Montag, 17. August 2015

Freude

Letizia che trascende ogne dol(z)ore

Wenn man Tolstoi liest, scheint sie russische Sprache wie keine andere durchdrungen von der Freude des Lebens. Liegt es an der russischen Sprache oder an Tolstoi oder liegt es an beiden? In den beiden großen Romanen dringt das Glück des Daseins aus allen Poren der Prosa, obwohl doch auch von soviel Not und Verzweiflung, von Leiden und Tod erzählt wird. Es kann das Glück einer Schlittenfahrt sein, eines Pferderennens, bevorzugt ist es naturgemäß das Glück der jungen Liebe. Die Freude übertönt den Schmerz, das ist in einer Reihe von Erzählungen und auch in dem dritten Roman, Auferstehung, anders. Gleich im ersten Absatz des Romans wird die Freude in das Reich der Fauna und Flora verwiesen. Wessnja byla wessnoju, der Frühling war der Frühling geblieben, sogar in der Stadt. Fröhlich waren die Pflanzen, die Vögel und die Käfer und auch die Kinder und, möchte man ergänzen: die Sprache. Die Menschen aber hörten nicht auf einander zu betrügen und zu quälen.

Der russische Dichter Mandelstam hat, im Gespräch über Dante, die besonderen emotionalen Vorzüge wiederum einer anderen Sprache herausgestellt: Als ich anfing, Italienisch zu lernen, und einen kleinen Einblick in die Phonetik und Prosodie gewonnen hatte, begriff ich auf einmal, daß der Schwerpunkt der Sprechtätigkeit sich verlagert hatte: näher hin zu den Lippen, zum äußeren Mund. Die Zungenspitze kam plötzlich zu Ehren. Der Laut stürzte zum Verschluß der Zähne. Was mich außerdem faszinierte, war die Infantilität der italienischen Phonetik, ihre herrliche Kindhaftigkeit, die Nähe zum Kinderlallen, blisost k mladentscheskomu lepetu, hätte er darüber nachgedacht, müßte diese Eigenart des Italienischen auch den späten Tolstoi, der einzig die Kinder in ihrer Freude den Vögeln gleichstellt, begeistert haben.

Weiter spricht Mandelstam vom durch den Vokalreichtum ausgelösten Vershunger, stichotwornyj golod, des Italienischen. Im Vers, so Kurt Flasch, ebenfalls mit Blick auf Dante und eine Belehrung Fausts aufgreifend, seien die Wörter einander so freundlich. Er selbst hat die Commedia in deutsche Prosa übersetzt, da das Deutsche keinen dem Italienischen vergleichbaren Vershunger aufweist. Selysses liest Italienisch weder in Prosa noch in gebundener Sprache. Er bevorzugt die ent-bundene Sprache und greift zum Beredten Italiener, einem praktischen, überwiegend aus Vokabellisten bestehenden Hülfsbuch des Italienischen. Alles scheint hier aufs beste geordnet, so als setze sich die Welt bloß aus Wörtern zusammen, als wäre dadurch auch das Entsetzliche in Sicherheit gebracht, als gäbe es zu jedem Teil ein Gegenteil, zu jedem Bösen ein Gutes, zu jedem Verdruß eine Freude und zu jedem Unglück ein Glück: eine Weltordnung erstellt ohne viel Aufwand, um Längen weniger grandios als die Commedia, aber genauso unglaublich. Sebald hat wiederholt betont, die Prosa müsse sich nicht weniger um das Wohlbefinden der Wörter kümmern als die Lyrik. Das Deutsche hat nicht die fröhliche Kompaktheit der russischen Sätze und nicht die heitere Vokalfülle des Italienischen, aber wer wollte sagen, in den schönen weiten Sätzen des Dichters seien die deutschen Wörter in ihrer blassen Eleganz nicht liebevoll beieinander und würden sich nicht wohl fühlen.

Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la diritta via era smarrita. Im nahezu gleichen Lebensalter, als Dante in die Hölle einstieg, hofft Selysses durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen. Die Unrast trägt ihn erst nach Wien, dann weiter nach Italien, nicht nach Florenz, und auch in Verona, wo der größere Teil der Commedia verfaßt wurde, trifft er Dante nicht an. Vergil ging rechts vorn voraus, heißt es im Canto XIII der Purgatoriums, Dante, der, wie Mandelstam hervorhebt, auf der langen Wanderung seiner Schwindelgefühle nie Herr wird, also links hinter ihm. Noch in Wien, in der Gonzagagasse, hatte Selysses den bei Feuertod aus seiner Heimatstadt verbannten Florentiner Dichter Dante vorüberhuschen sehen. Gonzaga verweist auf Vergils Geburtsstadt Mantua. Nicht auszuschließen, daß die beiden, Dante und Vergil, insgeheim Selysses Italienreise veranlaßt haben, oft stellt das nur Angedeutete das breit Ausgeführte in den Schatten. Da aber weder der eine noch der andere Anstalten macht, ihn zu begleiten, werden Stendhal und Kafka sozusagen als Vorkommando losgeschickt.

Freude, die über allen Genuß hinausgeht. Die für Dante weit über alle anderen Freuden hinausgehende Freude ist der Anblick Beatrices im Paradies, nicht wenige haben die gesamte Commedia als ein einziges großes Liebesgedicht gelesen. In den Schwindel.Gefühlen sind die Frauengestalten nicht ganz so entrückt aber nicht weniger schön. Auch Stendhal ist nach einer längeren Reihe realer Geliebter jetzt ganz der von ihm selbst erdachten Mme Gherardi verfallen, Kafka ist bestrebt, die Schweizerin in eine literarische Gestalt zu verwandeln. Selysses ist für den Hauch eines Augenblicks mit Luciana vermählt. Auf der Heimfahrt trifft er im Zug die zugleich reale und irreale Winterkönigin, als sie in Bonn aussteigt ist sie für ihn verloren wie Beatrice für Dante bei ihrem Tod.
Die Schwindel.Gefühle enden mit dem Blick auf ein Höllenfeuer. Drastische Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein hatte Selysses zuvor aus Gebetbüchern des 17. Jahrhunderts erfahren, die in der Bibliothek der Mathild versammelt waren, und die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln Giottos und Dantes erhoben wird, erklingt wie eh und je. Die Freude, die über allen Genuß (dolzore) hinausgeht, kann sie auch über allen Schmerz (dolore) hinausgehen? Dante, einmal im Paradies angelangt, hat mit dem in der Hölle zurückgelassenen Schmerz nichts mehr zu schaffen, aber seine Position als Paradiesläufer ist wahrhaft einzig. Tolstoi hat sich dem Dilemma von Freud und Leid mit aller irdischen Wucht gestellt, der Dichter stellt sich ihm mit verhalteneren Worten.

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