Donnerstag, 21. Juli 2016

Ortsfest

Traumplan


Mathild Seelos verläßt nach ihrer Rückkehr das Dorf nicht mehr. Aurach ist nur in seltenen Ausnahmefällen bereit, Reisen von Manchester aus zu unternehmen. Garrard hat sich mit seinem Tempelmodell mehr oder weniger in der Scheune eingeschlossen. Andere wären noch zu nennen, der Ortsfesteste von allen ist der Major Le Strange. Ortsfestigkeit scheint, so wie die Dinge liegen, die für anständige Menschen angemessene Lebensweise zu sein. Selysses ist ständig unterwegs um zu überprüfen, ob ein jeder noch an seinem Platz ist. Sein Blickwinkel ändert sich, als es ihn nach Korsika verschlägt.

Zunächst allerdings scheint er in der gewohnten Art fortzufahren, ja sie zu einem neuen Höhepunkt zu steigern, indem er erwägt, auf der Insel selbst eine dauerhafte und ortsfeste Klausur anzutreten: Er versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn er in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an sein Lebensende mit nichts beschäftigt als dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Tatsächlich aber weilt er, obwohl Korsika so weit entfernt nicht ist von der Heimat, bei den Antipoden, jedenfalls dann, wenn er einige Jahre zurückschaut in die vergangene Zeit. Sein Rückzug in die steinerne Burg wäre nicht weiter auffällig gewesen, da die ortsfeste Lebensweise die übliche war. So wurde berichtet, daß verarmte Landedelleute ihr Lebtag in einem Dorf leben mußten, da die Anschaffung eines Automobils ihre Mittel überstieg und sie es als eine Schande empfunden hätten, in einen Bus einzusteigen. Im tiefsten Verließ aber steckten die Frauen und zumal die Gemahlinnen und Töchter der besseren Stände kamen überhaupt nie an die Öffentlichkeit. Von der Frau eines Apothekers wird erzählt, daß sie in ihrem ganzen, schon mehr als ein Jahrhundert andauernden verehelichten Leben nur dreimal und jeweils zu einem Leichenbegängnis ihr Haus habe verlassen dürfen. Fast könnte man meinen, daß es sich bei dem für Außenstehende so unbegreifliche System der Vendetta, dem alljährlich ein erheblicher Teil der männlichen Inselbevölkerung zum Opfer fiel, um einen in den von stummer Wut zerfressenen Seelen der Frauen ausgetragenen Traumplan zur Selbstausrottung der Männer gehandelt hat. Feministische Aufwallungen, sei es auch nur im Imaginären, finden sich sonst wenig im Werk. Die Mathild Seelos hat die Dorfbewohner gleichmäßig und ohne Ansehen des Geschlechts verachtet. Mit dem Großvater des Erzählers hat sie sich einmal die Woche zum Kartenspiel im Café Alpenrose getroffen, sonst ist über ihr spezifisches Verhältnis zur Männerwelt nichts bekannt.

Das bloße Merkmal des ortsfesten Lebens gibt keine Gleichgesinnten zu erkennen. Le Strange und die anderen haben diese Lebensweise aus bestimmten, wenn auch nicht ganz klaren Gründen gewählt und mit dem Merkmal des Einsiedlertums verbunden, die Korsen, von denen hier die Rede ist, hatten keine Wahl und lebten ortsfest im Sippenverband. Dazwischen liegt der von Abgrund zu Abgrund sich fortbewegende Gang der Geschichte, den am Anfang des Jahrhunderts nicht zuletzt der wenig ortsfeste Korse Buonaparte beflügelt hatte.

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