Sonntag, 23. August 2015

Zikaden

Hört den Reim!


In den Schwindel.Gefühlen, mehr noch als in den anderen Prosabänden, ist der Boden unter den Füßen weich. Da sind einmal die untergründigen Miniaturgeschichten, Geschichten über den Jäger Gracchus, den heiligen Georg, den Dichter Dante, die die Schritte des an der Oberfläche wandernden Lesers einsinken lassen, und es sind die vielen Entleihungen, nicht ausgewiesene Zitate, die ihn zum Stolpern bringen. Ossip Mandelstam aber beruhigt den Wanderer: Das Zitat ist kein Exzerpt, keine Abschrift, das Zitat ist eine Zikade, mithin ein willkommener Gefährte des Wanderers und keine Stolperfalle. Diese auf den ersten Blick überraschende Einsicht gründet offenbar auf dem Gleichklang, der Alliteration und dem Endreim, citata jest cikada. Immer wird vom Reim eine Ergänzung oder Vertiefung der Alltagsbedeutung erwartet, hier aber scheint er sie komplett zu verdrängten, um mit seiner verborgenen Bedeutung an ihre Stelle zu treten. Was im einzelnen mag der Dichter meinen? Ohne daß wir ihn recht verstehen, hat er uns schon dank der Kraft seines Wortes schon überzeugt.

Das Wesen der Zikade, so hören wir weiter, ist ihre Unfähigkeit zu schweigen, neumolkajemost, und, so wäre zu ergänzen, ihre Unsichtbarkeit. Bei einer Rast auf der Fahrt nach Spanien, Höhe Narbonne, hört man die Stille über der Buschlandschaft und stellt fest, es ist die lärmende Stille der Zikaden. Heerscharen der verborgenen Kreaturen singen unermüdlich das Lob des Herrn. In der Prosa haben die Zikaden Namen. Hat man in der Prosalandschaft erst die Zikade Kafka, die Zikade Büchner, die Zikade Thomas Browne entdeckt, vermutet man unsichtbare Artgenossen unter jedem Zweig, jedem Blatt und hört ihren anschwellenden Ruf nach Beachtung.

Keine Kommentare: