. La crucifixion, enfin, réduit la mythologie à l'impuissance en révélant la contagion dont l'efficacité trop grande dans les mythes empêche les communautés de répéter jamais la vérité, à savoir l'innocence de leurs victimes. Die Heilige Schrift ist bereits die Entmythologisierung, versteckt nur hinter einem dünnen traditionellen Schleiergewand mythologischen Zuschnitts, und Bultmanns nächstfolgender Entmythologisierung nicht bedürftig, die sogenannte Anpassung an unsere Zeit kann entfallen. Das Evangelium hat uns alle notwendigen Hinweise gegeben, seither sind wir frei und können weitere Unterstützung nicht erwarten. Achever la résurrection: soviel in aller Girard kaum gerecht werdenden Kürze.
Die Geburt Christi ist nicht zur zweiten Geburt des Menschen geworden. Daß die Menschen dem Beispiel Christi in der Entlarvung der Gewalt folgen, hat die Kirche nicht bewerkstelligen können, le christianisme historique a échoué. Der aufgeklärte Humanismus ist davon zunächst nicht beeindruckt, aber: L'épanouissement humaniste attendu d'un désir enfin pleinement libéré ne se vérifie jamais. Tatsächlich ist vor dem Hintergrund der Mimesistheorie schwer zu sehen, wie das vorgeblich befreite, tatsächlich aber in seine Begierden entlassene Individuum zum Heil führen soll. Selbstverwirklichung, ob dieser Denkfigur konnte bereits Luhmann, dem es ja so leicht nicht die Sprache verschlug, nur ratlos den Kopf schütteln. Wenn Luhmann notiert, die Imitationskonflikte im Sinne Girards seien in der modernen Gesellschaft entfallen, stattdessen würden Behinderungen des Begehrens als Folge eines Mangels an Kaufkraft erlebt, so ist das wohl ein wenig leger formuliert. Die Imitationskonflikte sind nicht entfallen, sondern durch eine immerfort aber vermutlich nicht endlos wachsende Kaufkraft fürs erste anästhesiert, die Suchtfolgen sind bereits unverkennbar. Der Mythos lebt fort in den Institutionen, im Rahmen eines offen konfliktuellen Wirtschaftssystems kann die Nachfolge Christi keinen Raum gewinnen. Die Genozide des zwanzigsten Jahrhunderts, alle haben es bemerkt, hatten Sündenbockcharakter, daß sie im laufenden Jahrhundert entfallen könnten, war ein Traum, aus dem wir gerade aufwachen. Luhmann hat über alle denkbaren Sparten der Gesellschaft eine Monographie verfaßt, die Armee der Gesellschaft aber ausgespart, Clausewitz wurde nicht zu Ende gedacht, bevor Girard sich der Sache annahm. Zwar ist mittlerweile richtig, notre société est la plus préoccupée de victimes, qui fut jamais, le phénomène est sans précédent, mais il n'est qu'une vaste comédie.
Mit dem zentralen Begriff Girards, der Mimesis, war Sebald, das kann man voraussetzen, in der Fassung Adornos vertraut, auf Pisanello schaut er wohl auch mit Adornos Augen, wenn er dort sieht, daß allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Den Menschen und den Vögeln und allem anderen die gleiche Daseinsberechtigung: geleitet davon versucht Selysses sich an der Exegese der Heiligen Schrift: Hinter einem niedrigen Elektrozaun lagerte eine an die hundert Stück zählende Schweineherde, und ich näherte mich einem der schweren, bewegungslos schlafenden Tiere. Ich fuhr ihm mit der Hand über den staubbedeckten Rücken, strich ihm über den Rüssel und das Gesicht und kraulte ihm die Kuhle hinter dem Ohr bis es aufseufzte wie ein von endlosen Leiden geplagter Mensch - Selysses erinnert all das an die Geschichte, die der heilige Evangelist aus der Gegend der Gadarener erzählt, als der Herr den bösen Geistern befiehlt, herauszufahren aus dem Tobsüchtigen und hinein in die Säue, die, zweitausend an der Zahl, sich von dem Abhang hinabstürzen und ersaufen in der Flut. Offenbar ist unserem Herrn bei der Heilung des Gadareners ein böser Kunstfehler unterlaufen. - Selysses hat sich die vielleicht abstoßendste Episode des Evangeliums ausgesucht, zweitausend fraglos Unschuldige werden bedenkenlos für einen möglicherweise Unschuldigen geopfert. Girard schließt die Episode naturgemäß von seinen Demonstrationen aus, zeigt aber an anderer Stelle, daß er den Impetus Selysses' durchaus teilt: Les psaumes nous font penser à un homme, qui aurait l'idée saugrenue de porter une magnifique fourrure à l'envers et qui, au lieu de rayonner de luxe, de calme et de volupté, nous montrerait la peau sanglante des bêtes écorchées vives. Toute cette splendeur, on verrait alors que c'est à la mort de créatures vivantes qu'on la doit.
Weitere Bibelarbeit im engeren Sinne leistet Selysses nicht. Die Menge meidet er, als fürchte er, ihr Opfer zu werden. Daß der heilige Franz mit dem Gesicht nach unten im Brackwasser treibt, kann ihm nicht gefallen, er läßt ihn wiederauferstehen in der Gestalt des ständig vom Geflügel unterschiedlichster Art umschwärmten Majors Le Strange. Wer wollte bestreiten, daß das immer unschuldiger werdende Leben der Ashburys in einer Art verborgener Imitatio Christi verläuft. Der Selbstvorwurf des Dichters, nicht auf immer bei ihnen geblieben zu sein, um dieses Leben zu teilen, ist ernst zu nehmen. Sebalds Helden sind nicht auf Selbstverwirklichung aus, die Dämpfung des Begehrens ist allenthalben spürbar. Stendhal zieht letztendlich die von ihm selbst erdachte Mme Gherardi den leibhaftigen Geliebten vor. Kafka erläutert in der Wasserheilanstalt des Dr. Hartung in Riva der in ihn verliebten Schweizerin die Theorie der körperlosen Liebe. Selysses' Trauung mit Luciana Michelotti fällt in eins mit dem Augenblick ihres Verschwindens: sie strahlte, legte den Gang ein und fuhr davon. Das Begehren liegt nur noch als milder Schimmer über dem Land. An anderer Stelle erleben wir das Schwinden des auf die Güter gerichteten Begehrens: Mehr als alles andere aber zeichnete ihn aus eine Bedürfnislosigkeit, von der manche behaupteten, daß sie ans Exzentrische grenzte. In einer Zeit, wo die meisten Leute zu ihrer Selbsterhaltung in einem fort einkaufen müssen, ist er praktisch überhaupt nie zum Einkaufen gegangen.
Das kleine Bild ist in der oberen Hälfte fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Darunter zieht sich von einem Bildrand zum andern ein Saum dunkelgrüner Baumwipfel. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Nous voyons Satan tomber comme l'éclair, und als Kriechtier am Boden hat Georg den Satan erstochen. Der Herr der Finsternis, der nichts anderes ist als das Prinzip der schlechten Mimesis, macht aber selbst im Tode noch einen vitalen Eindruck. Il ne faut pas en conclure que les hommes vont tout de suite être débarrassés de leur prince aujourd'hui déchu. Achever Clausewitz: der preußische Offizier ist zu Ende gedacht aber nicht erledigt. Als Major George Le Strange muß der heilige Georg dann noch ein weiteres Mal ausrücken in Bergen Belsen, bevor er sich in den heiligen Franz verwandeln kann. Wir treffen in dann noch einmal als den Zirkuskünstler Giorgio Santini. Das Prinzip der Kunst ist die gute Mimesis, schwerlos vergeht denn auch die Zeit in der Gesellschaft des Artisten und seiner Familie.