Mittwoch, 22. April 2015

Brüder

Frères, Братья

Wer an Kain und Abel denkt, an Romulus und Remus und an nicht wenige andere dieser Art, muß sich fragen, was mit dem Aufruf zur Brüderlichkeit, fraternité, alle Menschen werden Brüder, gemeint sein mag, es hört sich an wie ein Fluch. Die Dichter erleben das Bruderthema sehr unterschiedlich. Nabokow erwähnt in seiner Autobiographie den Bruder Sergej oft und fast immer mit Hinweis auf den Altersunterschied. Ich war sechs, mein Bruder fünf, ich war acht, mein Bruder sieben, mein Bruder war neun, ich zehn: so als sei es verwunderlich, daß der Abstand sich nicht verändert, daß es nicht gelingt, den Bruder abzuschütteln, ich war nun zwölf, mein ein Jahr nach mir geborener Bruder gerade einmal sechs. Er gesteht: Irgendeine Art von Freundschaft gab es nicht zwischen uns beiden, und es kommt mir vor, als könne ich meine ganze Kindheit und Jugend beschreiben, ohne ihn, Sergej, auch nur ein einziges Mal zu erwähnen. Modiano hat seine ersten fünf, sechs Bücher dem noch im Kindesalter verstorbenen Bruder Rudy gewidmet. Remise de peine schildert eine Episode aus der gemeinsamen Kindheit, Rudy ist kaum präsenter als Serescha in Nabokows Autobiographie. In Un Pedigree, Modianos Autobiographie seiner Kindheit und Jugend, heißt es dann aber: À part mon frère Rudy, sa mort, je crois rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Das ist ein himmelweiter Unterschied zu dem, was Nabokow verlauten läßt. Im Hause Nabokow verkehrt eine endlose Reihe von Gouvernanten und Hauslehrern, die aber für keinen Augenblick das enge Verhältnis zu den Eltern stören. Patoche und Rudy wachsen auf in den unterschiedlichsten Betreuungsverhältnissen an unterschiedlichen Orten, in Internaten und in der Obhut zwielichter Gestalten. Sie fühlen sich abgeschoben, von den fast immer abwesenden Eltern nicht geliebt und bilden eine Art Notgemeinschaft, sie sind mehr als nur Brüder, sie ersetzen einander die Mutter und den Vater. Über Nabokows Bericht liegt ein Hauch von Kain, Modiano nährt die Hoffnung auf eine glückliche Füllung des Begriffs der Brüderlichkeit.

Längst wäre es an der Zeit den Begriff der Brüderlichkeit durch den Begriff der Geschwisterlichkeit zu ersetzen. Sebald hatte keinen Bruder und er hat auch keine Autobiographie geschrieben. Ritorno in Patria kommt einer Autobiographie seiner Kindheit recht nahe, verschweigt aber neben den Eltern auch die Schwester. Auch sonst treten Brüder und Schwestern kaum in Erscheinung. Ambros Adelwarth hat sieben ältere Schwestern, über seine Kindheit aber läßt sich zusammenfassend nur sagen, daß er keine Kindheit gehabt hat, Schwestern in gewissem Sinne also auch nicht. Das vielleicht schönste geschwisterliche, allerdings nicht auf Blutsbanden beruhende Verhältnis ist das von Mme Landau erinnerte zwischen ihr und dem Schulfreund Ernest. Ähnlich läßt sich das Verhältnis von Austerlitz zu Adela in Andromeda Lodge sehen.

Zwillinge vor allem, aber auch Brüder und Geschwister ganz allgemein stehen für René Girards in einer die begehrende, konfliktträchtige Mimesis in besonderem Maße begünstigenden Konstellation. Kain ist die Regel, auch wenn es zu der Kainstat in den allermeisten Fällen nicht kommt. Brüderlichkeit kann nicht als eine Ausweitung des brüderlichen Blutsverhältnisses gedacht werden. Die Blutsbande unter Blutsbrüdern beruht nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern, Karl May hat es uns schon früh gelehrt, auf einem chirurgischen Eingriff. Naturgemäß aber kann auch unter blutsverwandten Brüdern ein brüderliches Verhältnis entstehen.

Der Dichter hat zu seinen Figuren, zu Bereyter, Austerlitz und den anderen, ein, so kann man sagen, brüderliches Verhältnis. Es sind aber nur wenige Auserwählte, längst nicht alle Menschen werden Brüder. Bevorzugt ausgeschlossen sind, neben vielen anderen, die Touristen und Feriengäste, die Hundsmenschen auf dem Bähnlein in Somerleyton, die buntfarbene Menschenmasse, die sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Ortes schiebt, lauter Lemurengesichter, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, die ungezählten Männer und Frauen draußen auf dem Vorplatz, die in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum liegen. Einen übergreifenden Plan zur Erlösung der Menschheit auf der Basis von Brüderlichkeit verfolgt der Dichter nicht.

Montag, 13. April 2015

Andere Ufer


Flugkünste

Nabokow betitelt die russischen Fassung seine Autobiographie, die, wie er hervorhebt, keine bloße Übersetzung der ursprünglichen englischen Version Speak, Memory, sondern eine Neuschöpfung ist, mit Другие берега, Andere Ufer. Wenn mit den anderen Ufern die neuen Ufer der Emigration gemeint sein sollten, so hat Nabokow nicht zu ihnen aufbrechen wollen. Die Kindheit ist als Paradies dargestellt, zu dem Freud mit geradezu rüder Entschlossenheit der Zugang versperrt wird, nicht aussperren aber ließ sich die bolschewistische Revolution, die nicht nur als sinnlos und zerstörerisch, sondern, auf der Grundlage des eigenen Erlebens, als grundlos und geradezu als persönlicher Affront wahrgenommen wird. Wenn die Bauern auf dem Gut des Vaters eine besondere Bitte hatten, war sie auch schon so gut wie erfüllt, und in ritueller Dankbarkeit wurde der Vater daraufhin von ihnen mehrfach hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Un jour ils vont le laisser tomber, fürchtet die Gouvernante ohne Grund. Die Kinder, die noch in der ersten Etage beim Frühstück saßen konnten den Vater dann zwei-, dreimal jeweils für eine Sekunde in liegender Position hinter dem Fenster auftauchen sehen, wie er sich feierlich und gleichsam gemütlich auf dem Luftkissen ausstreckte. Sein weißer Anzug flatterte leicht im Wind, sein Gesicht war in stiller Ruhe zum Himmel gewandt, und in jeder Beziehung glich er den Himmelsbewohnern, die in ungezwungenen Posen und in wehenden Gewändern in den Deckengewölben der Kirchen den Sternen gleich schweben, während der Priester weit unten die Totenmesse liest. In einem schönen Schwenk hat der Dichter auf gottlosem Weg die alles umfassende, harmonische Einheit des heiligen Rußlands beschworen, die Knechte, der Herr, darüber das Himmelsgewölbe.
Soweit vorangeschritten in den eigenen Überlegungen war es an der Zeit, an Sebalds Nabokow betreffenden Aufsatz in Campo Santo zu denken. Es zeigt sich, daß auch dieser Aufsatz vordringlich mit der Autobiographie, in ihrer englischen Version, beschäftigt ist. Obwohl mit dem russischen Titel nicht unbedingt vertraut, nähert Sebald sich wiederholt dem Ufermotiv. Unversehens auf die falsche Seite geraten, fristen die Emigranten in Mietszimmern und Pensionen ein quasi exterritoriales, irgendwie illegitimes Nachtleben, gleich ihrem Autor abseits der Berliner Wirklichkeit der zwanziger Jahre - keine Rede von neuen Ufern. Neue Ufer gilt es in einer anderen Sphäre der Wirklichkeit zu erreichen, der Sphäre der Kunst: Stundenlang mußte oft an einer knappen Folge von Worten gearbeitet werden, bis die Erdenschwere überwunden war und der Autor, selber nun gewissermaßen entleibt, über die prekäre Konstruktion seiner Buchstabenbrücke das jenseitige Ufer erreichen konnte, das andere Ufer der innerliterarischen Transzendenz. Die überwundene Erdenschwere, das ist die Wandlung des schweren Alltagssinns der Wörter und Worte in den schwebenden Sinn der Kunst. So ist fast schon eine Notwendigkeit, wenn die Prosa immer wieder auf das Motiv der Levitation zusteuert und damit auf das Bild des fliegenden Vaters, nach Sebalds Verständnis, und wer wollte ihm da widersprechen, das schönste Himmelfahrtsbild, das Nabokow jemals gelang.

Nabokow begegnet uns in allen vier langen Erzählungen der Ausgewanderten, man weiß nicht recht, ob man ihn als weiteren Ausgewanderten oder als eine Art Mascòto wahrnehmen soll. Schließlich erfüllt er die Aufgaben eines Glücksbringer. Bereyter lernt Mme Landau nur kennen, weil sie auf einer Parkbank sitzend Speak, Memory liest, und Aurach kommt dank seiner pünktlich zum Abendbrot hinunter ins Tal. Auch für Adelwarth scheint der Schmetterlingsmann eine Art Trost zu sein. Was verbindet die beiden Dichter? Für eine Flugschau des Vaters fehlten in den bescheidenen Verhältnissen des heimischen Allgäu die Voraussetzungen, Selysses muß sich gleich auf die andere Seite der Himmelfahrtsmetapher begeben, indem er etwa eine Vorliebe für Tiepolo entwickelt, den unübertroffenen Meister der Himmelsbewohner in den Deckengewölben. Real erlebt er nur die Himmelfahrt der Mrs. Ashbury, die allerdings gleichsam nur anruckt und dann im Plafond steckenbleibt.

Freitag, 10. April 2015

Musik der Dichter

Ratlos
Nabokow zufolge liegt das Wesen der Literatur, wie auch das der anderen Künsten, allein in der Kraft der Verzauberung und auf keinen Fall in einer interessanten Thematik oder in der Gewichtigkeit der bewegten Ideen. Ähnliches ist wohl gemeint, wenn die Musikalität eines Textes hervorgehoben wird. Wie die Musik, die keine externen Themen kennt und keine Ideen außer den musikalischen, hätte die Literatur die Last der Semantik zumindest zum Teil abgestreift. Die Dichter müßten dann, so eine mögliche Annahme, verborgene Komponisten und Musiker sein. Tatsächlich hat Thomas Bernhard zunächst Gesang am Mozarteum studiert und seine Bücher liest man, als wären es unerhörte Lieder vorgetragen in einer bis dahin ungeahnten Stimmführung. Thomas Mann stellt sich im Doktor Faustus und auch an anderen Stellen als bedeutender Musikkenner vor. Sebald gibt in den Moments musicaux Proben seines musikalischen Sachverstandes, kann aber den Verdacht nicht ausräumen, daß die Musikalität seiner Texte weiter noch reicht als sein zweifellos ausgeprägter Musikverstand. Tschechow gesteht freimütig, einzelne versprengte Töne angeschlagen auf der Gitarre seien ihm die liebste Form der Musikausübung, die Theorie von den Musikerdichtern gerät damit ins Wanken. Der eigentliche Problemfall aber ist Nabokow, der den Anstoß gab für diese Überlegungen. Musik sei ihm nie etwas anderes gewesen als die willkürliche Anhäufung barbarischer Klänge. Zur Not könne er die Zigeunergeige ertragen oder irgendein feuchtes Harfengeglocke aus La Bohème oder auch spanisches Getobe auf der Gitarre - ein Konzertpiano aber und entschieden jegliche konzertante Blasmusik verursache ihm in geringen Dosen Langeweile, in größeren Dosen dagegen blank liegende Nerven und sogar Durchfall. Angesichts dieser drastischen Darstellung neigt man im ersten Augenblick zur Umkehr der Theorie: Gerade diejenigen, die die Musik in der Musik nicht finden, wären prädestiniert, sie im Fluß der Sprache wahrzunehmen. Da steht dann aber wiederum der Bernhard im Weg. Letzten Endes bleibt nur die Feststellung, daß das Verhältnis von Dichtung und Musik ein weites und schwieriges Feld ist. Mit unerwartetem Musikverständnis im übrigen rühmt Nabokow am Erinnerungsvermögen die Meisterschaft, mit der es die versprengten Teile der Leitmelodie vereint, die maiglöckchenhaften Stengelchen der Noten sammelt und bindet, die hier und da über der verdunkelten Partitur der Vergangenheit schweben.

Freitag, 3. April 2015

Auf dem Revier

Pont de Suresnes

Man kann nicht sagen, Selysses sei freiwillig auf das Polizeirevier gegangen. Auf dem Mailänder deutschen Konsulat, so sein Einwand, könne er sich ebenso gut einen neuen Paß besorgen und man solle sich weiter nicht bemühen. Der Padrone aber hatte seiner Frau schon die Autoschlüssel in die Hand gedrückt, und eh er es sich versah, saß er neben Luciana in dem blauen Alfa. Zu befürchten hatte er nichts von der Polizei, denn er hatte nichts Böses getan - Josef K. hatte dieses Argument allerdings nicht vor sehr weitgehenden Maßnahmen der Ermittlungsbehörden geschützt. Tatsächlich hat Selysses dann hinreichend Muße, sich an dem operettenhaften Gehabe des Brigadiere mit der riesigen Rolexuhr am linken und dem schweren Goldarmband am rechten Handgelenk zu erfreuen, bis dieser endlich das Dokument mit demonstrativem Schwung aus der Walze riß. Selysses aber summt die Operettenmelodie weiter, und als er mit der Bescheinigung in der in der Hand wieder im Auto saß, war es ihm als sie von dem Brigadiere getraut worden und könnten nun miteinander hinfahren, wohin sie wollten.

Cet homme tapait mes réponses à la machine au fur et à mesure que je lui déclinais mon état civil, mon adresse et une prétendue qualité d'étudiant. Auch Modianos Erzähler ist nicht freiwillig und auch nicht auf sanften Druck seiner Wirtsleute auf dem Polizeirevier, man hat ihn vorgeladen. Ob er Böses getan hat oder nicht, bleibt im Unklaren. Sein Name sei auf einer Agenda aufgetaucht, erfährt er. Als man ihn entläßt, sieht er auf dem Flur, sur la banquette de cuir, une fille d'environ vingt-deux ans, Gisèle, in Wahrheit Suzanne, wie sich später zeigt. Er wartet auf sie in einem dem Revier gegenüberliegenden Café, und das Liebesverhältnis nimmt schon bald greifbare Formen an, elle était allongée contre moi, nue, dans son imperméable. Gleichwohl bleibt das Verhältnis unbestimmt, je me suis demandé si elle n'allait pas disparaître pour le bon. Avec elle, je n'étais sûr de rien. Es endet schließlich auf die allerbestimmteste Art: Il me regardait fixement. Il était devenu tout rouge. Monsieur ... Votre amie. Accident. Juste après le pont de Suresnes.
Das Polizeirevier als erotogene Zone, dem Leben draußen kann das Liebesverhältnis nicht standhalten, so ließe sich das Gemeinsame der beiden Erzählungen darstellen. Selysses klassifiziert das Buch, an dem er schreibt und das wir lesen, als Kriminalroman. Die Verbrechen, um die es geht, liegen aber, wie das des Jägers Gracchus, in mythischer Vergangenheit oder sie sind, wie die bedrohlichen Augenpaare, die Selysses während der ersten Italienreise auf sich gerichtet spürt, womöglich nur eingebildet. Den Raubversuch am Mailänder Bahnhof wehrt Selysses auf geradezu tänzerische Weise ab, indem er auf dem Absatz sich drehend die Tasche von der Schulter schwingt und sie in die beiden Unholde hineinfahren läßt. In keinem Fall gehen von ihm selbst Verbrechen aus, sein Verhalten in Wien grenzt zwar in gewisser Weise an Landstreicherei, aber die war zu dieser Zeit bereits aus dem strafrechtlichen Register gestrichen. Über der Erzählung liegt alles in allem eine beruhigende Atmosphäre bürgerlicher Wohlanständigkeit, die Ausdruck findet in der teils tatsächlichen und teils scheinbaren Orientierung der Sätze am Vorbild der Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts und die selbstironisch darin kulminiert, daß sich der Erzähler ein Liebesverhältnis offenbar nur nach vorausgegangener Trauung vorstellen kann.
Modianos frühe Romane sind gekennzeichnet vom rundum kriminalisierten Milieu der Okkupationszeit, eine Motivanlage, die sich in den späteren Werken abschwächt aber nie schwindet, die Schleier des Verbrechens bleiben und durch sie hindurch bewegt sich das zentrale Figurenpaar, der junge Mann und das junge Mädchen nicht mit bürgerlicher Wohlanständigkeit, sondern in einer Art kreatürlicher Unschuld, da paßt es, wenn oft noch ein Hund mit von der Partie ist, in Un cirque passe hört er auf den Namen Raymond. Das Polizeirevier, im Verein mit dem Panier de salade, der grünen Minna, ist ein Standardmotiv des Dichters. Ein Nest der Liebe zudem, auch in Accident nocturne findet das junge Paar im Verlauf einer polizeilichen Maßnahme, der Unfallaufnahme, zueinander. Aber war es ein Unfall, oder ist der junge Mann in selbstmörderischer Absicht in den Wagen gelaufen, und war es ein bloßer Unfall dem Suzanne alias Gisèle am Pont de Suresnes zum Opfer fällt?

Donnerstag, 2. April 2015

Überflüssig

Russische Wallfahrt

Bekümmert von den blutigen Vorgängen in der Ukraine und den sich verdüsternden deutsch-russischen Beziehungen, erfaßt den Leser eine Sehnsucht nach der, wie er sie erinnert, friedlichen russischen Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Bylo tichoje letneje utro, es war ein stiller Sommermorgen. Die Sonne stand schon recht hoch am klaren Himmel; die Felder aber glänzten noch im Tau, aus den gerade erst erwachten Tälern wehte eine duftige Frische, und im Wald, noch feucht und ansonsten lautlos, sangen fröhlich die frühen Vögelchen: so beginnt Turgenjews Roman Rudin. Von der Höhe des Hügels kam ein kleines Dorf in Sicht. Über einen schmalen Feldweg hielt eine junge Frau in einem weißen Kleid, mit Strohhut und Sonnenschirm, auf das Dörfchen zu. Ziel des Spaziergangs ist ein Krankenbesuch in einer bäuerlichen Kate. Im weiteren wird dann die Landbevölkerung mitsamt der Landschaft der sich anbahnenden Intrige zuliebe so gut wie aus der Erzählung verwiesen. Eine weitläufigere Raumstruktur wird spürbar, die der verschiedenen Gutshöfe, deren Besitzer die Saison auf dem Land verbringen. Die gegenseitigen Besuche finden mithilfe von Kutschwagen statt.
Gern würde man selbst den Weg vom Hügel hinab in das kleine Dorf gehen. Besser noch, wenn Selysses, der Wanderer und Wahrnehmungsartist, an unserer Stelle, inspiriert von Turgenjews Roman, beginnend mit diesem Weg der englischen eine russische Wallfahrt hätte folgen lassen. Einerseits hätte er die Wegstrecken der Kutschfahren ohne weiteres zu Fuß zurücklegen können, andererseits hätte er Schwierigkeiten, den Handlungsort überhaupt zu finden, denn im Buch ist der Name des Gouvernement nur mit nicht weiter dechiffrierbaren Auslassungspunkten angegeben. Man darf wohl die Gegend bei Orel, sprich Arjól, im Auge haben, wo Turgenjew geboren und aufgewachsen ist. Auf seiner Wanderung in der postsowjetischen Zeit hätte Selysses gute Aussichten, auf eine ähnliche aufgelassene Militäranlage zu stoßen wie im Achten Teil der Ringe des Saturn, auch Niederwild, etwa in Form eines Hasen, dürfte ihm über den Weg laufen. In Leuten ähnlich dem schlichten und ehrlichen Wolynzew, dem souveränen Leschnjew und dem auf den seltsamen Vornamen Afrikan hörenden Misanthropen Pigassow würde er geeignete Gesprächspartner finden. Conrad, dem er von England aus bis nach Kleinrußland gefolgt war, könnte er sozusagen von der anderen Seite her nachgehen. Er würde die Größen der russischen Literatur treffen, die die Provinz  als Handlungsort für ihre Geschichten wählen, dabei Moskau und Petersburg nie vergessen und auch nicht die Städte im Westen, Berlin, Paris, Florenz, Baden-Baden. Wie auf der englischen Wanderung wären die räumlich begrenzten Fußwege von großzügigen Reisen im Geiste begleitet.

Anstelle von Selysses tritt aber der Titelheld Rudin auf den Plan, ein überflüssiger Mensch, лишний человек. Der Begriff wurde von Turgenjew entworfen, der Typus wurde in der Gestalt Onegins von Puschkin und, mit Petschorin, von Lermontow vorgestellt, das soll für die Charakterisierung reichen. Überflüssig ist Rudin, für den der Frieden sucht, aber vor allem in der Erzählung, deren Protagonist er ist. Er behindert nur für eine Weile, was sich dann doch vollzieht und seinen krönenden Ausdruck findet in zwei Hochzeiten. Denken wir uns Rudin fort, so beruhigen sich die Menschen und treten zurück, das Land lebt auf, bereit für den Wanderer, Jessenins Birken zeichnen sich klar ab. Erst nach der operativen Entfernung des überflüssigen Menschen ist das Buch so friedvoll, wie die Erinnerung wollte, daß es sei, so friedvoll, wie Tolstoi seine beiden großen Romane auf ihren jeweils letzten Seiten malte.

Auf der offiziellen Liste der überflüssigen Menschen erscheinen neben Onegin und Petschorin und verschiedenen Helden Turgenjews auch Oblomow und Pierre Besuchow. Schon Oblomow ist von den beiden Byron-Nachfolgern weit entfernt und erweitert das Spektrum der Überflüssigen erheblich, Besuchow ist, so möchte man einen Augenblick lang glauben, irrtümlich auf die Liste geraten. Zumindest aber ist der einer der wenigen aus der Gattung des лишний человек, der sich aus eigener Kraft seiner Überflüssigkeit entledigt. Jenseits von Napoleon hat Tolstoi das gute Leben immer entschiedener und bis zum Ende jenseits des Überflüssigen gesucht. Gefunden hat er es wohl auch dort nicht.