Donnerstag, 11. September 2014

Darstellende Kunst

Pas de théâtre chez les juifs


Anders als viele seiner Gefährten, man denke an den kleinen Marcel P., sieht man Selysses als Kind nie über ein Buch gebeugt, sein selbst und der Welt vergessen. Die Einführung in die Wortkunst erfährt er auf dem dramatischen Weg anläßlich einer Aufführung von Schillers Räubern im Gasthof des Heimatortes. So eindrucksvoll das Erlebnis war - immer hatte er damals in die Handlung eingreifen und die Amalia mit einem einzigen Wort darüber aufklären wollen, daß sie, um sich aus dem staubigen Kerker in das Paradies der Liebe zu versetzen, wie sie es sich doch wünschte, bloß die Hand hätte ausstrecken müs- sen -, so wenig prägend ist es geworden. Soweit für den Leser ersichtlich, hat der Dichter nicht oft mehr ein Theater betreten. Auf einer kleinen Bühne in Berlin, unweit des Schlesischen Tors, sieht er auf einer kleinen Bühne ein Dramenfragment von Jakob Michael Reinhold Lenz und glaubt Catherine Ashbury als Catharina von Siena zu erkennen. Dem Gesangstheater verweigert sich der Dichter, in Verona einer Inszenierung von Verdis Aida, in Bregenz einer Inszenierung von Verdis Nabucco. Vertrauter ist ihm das Lichtspieltheater, allerdings nicht immer auf der Ebene herausragender Filmkunstwerke.
Am wenigsten handelt es sich um Filmkunstwerke unserer Tage. Die ausführlichste Behandlung findet ein Stummfilm, den Kafka möglicherweise gesehen hat, die Geschichte des glücklosen Studenten von Prag. In der Titelfigur namens Balduin hat Kafka zweifellos seinen Doppelgänger erkannt. Schon in einer der ersten Szenen stellt sich Balduin, der beste Fechter von Prag, seinem eigenen Spiegelbild, und bald darauf tritt dieses zu seinem Entsetzen aus dem Rahmen, um fortan als Gespenst seiner Friedlosigkeit mit ihm umzugehen, gerad so wie in der Beschreibung eines Kampfes die Hauptfigur zu ihrem Gegner die allerintimste selbstzerstörerische Beziehung unterhält. Und was bleibt einem derart in die Enge Getriebenen anderes, als zu versuchen, des stillen Kompagnons sich zu entledigen durch einen Pistolenschuß. Von seiner Wahnvorstellung befreit, atmet Balduin auf und spürt zugleich, wie die Kugel ihm durch die eigene Brust gedrungen ist. Kaum jüngeren Datums ist Fritz Langs Film zum Schicksal der Nibelungen, der zur äußerlichen Charakterisierung Austerlitz' herangezogen wird: Ein beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewellten Haar, wie ich es sonst nur gesehen habe an dem deutschen Helden Siegfried in Langs Nibelungenfilm. Austerlitz steht uns daraufhin plastisch vor Augen, wer sich aber darüber hinaus eine kritische Stellungnahme des Dichters zu Langs Film erhofft hatte, sieht sich enttäuscht. Cosmo Solomon wird ein ebenfalls älterer, nicht genauer identifizierbarer deutscher Film zum Verhängnis. Aus dem Bühnenhintergrund tauchte das Trugbild einer Oase auf. Eine Karawane kam aus einem Palmenhain hervor auf die Bühne und von dort in den Saal herunter, um mitten durch die voller Erstaunen ihre Köpfe wendenden Zuschauer hindurchzuziehen und so spukhaft, wie sie erschienen war, wieder zu verschwinden. Er, so Cosmo Solomon, habe mit dieser Karawane den Saal verlassen und könne nun nicht mehr sagen, wo er sich befinde. Annäherung an die moderne Filmkunst wird mit dem Hinweis auf Fellinis Erinnerungsfilm erreicht: Die Modistin Valerie Schwarz besaß trotz ihrer geringen Körpergröße eine Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat. Damit ist zweifellos ein für Fellini charakteristischer Take angesprochen, ein tieferes, gar umfassendes Verständnis des Films aber erschließt sich nicht.
Das Spielfilmgenre wird ergänzt durch das Genre der Dokumentar- und Amateurfilme. Bei Nacht, schien es in dem 1936 gedrehten Film, wurden die Netze ausgebracht, und bei Nacht wurden sie wieder eingeholt. Der Kapitän steht am Steuer und blickt verantwortungsbewußt in die Ferne. Zuletzt das Löschen der Ladung, die Arbeit in den Hallen. Dann nehmen die Güterwagen der Eisenbahn, so heißt es im Kommentar, den ruhelosen Wanderer des Meeres auf, so wie ganz ähnliche Wagen den ewigen Wanderer zu Lande, um ihn an die Stätten zu bringen, wo sich sein Schicksal auf dieser Erde endgültig erfüllen wird. Und schließlich: I have set up the projector in the library. Das Licht ging aus, der Apparat fing an zu rattern. Man überblickte im Halbrund das umliegende Land, nirgends zeigten sich Spuren der Vernachlässigung. Die Fahrwege waren mit Sand bestreut, die Hecken geschnitten, die Beete säuberlich ausgerichtet. Es war ein wunderschöner Tag, sagte Mrs. Ashbury, das Tauffest Edmunds. Ein Dienstmädchen mit einer Haube auf dem Kopf erschien unter der Tür und hielt gegen die Sonne eine Hand vor die Augen. Als der letzte Streifen zu Ende war, herrschte eine lange Zeit Stille.
Tous amateurs du théâtre et de trompettes de théâtre sont héritiers spirituels des Grecs, pas de théâtre chez les juifs: der Dichter ist in dieser Frage von nicht geringem Gewicht auf Seiten der Juden, ganz besonders sie, in Zebraanzüge gekleidet, mag er auf der Bühne nicht sehen. Das Sprechtheater scheint fast vergessen, das Musiktheater wird gemieden und auch das Lichtspieltheater wird alles in allem stiefmütterlich behandelt, der Dichter wählt nur periphere Zugänge. Was bleibt, ist eine Nachwirkung der Räubervorstellung im Engelwirt dahingehend, daß es den Zuschauern weiterhin schwerfällt, zwischen Bühne und Parkett, dem Geschehen auf der Leinwand und dem eigenen realen Erleben klar zu trennen. Catherine Ashbury ist Catharina von Siena, Kafka erkennt sich wieder in dem unglücklichen Balduin, Cosmo wird gar verschleppt von der Karawane, die durchs Bild zieht. Austerlitz und Valerie Schwarz führen ein Doppelleben im Kinofilm. Den Heringen geschieht Grauenhaftes, wie es auch Menschen geschehen ist. Die Ashburys sehen sich als glückliche Gespenster ihrer selbst, Gespenster, die ihnen möglicherweise realer vorkommen als alles, was danach kam.

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