Montag, 29. Dezember 2014

Il Santone Saltante

Eigentlichkeit

Auf der linken Tafel des Altars der Pfarrkirche von Lindenhardt tritt uns der heilige Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten: reicht ein einfacher Schritt oder bedarf es eines beherzten Sprungs? Auch das Fresko in der Chiesa Sant' Anastasia hat San Giorgio, als wir ihn zu Gesicht bekommen, schon so gut wie verlassen, er ist, wie man sagt, auf dem Sprung, die sieben Begleiter, darunter ein kalmückischer Bogenschütze, sind schon ungeduldig, Giorgios Blick ist, im Bann der ihn erwartenden blutigen Arbeit, nach innen gerichtet. Auf Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia in der Londoner Nationalgalerie herrscht, unter der Obhut der Jungfrau mit dem Erlöserkind, ein Gleichgewicht, das für die Ewigkeit bestimmt scheint, in Wahrheit aber hat Giorgio, in seiner herzbewegenden Weltlichkeit, sich schon längst entfernt. Der Strohhut auf dem Kopf weist in die ferne Zukunft unserer Gegenwart, in der er als Giorgio Santini - kein Santo, geschweige denn ein Santone, sondern nurmehr ein Santino - mit dem nämlichen Hut in der Hand im deutschen Konsulat zu Mailand in Begleitung seiner Frau, seiner drei Töchter und seiner Schwiegermutter wartet, worauf, erfahren wir nicht.

In Sebalds Werk hat der heilige Georg seinen ersten Auftritt auf Grünewalds Altarbild, in der chronologischen Abfolge des Geschehens aber konnte er ein Heiliger mit Nothelferstatus erst nach der Erledigung des Drachen werden. Wieso aber rechtfertigt die Tötung des Drachen eine Heiligsprechung, das Erschlagen von Monstren ist nicht das Brot der Heiligen, sondern, Roberto Calasso weist nachdrücklich darauf hin, das Brot der Heroen, wenn schon ein Santo, dann ein Santone. Tatsächlich wirkt Georg bei Grünewald so, als gehöre er nicht zu dieser Gesellschaft, als habe er sich verlaufen, als sei er nur zufällig zu den Heiligen gestoßen, als müsse er einem Mißverständnis baldmöglichst ein Ende setzen.

Wir sehen Giorgio in Verona bei der Vorbereitung des Feldzugs und dann wieder in London, als der Drache, ein geringeltes, geflügeltes und eher harmlos wirkendes Tier, das sein Leben bereits ausgehaucht hat, ihm zu Füßen liegt. Der galoppierende Giorgio, die Lanze im Anschlag oder bereits versenkt in den Leib des Untiers, ist übersprungen, das Eigentliche, die Jagdszene, fehlt. Ist San Giorgio eine auffällige Erscheinung in einem Buch, das ansonsten keine Sprünge kennt und voller Eigentlichkeit ist? Davon kann naturgemäß keine Rede sein. In der Ortschaft W. allerdings, am Ende der hohen Friedhofsmauer, durchbohrt der heilige Georg in stumpfer Eigentlichkeit dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier ohne Unterlaß mit seinem Spieß den Rachen.

In den Schwindel.Gefühlen springt die Erzählung von Stendhal zu Selysses, zu Kafka und wieder zu Selysses. Sie springt in zwei großen Sprüngen vom Jahr 1813, als Napoleons Untergang sich anbahnt Stendhal sich in einer anhaltend elegischen Stimmung befand, zum Jahr 1913, einem besonderen Jahr, als die Zeit sich wendete, und wie eine Natter der Funken die Zündschnur entlang lief, und von da zum Jahr 2013, als die Zeit zu einem Ende kommt. Die blutige Arbeit der großen Kriege wird übersprungen. Selysses ist immer auf dem Sprung, von zuhaus nach Wien, nach Venedig, Verona, zurück über den Brenner, wieder nach Venedig &c. Die Sprünge scheinen ein Eigentliches zu verbergen, San Giorgio hat den Drachen getötet, die Weltkriege haben stattgefunden. Gern auch würden wir uns eine Begriff machen von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht, so wie Tiepolo ihn hatte und im Bilde ausmalen konnte. Oder müssen wir mehr auf das achten, was wir unter unseren Füßen spüren, von dorther scheint der Jäger Gracchus immer wieder aufzutauchen und auch der heilige Georg, den es dann aber nach oben zieht. Als Giorgio Santini ist es ein leichtes für ihn, eine Eierspeise auf dem Hochseil anzurichten, doch seine Kunst ist leer, das Omelette ist nicht zum Verzehr bestimmt. Wenn wir aber wählen müssen zwischen Giorgio Santini in Mailand und dem heiligen Georg in W., dessen Spieß sich längst in der stumpfen Eigentlichkeit des Drachen festgebohrt hat, fällt die Entscheidung nicht schwer. Schwindelgefühle allerdings sind das letzte, was ein Hochseilartist sich leisten kann. Als Selysses nach dem Verlassen des Konsulats die oberste Galerie des Mailänder Doms besteigt, ist ihm nicht klar im Kopf. Noch scheint er nicht bereit für den artistischen Umgang mit dem Nichts. 

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