Sonntag, 15. November 2015

Tir o saint

Entmenscht


Vom Leben des Majors George Wyndham Le Strange bekommen wir nur die äußere Hülle zu Gesicht. Der Major ist bereits dreißig Jahre alt, als wir ihn zum ersten Mal treffen, als Befreier in Bergen Belsen, was gab es da noch zu befreien. Er quittiert kurz darauf den Dienst und widmet sich für zehn Jahre der Verwaltung der ererbten Güter, dann entläßt er in kurzer Zeit alle Angestellten und Hausbediensteten und führt für gut dreißig Jahre bis zu seinem Tod ein ausgeprägtes Eremitendasein. Er nimmt verschiedene Heiligenrollen an, bevorzugt die des heiligen Franz oder die des heiligen Hieronymus. Bei seinem Ableben sei, so heißt es, seine helle Haut olivgrün geworden, sein gänsegraues Auge tiefdunkel und sein schlohweißes Haar rabenschwarz. Wie diese wundersame Verklärung im Tode zu verstehen ist, bleibt unklar, und der Erzähler distanziert sich vorsichtig von der Nachricht, er wisse nicht, was von solchen Geschichten zu halten sei. So schützt er sich jedenfalls vor der Enttäuschung Aljoscha Karamasows, der nichts anderes erwartet hatte, als daß vom Leichnam des Starez Sossima ein wundersam aromatischer Duft ausgehen würde.

Der mit dem Gesamtwerk nicht vertraute Leser wird die Erzählung vom Major Le Strange als eine singuläre, isolierte Episode werten, tatsächlich aber erscheint sie wie das Konzentrat verschiedener anderer, umfänglicherer Lebensberichte, ihr Ausgangs- oder auch ihr Endpunkt. Als der Erzähler in Begleitung seiner Frau Clara Dr. Selwyns Garten betritt, ist es nicht viel anders, als hätten die beiden den Garten des Majors betreten, Selwyns Eremitenstatus ist kaum weniger streng. Auch in seiner Vergangenheit scheinen traumatische Erlebnisse auf, die Flucht noch im Kindesalter aus der litauischen Heimat, der tödliche Unfall des befreundeten Bergsteigers Naegeli. Die seelischen Folgen, wenn es denn zurechenbare Folgen sind, stellen sich nicht unmittelbar ein, Selwyn führt für über lange Jahre ein aktives, ja mondänes Leben, wie auch Le Strange in der Dekade nach Bergen Belsen tatkräftig seine Güter verwaltet hatte. - Bei entsprechend hoher Abstraktion ließe sich auch Bereyters Lebensverlauf ähnlich darstellen.

Sowohl die prototypische Kurzerzählung vom Major George Wyndham Le Strange als auch die längeren Erzählungen sind weitgehend freigeräumt von den Dingen des Lebens, die der Stoff üblicher Romane sind, von Irrungen und Wirrungen, verwandtschaftlichen Bindungen, Vater und Mutter, Liebesverhältnissen, auch vom Geld. Alle leben in finanziell auskömmlichen Verhältnissen, Le Strange ist reich, läßt sein Geld aber ungenutzt ruhen, aus Überdruß oder aus vollendeter Gleichgültigkeit, auch gegenüber der Möglichkeit, sogenanntes Gutes zu tun. Die Helden der Erzählungen sind entmenscht im gegengerichteten Sinn der üblichen Bedeutung, nämlich frei vom alltäglich Menschlichen. Aber auch in den üblichen Romanen voller Menschengetümmel zeichnet sich, wenn sie denn die notwendige Qualität haben, ähnliches ab. Banville erfährt bei Joyces Dubliners, that literature could be very elevated but still be about life, about the rather grim, gray, mundane life - das Bild eines Gipfels über dem Nebel zeichnet sich ab, bei Sebald ist es ein weites Hochplateau, Ort einer in der Höhe verborgenen Menschlichkeit anstelle des Allzumenschlichen. Aus der Verlegenheit, für diesen Ort keinen Namen zu haben, nennen wir ihn das Land der Heiligen, Tir o saint, es ist ein Bezirk, der, wenn die Dichter denn recht hätten, auch in uns selbst zu entdecken wäre.

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