Frères, Братья
Wer an Kain und Abel denkt, an Romulus und Remus und an nicht wenige andere dieser Art, muß sich fragen, was mit dem Aufruf zur Brüderlichkeit, fraternité, alle Menschen werden Brüder, gemeint sein mag, es hört sich an wie ein Fluch. Die Dichter erleben das Bruderthema sehr unterschiedlich. Nabokow erwähnt in seiner Autobiographie den Bruder Sergej oft und fast immer mit Hinweis auf den Altersunterschied. Ich war sechs, mein Bruder fünf, ich war acht, mein Bruder sieben, mein Bruder war neun, ich zehn: so als sei es verwunderlich, daß der Abstand sich nicht verändert, daß es nicht gelingt, den Bruder abzuschütteln, ich war nun zwölf, mein ein Jahr nach mir geborener Bruder gerade einmal sechs. Er gesteht: Irgendeine Art von Freundschaft gab es nicht zwischen uns beiden, und es kommt mir vor, als könne ich meine ganze Kindheit und Jugend beschreiben, ohne ihn, Sergej, auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Modiano hat seine ersten fünf, sechs Bücher dem noch im Kindesalter verstorbenen Bruder Rudy gewidmet. Remise de peine schildert eine Episode aus der gemeinsamen Kindheit, Rudy ist kaum präsenter als Serescha in Nabokows Autobiographie. In Un Pedigree, Modianos Autobiographie seiner Kindheit und Jugend, heißt es dann aber: À part mon frère Rudy, sa mort, je crois rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Das ist ein himmelweiter Unterschied zu dem, was Nabokow verlauten läßt. Im Hause Nabokow verkehrt eine endlose Reihe von Gouvernanten und Hauslehrern, die aber für keinen Augenblick das enge Verhältnis zu den Eltern stören. Patoche und Rudy wachsen auf in den unterschiedlichsten Betreuungsverhältnissen an unterschiedlichen Orten, in Internaten und in der Obhut zwielichter Gestalten. Sie fühlen sich abgeschoben, von den fast immer abwesenden Eltern nicht geliebt und bilden eine Art Notgemeinschaft, sie sind mehr als nur Brüder, sie ersetzen einander die Mutter und den Vater. Über Nabokows Bericht liegt ein Hauch von Kain, Modiano nährt die Hoffnung auf eine glückliche Füllung des Begriffs der Brüderlichkeit.
Längst wäre es an der Zeit den Begriff der Brüderlichkeit durch den Begriff der Geschwisterlichkeit zu ersetzen. Sebald hatte keinen Bruder und er hat auch keine Autobiographie geschrieben. Ritorno in Patria kommt einer Autobiographie seiner Kindheit recht nahe, verschweigt aber neben den Eltern auch die Schwester. Auch sonst treten Brüder und Schwestern kaum in Erscheinung. Ambros Adelwarth hat sieben ältere Schwestern, über seine Kindheit aber läßt sich zusammenfassend nur sagen, daß er keine Kindheit gehabt hat, Schwestern in gewissem Sinne also auch nicht. Das vielleicht schönste geschwisterliche, allerdings nicht auf Blutsbanden beruhende Verhältnis ist das von Mme Landau erinnerte zwischen ihr und dem Schulfreund Ernest. Ähnlich läßt sich das Verhältnis von Austerlitz zu Adela in Andromeda Lodge sehen.
Zwillinge vor allem, aber auch Brüder und Geschwister ganz allgemein stehen für René Girards in einer die begehrende, konfliktträchtige Mimesis in besonderem Maße begünstigenden Konstellation. Kain ist die Regel, auch wenn es zu der Kainstat in den allermeisten Fällen nicht kommt. Brüderlichkeit kann nicht als eine Ausweitung des brüderlichen Blutsverhältnisses gedacht werden. Die Blutsbande unter Blutsbrüdern beruht nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern, Karl May hat es uns schon früh gelehrt, auf einem chirurgischen Eingriff. Naturgemäß aber kann auch unter blutsverwandten Brüdern ein brüderliches Verhältnis entstehen.
Der Dichter hat zu seinen Figuren, zu Bereyter, Austerlitz und den anderen, ein, so kann man sagen, brüderliches Verhältnis. Es sind aber nur wenige Auserwählte, längst nicht alle Menschen werden Brüder. Bevorzugt ausgeschlossen sind, neben vielen anderen, die Touristen und Feriengäste, die Hundsmenschen auf dem Bähnlein in Somerleyton, die buntfarbene Menschenmasse, die sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Ortes schiebt, lauter Lemurengesichter, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, die ungezählten Männer und Frauen draußen auf dem Vorplatz, die in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum liegen. Einen übergreifenden Plan zur Erlösung der Menschheit auf der Basis von Brüderlichkeit verfolgt der Dichter nicht.
Wer an Kain und Abel denkt, an Romulus und Remus und an nicht wenige andere dieser Art, muß sich fragen, was mit dem Aufruf zur Brüderlichkeit, fraternité, alle Menschen werden Brüder, gemeint sein mag, es hört sich an wie ein Fluch. Die Dichter erleben das Bruderthema sehr unterschiedlich. Nabokow erwähnt in seiner Autobiographie den Bruder Sergej oft und fast immer mit Hinweis auf den Altersunterschied. Ich war sechs, mein Bruder fünf, ich war acht, mein Bruder sieben, mein Bruder war neun, ich zehn: so als sei es verwunderlich, daß der Abstand sich nicht verändert, daß es nicht gelingt, den Bruder abzuschütteln, ich war nun zwölf, mein ein Jahr nach mir geborener Bruder gerade einmal sechs. Er gesteht: Irgendeine Art von Freundschaft gab es nicht zwischen uns beiden, und es kommt mir vor, als könne ich meine ganze Kindheit und Jugend beschreiben, ohne ihn, Sergej, auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Modiano hat seine ersten fünf, sechs Bücher dem noch im Kindesalter verstorbenen Bruder Rudy gewidmet. Remise de peine schildert eine Episode aus der gemeinsamen Kindheit, Rudy ist kaum präsenter als Serescha in Nabokows Autobiographie. In Un Pedigree, Modianos Autobiographie seiner Kindheit und Jugend, heißt es dann aber: À part mon frère Rudy, sa mort, je crois rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Das ist ein himmelweiter Unterschied zu dem, was Nabokow verlauten läßt. Im Hause Nabokow verkehrt eine endlose Reihe von Gouvernanten und Hauslehrern, die aber für keinen Augenblick das enge Verhältnis zu den Eltern stören. Patoche und Rudy wachsen auf in den unterschiedlichsten Betreuungsverhältnissen an unterschiedlichen Orten, in Internaten und in der Obhut zwielichter Gestalten. Sie fühlen sich abgeschoben, von den fast immer abwesenden Eltern nicht geliebt und bilden eine Art Notgemeinschaft, sie sind mehr als nur Brüder, sie ersetzen einander die Mutter und den Vater. Über Nabokows Bericht liegt ein Hauch von Kain, Modiano nährt die Hoffnung auf eine glückliche Füllung des Begriffs der Brüderlichkeit.
Längst wäre es an der Zeit den Begriff der Brüderlichkeit durch den Begriff der Geschwisterlichkeit zu ersetzen. Sebald hatte keinen Bruder und er hat auch keine Autobiographie geschrieben. Ritorno in Patria kommt einer Autobiographie seiner Kindheit recht nahe, verschweigt aber neben den Eltern auch die Schwester. Auch sonst treten Brüder und Schwestern kaum in Erscheinung. Ambros Adelwarth hat sieben ältere Schwestern, über seine Kindheit aber läßt sich zusammenfassend nur sagen, daß er keine Kindheit gehabt hat, Schwestern in gewissem Sinne also auch nicht. Das vielleicht schönste geschwisterliche, allerdings nicht auf Blutsbanden beruhende Verhältnis ist das von Mme Landau erinnerte zwischen ihr und dem Schulfreund Ernest. Ähnlich läßt sich das Verhältnis von Austerlitz zu Adela in Andromeda Lodge sehen.
Zwillinge vor allem, aber auch Brüder und Geschwister ganz allgemein stehen für René Girards in einer die begehrende, konfliktträchtige Mimesis in besonderem Maße begünstigenden Konstellation. Kain ist die Regel, auch wenn es zu der Kainstat in den allermeisten Fällen nicht kommt. Brüderlichkeit kann nicht als eine Ausweitung des brüderlichen Blutsverhältnisses gedacht werden. Die Blutsbande unter Blutsbrüdern beruht nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern, Karl May hat es uns schon früh gelehrt, auf einem chirurgischen Eingriff. Naturgemäß aber kann auch unter blutsverwandten Brüdern ein brüderliches Verhältnis entstehen.
Der Dichter hat zu seinen Figuren, zu Bereyter, Austerlitz und den anderen, ein, so kann man sagen, brüderliches Verhältnis. Es sind aber nur wenige Auserwählte, längst nicht alle Menschen werden Brüder. Bevorzugt ausgeschlossen sind, neben vielen anderen, die Touristen und Feriengäste, die Hundsmenschen auf dem Bähnlein in Somerleyton, die buntfarbene Menschenmasse, die sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Ortes schiebt, lauter Lemurengesichter, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, die ungezählten Männer und Frauen draußen auf dem Vorplatz, die in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum liegen. Einen übergreifenden Plan zur Erlösung der Menschheit auf der Basis von Brüderlichkeit verfolgt der Dichter nicht.