Donnerstag, 2. April 2015

Überflüssig

Russische Wallfahrt

Bekümmert von den blutigen Vorgängen in der Ukraine und den sich verdüsternden deutsch-russischen Beziehungen, erfaßt den Leser eine Sehnsucht nach der, wie er sie erinnert, friedlichen russischen Erzählliteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Bylo tichoje letneje utro, es war ein stiller Sommermorgen. Die Sonne stand schon recht hoch am klaren Himmel; die Felder aber glänzten noch im Tau, aus den gerade erst erwachten Tälern wehte eine duftige Frische, und im Wald, noch feucht und ansonsten lautlos, sangen fröhlich die frühen Vögelchen: so beginnt Turgenjews Roman Rudin. Von der Höhe des Hügels kam ein kleines Dorf in Sicht. Über einen schmalen Feldweg hielt eine junge Frau in einem weißen Kleid, mit Strohhut und Sonnenschirm, auf das Dörfchen zu. Ziel des Spaziergangs ist ein Krankenbesuch in einer bäuerlichen Kate. Im weiteren wird dann die Landbevölkerung mitsamt der Landschaft der sich anbahnenden Intrige zuliebe so gut wie aus der Erzählung verwiesen. Eine weitläufigere Raumstruktur wird spürbar, die der verschiedenen Gutshöfe, deren Besitzer die Saison auf dem Land verbringen. Die gegenseitigen Besuche finden mithilfe von Kutschwagen statt.
Gern würde man selbst den Weg vom Hügel hinab in das kleine Dorf gehen. Besser noch, wenn Selysses, der Wanderer und Wahrnehmungsartist, an unserer Stelle, inspiriert von Turgenjews Roman, beginnend mit diesem Weg der englischen eine russische Wallfahrt hätte folgen lassen. Einerseits hätte er die Wegstrecken der Kutschfahren ohne weiteres zu Fuß zurücklegen können, andererseits hätte er Schwierigkeiten, den Handlungsort überhaupt zu finden, denn im Buch ist der Name des Gouvernement nur mit nicht weiter dechiffrierbaren Auslassungspunkten angegeben. Man darf wohl die Gegend bei Orel, sprich Arjól, im Auge haben, wo Turgenjew geboren und aufgewachsen ist. Auf seiner Wanderung in der postsowjetischen Zeit hätte Selysses gute Aussichten, auf eine ähnliche aufgelassene Militäranlage zu stoßen wie im Achten Teil der Ringe des Saturn, auch Niederwild, etwa in Form eines Hasen, dürfte ihm über den Weg laufen. In Leuten ähnlich dem schlichten und ehrlichen Wolynzew, dem souveränen Leschnjew und dem auf den seltsamen Vornamen Afrikan hörenden Misanthropen Pigassow würde er geeignete Gesprächspartner finden. Conrad, dem er von England aus bis nach Kleinrußland gefolgt war, könnte er sozusagen von der anderen Seite her nachgehen. Er würde die Größen der russischen Literatur treffen, die die Provinz  als Handlungsort für ihre Geschichten wählen, dabei Moskau und Petersburg nie vergessen und auch nicht die Städte im Westen, Berlin, Paris, Florenz, Baden-Baden. Wie auf der englischen Wanderung wären die räumlich begrenzten Fußwege von großzügigen Reisen im Geiste begleitet.

Anstelle von Selysses tritt aber der Titelheld Rudin auf den Plan, ein überflüssiger Mensch, лишний человек. Der Begriff wurde von Turgenjew entworfen, der Typus wurde in der Gestalt Onegins von Puschkin und, mit Petschorin, von Lermontow vorgestellt, das soll für die Charakterisierung reichen. Überflüssig ist Rudin, für den der Frieden sucht, aber vor allem in der Erzählung, deren Protagonist er ist. Er behindert nur für eine Weile, was sich dann doch vollzieht und seinen krönenden Ausdruck findet in zwei Hochzeiten. Denken wir uns Rudin fort, so beruhigen sich die Menschen und treten zurück, das Land lebt auf, bereit für den Wanderer, Jessenins Birken zeichnen sich klar ab. Erst nach der operativen Entfernung des überflüssigen Menschen ist das Buch so friedvoll, wie die Erinnerung wollte, daß es sei, so friedvoll, wie Tolstoi seine beiden großen Romane auf ihren jeweils letzten Seiten malte.

Auf der offiziellen Liste der überflüssigen Menschen erscheinen neben Onegin und Petschorin und verschiedenen Helden Turgenjews auch Oblomow und Pierre Besuchow. Schon Oblomow ist von den beiden Byron-Nachfolgern weit entfernt und erweitert das Spektrum der Überflüssigen erheblich, Besuchow ist, so möchte man einen Augenblick lang glauben, irrtümlich auf die Liste geraten. Zumindest aber ist der einer der wenigen aus der Gattung des лишний человек, der sich aus eigener Kraft seiner Überflüssigkeit entledigt. Jenseits von Napoleon hat Tolstoi das gute Leben immer entschiedener und bis zum Ende jenseits des Überflüssigen gesucht. Gefunden hat er es wohl auch dort nicht.

Keine Kommentare: