Samstag, 13. Dezember 2014

Künstlerkolonie

Ewigkeitsaugenblick

Als Selysses auf dem Weg von Oberjoch nach Wertach einhält in der Krummenbacher Kapelle, geht er ein weiteres Mal der von ihm seit langem gehegte Vorstellung nach, daß Tiepolo, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, sich in Zirl entschlossen hat, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen. Und er sah den Tiepolo, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegen mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur eintragen in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild. Mit solcherlei Phantasien im Kopf fragt er sich auch, ob der Maler der vierzehn kleinen Kreuzwegstationen in der Kapelle sich vielleicht in der Winterzeit desselbigen Jahres mit seiner ungeschickten Hand nicht weniger mühte als Tiepolo an seinem großen Deckengemälde. Da ist ein Raum aufgetan für eine riesige Künstlerkolonie unterschiedlichster Begabungen. Sebald hat den handwerklichen Anteil an der Kunst und zumal an der bildenden Kunst geschätzt, und so ist die Mühe der beiden Maler an den Enden der Begabungsskala nicht die gleiche. Tiepolo hatte keine Mühe mit der Kunst, wohl aber bei zunehmenden Alter mit den schwierigen Bedingungen des Handwerks, dem Krummenbacher fiel das Handwerk eher leicht, um die Kunst aber mühte er sich vergebens.
Die Zahl der im Werk auftretenden Maler ist kaum geringer als die der Dichter und Literaten, Christian Wirth, der sie alle sorgfältig dokumentiert und kommentiert hat, zählt mehr als dreißig. Wie der Schnee auf den Alpen und Aurach haben einen Maler als Protagonisten. Bei den sonst noch erscheinenden Malern ist die Behandlung anders als bei den Dichtern. Bei den Dichtern, Stendhal, Kafka, Conrad, Chateaubriand und den anderen, richtet sich das Augenmerk auf ihr Leben oder eine Episode ihres Lebens, weniger auf ihr Werk, bei den Malern ist der kurze Blick auf den alternden Tiepolo unterwegs nach Würzburg fast schon die Ausnahme. Auch auf Turner fällt ein kurzer Blick in der Zeit, in der er kaum noch reisen konnte und mehr und mehr umging mit dem Gedanken an seine Sterblichkeit. Die Beschwerden des Alters scheinen bei den bildenden Künstlern, den Handwerkern, spürbarer als bei den Dichtern, ähneln ihre Arbeitsbedingungen, wie im Fall Tiepolos, oft doch fast schon denen der Weber, die fast ein ganzes Leben eingeschirrt gewesen sind in die aus hölzernen Rahmen und Leisten zusammengesetzten, mit Gewichten behangenen und an Foltergestelle erinnernden Webstühle. Andererseits macht man sich nicht leicht einen Begriff davon, in welche Ausweglosigkeit und Abgründe das ewige, nie aufhörende Nachsinnen und das bis in die Träume hineindringende Gefühl, den falschen Faden erwischt zu haben, auch die Dichter bisweilen treiben kann.
Giotto, der mit der lautlosen Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird, einen wichtigen Grundakkord anschlägt, bleibt selbst unsichtbar. Auch Pisanello, der uns die Geschichte des heiligen Georgs in Bildern erzählt, tritt selbst nicht in Erscheinung. Ähnlich verhält es sich mit Rembrandt, der mit der Prosektur des Dr. Tulp das Scheitern der Moderne erahnt. Der Bewohner der Künstlerkolonie kann auch ganz ungenannt bleiben: Eine halbe Stunde vielleicht fuhr ich, um mich zu orientieren, in der Stadt und den Vororten herum, ehe ich in einer Seitenstraße vor einem Gebäude hielt, das still erleuchtet gleich dem noch von niemandem betretenen Empire des Lumières in seinem dunklen Garten stand. - Wer notiert schon bei einem normalen Lesevorgang, daß Empire des Lumières ein Werk von Magritte meint. Immerhin ist der Name des Bildwerkes genannt, die Entleihungen bei den Dichterkollegen sind oft völlig lautlos. Wenn Austerlitz bei der Abfahrt aus Prag vom Flattern der, gleich dem einer auffliegenden Taubenschar, weißen Taschentücher berichtet und von dem seltsamen Eindruck, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei, so erinnern sich nur profunde Kenner Kafkas sogleich der Stelle in dessen Tagebuch, die hier variiert wird. Ein Sprachgebilde kann hinweislos mit dem Teil eines anderen verschmelzen, mit der Gefahr, die wohl eher ein Wunsch ist, entdeckt zu werden. Der Diebstahl, schreibt Calasso, ist die schönste Hommage eines Dichters an einen anderen. Gleiches ist mit einem Bild nicht möglich, ein Bild, auf das nicht auf die eine oder andere Art hingewiesen wird, ist nicht vorhanden im Text und kann in ihm nicht aufgefunden werden.
Nicht wenige Dichter sind auch als Maler hervorgetreten, Hugo, Keller, Weiss, niemand verwundert die Präsenz der bildenden Kunst in der Ästhetik des Widerstands. Auf welchem Gelände aber hat Sebald seine Künstlerkolonie eingerichtet, wer wurde ausgewählt, denn es sind letzten Endes doch nur wenige, überwiegend alte Meister und in jedem Fall gegenständlich, mit Ausnahme vielleicht Novellis, dessen Reihen aus dem Buchstaben A für das Verstummen von Wort und Bild stehen. Der Dichter erklärt sich: Das ist das Schöne an Kunstwerken, aus denen die Zeit verschwunden ist. Das ist es, was uns berührt, wenn wir ein Museum besuchen und ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert sehen. Es ist eine Momentaufnahme für immer. Um es pathetisch auszudrücken: Es ist eine mit sehr geringen Mitteln gemachte Reflexion der Ewigkeit. - Die Zeit ist verschwunden und zugleich verwahrt im Ewigen. Zugrundegelegt ist das religiöse Vorstellungsmuster von irdischer Verlaufszeit und göttlicher Ewigkeit. Naturgemäß ist das keine Spezialität des 17. Jahrhunderts, das nur exemplarisch genannt ist. Bei Giotto, 13./14. Jahrhundert, überlagern sich im nun schon siebenhundert Jahre andauernden Augenblick der Klage der Engel das religiöse und das künstlerische Muster, bei Valckenborch, 16. Jahrhundert, ist es ein triviales weltliches Augenblicksgeschehen, das niemals vergehen will, so als sei die kanariengelbe Dame gerade jetzt erst gestürzt oder in Ohnmacht gesunken, die schwarze Samthaube eben erst seitwärts von ihrem Kopf weggerollt, als geschähe das kleine, von den meisten Betrachtern gewiß übersehene Unglück immer wieder von neuem, als höre es nie mehr auf und als sei es durch nichts und von niemandem mehr gutzumachen.

Im siebten Kapitel der Ringe des Saturn berichtet Anne von einem Traum, in dem sie eine Landschaft mit einer ungeheuren Schärfe wahrgenommen habe: Bis in die kleinsten, unmöglich wiederzugebenden Einzelheiten und mit vollkommener Klarheit sah ich den Wald, der draußen vorüberglitt, die winzigen Blütenstände der Moospolster, die haarfeinen Halme des Grases, die zitternden Farne und die gerade aufragenden grauen und braunen, glatten und borkigen Stämme der Bäume. Und schließlich, als vermöchte sie allein mit der Intensität des Traumbildes nicht zurechtzukommen, lehnt sie sich an ein Kunstwerk an: Darüber, in einer Höhe, in die das Auge kaum mehr vordrang, schwankten Palmenwipfel, deren fein gefiederte und gefächerte Zweige von jenem unergründlichen, scheinbar mit Gold oder Messing unterlegten Schwarzgrün waren, in dem die Kronen der Bäume in den Bildern Leonardos gemalt sind. Die Wahrnehmung des Dichters ist von der Traumerzählung auf das Äußerste wachgerufen, und im schwachen Schein, der von einem der Wohnzimmerfenster auf das ummauerte Brunnenloch fiel, sieht er mit einem bis in die Haarwurzeln gehenden Erschauern, wie ein Schwimmkäfer auf dem Spiegel des Wassers ruderte von einem dunklen Ufer zum anderen. Schon zuvor, in einem Hotel in Amsterdam, hatte er uns mit seiner Sprachkunst, ohne Unterstützung durch einen Maler, an einem ganz ähnlichen Ewigkeitsaugenblick teilnehmen lassen: Im Schutz der niederhängenden Zweige einer Trauerweide sah ich ein Entenpaar reglos auf der von grasgrüner Grütze ganz und gar überzogenen Fläche des Wassers. Mit solch vollkommener Klarheit ist dieses Bild auf einen Sekundenbruchteil aufgetaucht aus der Dunkelheit, daß ich jetzt noch jedes einzelne Weidenblatt, die feinsten Schattierungen im Gefieder der beiden Vögel, ja sogar die Punkte der Poren der über ihre Augen gesenkten Lidhaut zu sehen vermeine.
Der Maler der Krummenbacher Kreuzwegbildchen ähnelt dem letzten Geretteten in Darstellungen der Divina Commedia, der von einem barmherzigen Engel mit knapper Not vor dem Sturz ins Höllenfeuer bewahrt wird. Warum, fragt sich der Betrachter, widerfuhr Barmherzigkeit nicht auch noch dem nächsten, der gerade schon seinen Flug abwärts in den Schlund begonnen hat. Nicht alle aber können aufgenommen werden in die Künstlerkolonie, und niemand rettet den Maler Hengge vor dem Zorn des Dichters. Wenn er nach seinem eigenen Kunstsinn sich richten konnte, so hatte Hengge nichts als Holzerbilder gemalt. Es ist aber wohl nicht die monothematische Besessenheit, die ihm zum Verhängnis wird, man denke an den zu Recht vielgeliebten Morandi, der fast gänzlich auf Flaschen und Krüge kapriziert war, auch am Holzknecht läßt sich schließlich das Wesen der Welt bedenken. Und so sind es eher die Abweichungen vom Thema, die monumentalen Wandgemälde, wie das an der Raiffeisenbank angebrachte Fresko einer Schnitterin, die Hengge zum Verhängnis werden. Das im Hintergrund der Schnitterin dargestellte Erntefeld sei ihm als Kind, so der Dichter, immer wie ein entsetzliches Schlachtfeld vorgekommen und es habe ihn derart geängstigt, daß er beim Vorübergehen immer die Augen abwenden mußte.

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