Der reale Verlauf der Geschichte ist natürlich ein ganz anderer gewesen, weil es ja immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, bereits auf die nächste Katastrophe zugeht. Aber, so muß man der Wahrheit halber ergänzen, die Vergangenheit wird nicht weniger ausgemalt, und niemand kann rückblickend mit Sicherheit sagen, was wirklich geschehen ist. Ein Bewohner des irischen Friedhofs erinnert sich mit Begeisterung und Rührung an den FC Gaillimh 04, der wenige Tage nur nach seinem eigenen Tod die irische Meisterschaft gewonnen habe, er selbst hatte noch das triumphale Leaschraobhcluiche (Halbfinale) gegen Arminia Cabhán gesehen. Wenn er das Jahr 1941 meine, hält sein Grabnachbar dagegen, so habe er selbst das Craobhchluiche (Finale) gesehen, in dem Gaillimh gegen Ciarrai unterlegen und somit nicht irischer Meister geworden sei. Darauf wiederum der Anhänger des FC Gaillimh 04: Er möge doch bitte nicht so einen Unsinn daherreden, schließlich habe er mit eigenen Augen von einem Sitzplatz aus das Leaschraobhcluiche verfolgt, Ceanannach mit der roten Mütze, der Libero des FC Gaillimh, notfalls ganz allein hätte, wie jeder sehen konnte, den Dynamo Ciarrai zur Strecke gebracht, &c., die Fehde unter den verstorbenen Fußballanhängern will nicht enden. Sollte man uns zum Schiedsrichter zwischen den streitlustigen Toten ausrufen, müßten wir das entweder zurückweisen oder den Auftrag sehr ernst nehmen. Auf keinen Fall dürfen wir den durch seinen vorzeitigen Tod ohnehin schon ungerecht behandelten zusätzlich diskriminieren, indem wir seine Meinung und seine Argumente geringschätzen. Nur höhere Gewalt der schlimmsten Sorte hatte ihn vom Besuch des Craobhchluiche abgehalten, wahrhaft kein Anlaß für Schadenfreude oder Ausgrenzung. Neue Einsichten sind den Toten verschlossen. Die Erkenntnis stagniert am Tag unseres Todes, darauf können die Lebenden sich nicht früh genug einstellen. Leaschraobhcluiche nach mbeidh dúinn.
Donnerstag, 23. März 2017
Sonntag, 19. März 2017
Common Decency
Robicheaux
Jean-Claude Michéa bespricht in knappen Worten den Film In the Electric Mist: En France, le cinéma de Bertrand Tavernier constitue un très bon exemple de ce nécessaire travail d’empathie. Je pense notamment au personnage de Dave Robicheaux (magistralement interpreté par Tommy Lee Jones) à travers lequel Tavernier réussit admirablement à faire passer toutes les contradictions humaines qui peuvent animer un „petit Blanc“ de Lousiane, à la fois „conservateur“ et profondément attacheé à la common decency. Il est vrai que Tavernier est un grand lecteur d’Orwell (et un grand admirateur de John Ford) et que c’est donc de façon parfaitement consciente qu’il s’est attaché à rendre ainsi hommage à leur conception de la décence commune et des gens ordinaires. - Wenn Michéa schon John Ford erwähnt, hätte er nicht verschweigen müssen, daß Lee Jones, auch was die Körpermaße anbelangt ein schmächtiger petit Blanc, hüftsteifer zudem, als John Wayne es je war, weder Mühe noch Bedenken hat, Männer mit dem dreifachen Volumen, die von Common Decency nichts wissen und nichts wissen wollen, magistralement und auf eine für sie nicht schmerzfreie Weise eines Besseren zu belehren; die Common Decency ist noch um einiges wehrhafter als der Rechtsstaat, dem sich Robicheaux als Leutnant der Polizei in besonderer und frei interpretierter Weise verpflichtet fühlt.
Die von Orwell übernommene Vorstellung der Common Decency teilt erkennbar Merkmale mit der vor Kolonisierung zu bewahrenden Lebenswelt bei Habermas. Common Decency ist in den Augen Michéas - der sich als Marxist versteht, das aber nach dem Vorbild von Marx selbst, der immer betont hat, er sei keiner - Common Decency also ist von Kapitalismus und zeitgenössischer linker Theorie in gleicher Weise bedroht, da die beiden Strömungen in ein und dasselbe Flußbett münden: ununterscheidbar voneinander setzen sie auf ständigen Fortschritt und möglichst unbegrenzte Freiheit des Einzelnen, zwei Wertsetzungen, die bei undosiertem Einsatz zur Auslöschung aller gewachsenen Sozialität führen. Wer ähnliche Ideen wie Michéa vertritt, sehe sich unverzüglich als Réac klassifiziert, eine Einordnung, die sich etwa Houellebecq längst zur Ehre anrechnet. Sebald hätte ihm nicht nachgestanden. Mme Landau rühmt vor allem anderen Bereyters ans Extravagante grenzende Dezenz, ein Prädikat, das, sichtet man die Reihen, allen Sebaldmenschen zuzusprechen ist, wenn vielleicht auch nicht in dieser superlativischen Ausprägung. Der Leser der Prosabände hat das beglückende Gefühl, sich in einem grenzenlosen Reich der Common Decency zu bewegen, und doch, an diesbezüglichen Hinweisen fehlt es nicht, ist es nur ein unmaßstäblich erweiterter schmaler und vor allem auch zeitlich begrenzter Bezirk: die Sebaldmenschen sind samt und sonders kinderlos und ohne Nachkommen. Die Maschinen aber, so tröstet uns der Dichter, stehen allenthalben bereit zur Geschäftsübernahme und Fortsetzung des großen Werks der Emanzipation. Es kann nur von Vorteil sein, wenn die Menschen sich in die Arbeit an ihrer Befreiung nicht länger störend einmischen.
Jean-Claude Michéa bespricht in knappen Worten den Film In the Electric Mist: En France, le cinéma de Bertrand Tavernier constitue un très bon exemple de ce nécessaire travail d’empathie. Je pense notamment au personnage de Dave Robicheaux (magistralement interpreté par Tommy Lee Jones) à travers lequel Tavernier réussit admirablement à faire passer toutes les contradictions humaines qui peuvent animer un „petit Blanc“ de Lousiane, à la fois „conservateur“ et profondément attacheé à la common decency. Il est vrai que Tavernier est un grand lecteur d’Orwell (et un grand admirateur de John Ford) et que c’est donc de façon parfaitement consciente qu’il s’est attaché à rendre ainsi hommage à leur conception de la décence commune et des gens ordinaires. - Wenn Michéa schon John Ford erwähnt, hätte er nicht verschweigen müssen, daß Lee Jones, auch was die Körpermaße anbelangt ein schmächtiger petit Blanc, hüftsteifer zudem, als John Wayne es je war, weder Mühe noch Bedenken hat, Männer mit dem dreifachen Volumen, die von Common Decency nichts wissen und nichts wissen wollen, magistralement und auf eine für sie nicht schmerzfreie Weise eines Besseren zu belehren; die Common Decency ist noch um einiges wehrhafter als der Rechtsstaat, dem sich Robicheaux als Leutnant der Polizei in besonderer und frei interpretierter Weise verpflichtet fühlt.
Die von Orwell übernommene Vorstellung der Common Decency teilt erkennbar Merkmale mit der vor Kolonisierung zu bewahrenden Lebenswelt bei Habermas. Common Decency ist in den Augen Michéas - der sich als Marxist versteht, das aber nach dem Vorbild von Marx selbst, der immer betont hat, er sei keiner - Common Decency also ist von Kapitalismus und zeitgenössischer linker Theorie in gleicher Weise bedroht, da die beiden Strömungen in ein und dasselbe Flußbett münden: ununterscheidbar voneinander setzen sie auf ständigen Fortschritt und möglichst unbegrenzte Freiheit des Einzelnen, zwei Wertsetzungen, die bei undosiertem Einsatz zur Auslöschung aller gewachsenen Sozialität führen. Wer ähnliche Ideen wie Michéa vertritt, sehe sich unverzüglich als Réac klassifiziert, eine Einordnung, die sich etwa Houellebecq längst zur Ehre anrechnet. Sebald hätte ihm nicht nachgestanden. Mme Landau rühmt vor allem anderen Bereyters ans Extravagante grenzende Dezenz, ein Prädikat, das, sichtet man die Reihen, allen Sebaldmenschen zuzusprechen ist, wenn vielleicht auch nicht in dieser superlativischen Ausprägung. Der Leser der Prosabände hat das beglückende Gefühl, sich in einem grenzenlosen Reich der Common Decency zu bewegen, und doch, an diesbezüglichen Hinweisen fehlt es nicht, ist es nur ein unmaßstäblich erweiterter schmaler und vor allem auch zeitlich begrenzter Bezirk: die Sebaldmenschen sind samt und sonders kinderlos und ohne Nachkommen. Die Maschinen aber, so tröstet uns der Dichter, stehen allenthalben bereit zur Geschäftsübernahme und Fortsetzung des großen Werks der Emanzipation. Es kann nur von Vorteil sein, wenn die Menschen sich in die Arbeit an ihrer Befreiung nicht länger störend einmischen.
Mittwoch, 15. März 2017
Cheal fags
Kein Monopol
An Mangel an Zigaretten (cheal fags, wie es in schöner irisch-englischer Fügung heißt) sei er gestorben, behauptet in Verkennung wissenschaftlich erwiesener Wahrheit einer der Bewohner von Mairtín O’Cadhains Friedhof. Verantwortlich für seinen Tod macht er die Ladenbesitzerin, die ihm den Tabak verweigert hatte, als er knapp bei Kasse war: mein Tod ruht auf deinen Schultern, Joan - tá mo bhás ort, a Shiúán! Einräumen muß man, daß die Wissenschaft ein zweischneidiges Schwert ist. Helmut Schmidt, wie jeder weiß ein haltloser Raucher, hatten die Ärzte abgeraten - nicht daß er sie um Rat gefragt hätte – im hohen Alter von der Zigarette abzulassen, ein somatischer Schock könne anderenfalls die Folge sein. Der Dichter hat im Gespräch eingestanden, Rauch dringe schon mal unter der Tür seines Arbeitszimmers hervor nach draußen, in der Prosa aber verhält er sich abstinent, warum? Daniel Craig hatte sich verwundert gezeigt, daß er als James Bond jedwedem nach Belieben die Rübe wegblasen durfte, während schon der bloße Gedanke an Fags streng untersagt war. So sind unsere Werte, politische Korrektheit kann aber kaum der Grund für den narrativen Rauchverzicht des Dichters sein, läßt er doch ungeniert Neger, Zigeuner, Krüppel und Irre durch sein Werk ziehen. Zu vermuten sind ästhetische Gründe, ein abschreckendes Beispiel könnte Joris-Karl Huysmans‘ La Cathédrale gewesen sein, ein Buch, in dem das wiederkehrende Zünden einer Zigarette das einzige reale Lebenszeichen des Protagonisten ist. Nicht zu beanstanden ist die Plazierung des Tabaks in der Kriminalliteratur. Holmes veranstaltet in Phasen intensiven Nachdenkens wahre Rauchorgien und Elliott Gould sieht man in Robert Altmans genialer Verfilmung des Long Goodbye vom Anfang bis zum Ende nie ohne Zigarette im Mundwinkel. Ernst Herbeck hat die einerseits glasklare und dann doch wieder rätselhafte Wahrheit gültig notiert:
An Mangel an Zigaretten (cheal fags, wie es in schöner irisch-englischer Fügung heißt) sei er gestorben, behauptet in Verkennung wissenschaftlich erwiesener Wahrheit einer der Bewohner von Mairtín O’Cadhains Friedhof. Verantwortlich für seinen Tod macht er die Ladenbesitzerin, die ihm den Tabak verweigert hatte, als er knapp bei Kasse war: mein Tod ruht auf deinen Schultern, Joan - tá mo bhás ort, a Shiúán! Einräumen muß man, daß die Wissenschaft ein zweischneidiges Schwert ist. Helmut Schmidt, wie jeder weiß ein haltloser Raucher, hatten die Ärzte abgeraten - nicht daß er sie um Rat gefragt hätte – im hohen Alter von der Zigarette abzulassen, ein somatischer Schock könne anderenfalls die Folge sein. Der Dichter hat im Gespräch eingestanden, Rauch dringe schon mal unter der Tür seines Arbeitszimmers hervor nach draußen, in der Prosa aber verhält er sich abstinent, warum? Daniel Craig hatte sich verwundert gezeigt, daß er als James Bond jedwedem nach Belieben die Rübe wegblasen durfte, während schon der bloße Gedanke an Fags streng untersagt war. So sind unsere Werte, politische Korrektheit kann aber kaum der Grund für den narrativen Rauchverzicht des Dichters sein, läßt er doch ungeniert Neger, Zigeuner, Krüppel und Irre durch sein Werk ziehen. Zu vermuten sind ästhetische Gründe, ein abschreckendes Beispiel könnte Joris-Karl Huysmans‘ La Cathédrale gewesen sein, ein Buch, in dem das wiederkehrende Zünden einer Zigarette das einzige reale Lebenszeichen des Protagonisten ist. Nicht zu beanstanden ist die Plazierung des Tabaks in der Kriminalliteratur. Holmes veranstaltet in Phasen intensiven Nachdenkens wahre Rauchorgien und Elliott Gould sieht man in Robert Altmans genialer Verfilmung des Long Goodbye vom Anfang bis zum Ende nie ohne Zigarette im Mundwinkel. Ernst Herbeck hat die einerseits glasklare und dann doch wieder rätselhafte Wahrheit gültig notiert:
Die Zigarette
ist ein Monopol und muß
geraucht werden. Auf Dassie
ist ein Monopol und muß
geraucht werden. Auf Dassie
in Flammen aufgeht
Montag, 13. März 2017
Cogadh na Saoirse
Vergeltungsfeuer
Mo ghrá é Hitler, Hitler mon amour, wird unter der irischen Friedhofserde gemurmelt, aber das ist Totengewäsch und weiter nicht ernst zu nehmen. Ein Ire wird allerdings aus seinem Blickwinkel nicht Hitler oder Stalin – mit beiden ist er kaum in Berührung gekommen -, sondern Cromwell als den übelsten Menschenschlächter der Geschichte ansehen. Die Auswirkung der sogenannten Rückeroberung Irlands Mitte des siebzehnten Jahrhunderts auf die irische Bevölkerung waren harsch, die Schätzungen der Bevölkerungsreduktion sind unscharf und erreichen einen Höchstwert von 80 Prozent. Die Große Hungersnot, Gorta Mór, Mitte 19. Jahrhundert forderte erneut rund 20 Prozent der Bevölkerung. In der Summe ergibt sich der, allerdings auf einer unzulässigen Rechenoperation beruhende Wert von 100 Prozent. Der Ausbruch des Hungers ist den englischen Herren des Landes nicht unmittelbar zuzurechnen, wohl aber gilt der Vorwurf massiv unterlassener Hilfeleistung.
Mo ghrá é Hitler, Hitler mon amour, wird unter der irischen Friedhofserde gemurmelt, aber das ist Totengewäsch und weiter nicht ernst zu nehmen. Ein Ire wird allerdings aus seinem Blickwinkel nicht Hitler oder Stalin – mit beiden ist er kaum in Berührung gekommen -, sondern Cromwell als den übelsten Menschenschlächter der Geschichte ansehen. Die Auswirkung der sogenannten Rückeroberung Irlands Mitte des siebzehnten Jahrhunderts auf die irische Bevölkerung waren harsch, die Schätzungen der Bevölkerungsreduktion sind unscharf und erreichen einen Höchstwert von 80 Prozent. Die Große Hungersnot, Gorta Mór, Mitte 19. Jahrhundert forderte erneut rund 20 Prozent der Bevölkerung. In der Summe ergibt sich der, allerdings auf einer unzulässigen Rechenoperation beruhende Wert von 100 Prozent. Der Ausbruch des Hungers ist den englischen Herren des Landes nicht unmittelbar zuzurechnen, wohl aber gilt der Vorwurf massiv unterlassener Hilfeleistung.
Sprechende Namen sagen nur selten die Wahrheit. Mr. Squirrel etwa war nicht etwa besonders
eilfertig und behende, sondern, entgegen allem, was man vermuten konnte, ein
finsterer und schwerfälliger Riese. Der Ladenbesitzer
in Clarahill Mr. O’Hare, was
nichts anderes heißt als Grandchild of the Angry Man, erweist sich als
ausgesprochen leutselig und bald schon ist der wandernde Dichter mit ihm in ein
langes Gespräch über Newtons Gravitationslehre verwickelt. O’Hare ist es auch,
der ihn auf die Übernachtungsmöglichkeiten bei den Ashburys hinweist. Die Ashburys
sind aber tatsächlich wie die unter Asche vergrabenen Trümmer des englischen
Kolonialismus in Irland.
Mrs. Ashbury wußte, als sie 1946 heiratete und dann mit ihrem Mann nach
Irland übersiedelte, nach eigenem Bekunden von den irischen Dingen gar nichts. Ihr
Mann habe sich zu den irischen Verhältnissen grundsätzlich nicht geäußert,
obwohl er als Kind den Befreiungskrieg (Cogadh na Saoirse) selbst erlebt und schreckliche Dinge gesehen hatte. Er
hätte sich nicht äußern können, ohne zu urteilen, ein Urteil aber wollte er
sich nicht anmaßen. Nur weniges habe sie sich im Verlauf der Jahre
zusammenreimen können. An die dreihundert von den Engländern in Irland bewohnte
Herrenhäuser und Landschlösser waren während des Krieges niedergebrannt worden,
darunter auch das nur wenige Meilen vom Anwesen der Ashburys entfernte Haus der
Randolphs. Das Niederbrennen der Häuser, die sogenannten Vergeltungsfeuer,
galten als das wirksamste Mittel zur Ausräucherung und Vertreibung der mit der
verhaßten englischen Staatsmacht, sei es zu Recht oder zu Unrecht, identifizierten
Familien. An Personen haben sich die Aufständischen nie vergriffen. Das Haus
der Ashburys wurde nicht niedergebrannt und macht gleichwohl einen völlig erloschenen
Eindruck wie nach einem großen Feuer.
Zu Recht oder zu Unrecht. Das moderne Rechtsverständnis kennt dem
Grundsatz nach keine Schuld, die über die des Einzelnen hinausgeht, ein
Grundsatz, der in traditionellen Clangesellschaften so unbekannt wie
unverständlich war und der auch heute noch in Kriegs- und Krisenzeiten einen
schweren Stand hat. Die Ashburys sind die denkbar Unschuldigsten, und doch
fällt der Schatten der Schuld auch auf sie. Wenn sich unverschuldete Schuld
über eingeborene Unschuld legt, ist der Weg in die Heiligkeit vorgezeichnet,
zumal wenn, wie wir erfahren, das Leben der Ashburys Tag für Tag noch
unschuldiger wird. Unbewußt übt Mrs. Ashbury schon den heiligen Zustand, indem
sie zwischen den am Bibliotheksplafond angebrachten raschelnden Samenbehälter
wie zum Himmel auffahrend zur Hälfte verschwand, und selbst dem Dichter ist,
als würde er im Hause der Ashburys über einem Quecksilbersee schweben.
Donnerstag, 9. März 2017
Kudüs
Hoch oben
Thomas Bernhard hat praktisch alles beschimpft, was sich beschimpfen läßt, nicht zuletzt die unterschiedlichsten Städte, kleine und große, Städte im Norden und solche im Süden, eine eigene Sammlung seiner Städtebeschimpfungen liegt vor, und dann spricht er unversehens von Warschau als von der dunklen und schönen Stadt. Ein vergleichbares Prädikat wird in Sebalds Werk nicht vergeben, der Leser könnte es am ehesten Konstantinopel zusprechen, so wie es Adelwarth und Solomon auf ihrer Orientreise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erleben. Von Konstantinopel aus reisen sie weiter in nach Aleppo und von dort nach Beirut. Ihr letztes Reiseziel ist die osmanische Kleinstadt Kudüs, den meisten besser bekannt als Jerusalem. Lediglich ihr Gepäck geben sie in Jaffa auf die erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Bahn, selbst erreichen sie Jerusalem in einem zwölfstündigen Ritt bergauf. Zwölf Stunden bergauf, wen kann es verwundern, wenn es ihnen in der Erinnerung scheint, als blickten sie auf großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. Was sie aber dort oben auf der Höhe vorfinden, veranlaßt Adelwarth in seinem Tagebuch zu Ausführungen, die in ihrer negativen Sprachgewalt nicht zurückstehen hinter Bernhard, es ist aber nicht die Gestik des Schimpfens, sondern die des Erleidens und der Trauer: Im großen und ganzen ein furchtbarer Eindruck, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat. On marche sur des merdes. Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere und sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nirgends, und das ist für den Dichter das äußerste Verdikt, ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur der kleinste Vogel im Flug. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten, neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint, Wüstenkarawanen brachten Gewürze, Edelsteine, Seide und Gold, Kunst und Gewerbe standen in hoher Blüte – was könnte das neue Jerusalem anderes sein als die Wiederherstellung des alten.
Der Hotelier, ein Franzose, konnte beim Anblick der völlig verstaubten Reisenden nur den Kopf schütteln. Der Fremdenführer war mit einer Mordsnase ausgestattet, ein Detail, über das Adelwarth, in den Feinheiten der politischen Korrektheit nur unzureichend geschult, nicht hinwegsieht und das auf semitische Wurzeln hinweisen könnte. Was aus dem Mund des Führers hervorquillt und den Reisenden als englisch-deutsche Phantasiesprache erscheint, könnte eine Spielart des Jiddischen gewesen sein. Die Osmanen, Herren des Landes, denen der Zustand der Stadt nicht zur Ehre gereicht, lassen sich nicht blicken. Es schein, als sei Kudüs weitgehend menschenleer, und dann heißt es plötzlich, die beiden Reisenden seien aus dem von Pilgerscharen übervölkerten Jerusalem begleitet von einigen arabischen Sherpas in das tief unten gelegene Jordantal entflohen, die niedrigste Gegend der Welt überhaupt.
In Venedig verabschiedet sich Malachio mit dem traditionellen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme. Der Dichter rätselt, was er wohl gemeint haben könnte. Sicher ist es keine Verabredung zu einem Wiedersehen in der heutigen, vom Unrat bestmöglich gereinigten Stadt Jerusalem, das neue Jerusalem steht noch aus, und niemand weiß, in welchem Stadium des Apokalypse wir uns befinden. Il mondo brucia continuamente.
Thomas Bernhard hat praktisch alles beschimpft, was sich beschimpfen läßt, nicht zuletzt die unterschiedlichsten Städte, kleine und große, Städte im Norden und solche im Süden, eine eigene Sammlung seiner Städtebeschimpfungen liegt vor, und dann spricht er unversehens von Warschau als von der dunklen und schönen Stadt. Ein vergleichbares Prädikat wird in Sebalds Werk nicht vergeben, der Leser könnte es am ehesten Konstantinopel zusprechen, so wie es Adelwarth und Solomon auf ihrer Orientreise kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erleben. Von Konstantinopel aus reisen sie weiter in nach Aleppo und von dort nach Beirut. Ihr letztes Reiseziel ist die osmanische Kleinstadt Kudüs, den meisten besser bekannt als Jerusalem. Lediglich ihr Gepäck geben sie in Jaffa auf die erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Bahn, selbst erreichen sie Jerusalem in einem zwölfstündigen Ritt bergauf. Zwölf Stunden bergauf, wen kann es verwundern, wenn es ihnen in der Erinnerung scheint, als blickten sie auf großer Höhe auf die Erde hinab von einem jener Türme, die sich im Himmel verlieren. Was sie aber dort oben auf der Höhe vorfinden, veranlaßt Adelwarth in seinem Tagebuch zu Ausführungen, die in ihrer negativen Sprachgewalt nicht zurückstehen hinter Bernhard, es ist aber nicht die Gestik des Schimpfens, sondern die des Erleidens und der Trauer: Im großen und ganzen ein furchtbarer Eindruck, die neueren Bauten von einer schwer zu beschreibenden Häßlichkeit, in den Straßen große Mengen von Unrat. On marche sur des merdes. Verfall, nichts als Verfall, Marasmus und Leere und sonst einmal ums andere Kirchen, Klöster, religiöse und philanthropische Einrichtungen jeder Art und Denomination. Nirgends, und das ist für den Dichter das äußerste Verdikt, ein lebendiges Wesen, ein huschendes Tier oder auch nur der kleinste Vogel im Flug. In der Vergangenheit hat Jerusalem einen anderen Anblick geboten, neun Zehntel des Glanzes der Welt waren auf diese prachtvolle Hauptstadt vereint, Wüstenkarawanen brachten Gewürze, Edelsteine, Seide und Gold, Kunst und Gewerbe standen in hoher Blüte – was könnte das neue Jerusalem anderes sein als die Wiederherstellung des alten.
Der Hotelier, ein Franzose, konnte beim Anblick der völlig verstaubten Reisenden nur den Kopf schütteln. Der Fremdenführer war mit einer Mordsnase ausgestattet, ein Detail, über das Adelwarth, in den Feinheiten der politischen Korrektheit nur unzureichend geschult, nicht hinwegsieht und das auf semitische Wurzeln hinweisen könnte. Was aus dem Mund des Führers hervorquillt und den Reisenden als englisch-deutsche Phantasiesprache erscheint, könnte eine Spielart des Jiddischen gewesen sein. Die Osmanen, Herren des Landes, denen der Zustand der Stadt nicht zur Ehre gereicht, lassen sich nicht blicken. Es schein, als sei Kudüs weitgehend menschenleer, und dann heißt es plötzlich, die beiden Reisenden seien aus dem von Pilgerscharen übervölkerten Jerusalem begleitet von einigen arabischen Sherpas in das tief unten gelegene Jordantal entflohen, die niedrigste Gegend der Welt überhaupt.
In Venedig verabschiedet sich Malachio mit dem traditionellen Gruß: Ci vediamo a Gerusalemme. Der Dichter rätselt, was er wohl gemeint haben könnte. Sicher ist es keine Verabredung zu einem Wiedersehen in der heutigen, vom Unrat bestmöglich gereinigten Stadt Jerusalem, das neue Jerusalem steht noch aus, und niemand weiß, in welchem Stadium des Apokalypse wir uns befinden. Il mondo brucia continuamente.
Freitag, 3. März 2017
Cré na Cille
Totenleben
Auf Korsika sehen die Toten auf den ersten Blick aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. In Wales gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Man könnte meinen, ein allgemeines, wen auch gleichsam dialektal differenziertes Bild von der Seinsweise und dem Verhalten der Toten in der Hand zu halten, zumindest was die heidnisch unterfütterten Gegenden der Christenheit anbelangt - man könnte es meinen, wenn nicht Máirtín Ó Cadhain von den Verhältnissen in Irland ein ganz anderes Bild gezeichnet hätte. Hier liegen die Toten sicher in ihren Särgen und Gräbern, den Blicken und Ohren der Allgemeinheit entzogen. Untereinander aber bilden die Bewohner des Friedhofs eine eigene, in ständigem Wortaustausch begriffene Gesellschaft. Ó Cadhains Bericht von den irischen Toten in Cré na Cille (Friedhofserde) ist nichts anderes als ein wortgetreuer Protokollauszug derartiger Unterhaltungen, der dem Dichter vermutlich auf illegalem Wege von einem Sceithire (Whistleblower) zugespielt worden war. Ó Cadhains von vielen als der beste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts in irischer Sprache angesehenes Buch ist ihm also bei Licht gesehen ohne viel eigenes Zutun in den Schoß gefallen.
Neues aus der Welt der Lebenden erfahren die Grabbewohner nur von Neuzugängen auf dem Friedhof. Die frischeste Leiche ist die jüngst verstorbene Caitríona Pháidín, die ihre einstige Freundin und Nachbarin Muraed Phroinsiais nun als Grabnachbarin hat. Unaufhaltsam redet Caitríona einher, erklärt Einzelheiten ihrer Beisetzung, schwer nur kann sie es verwinden, offenbar nicht die ihr zugesagte Luxusgrabstätte erhalten zu haben. Der ohnehin bestehende Groll gegenüber ihren noch im Leben verweilenden Verwandten erhält dadurch weiter mächtig Auftrieb, von einer dem traurigen Anlaß angemessenen inneren Einkehr ist nichts zu spüren.
Ach mo léan deacrach ní fhágfaidh an marbh láthair i gcré na cille: Leider können sich die Toten in der irischen Friedhofserde nicht vom Flecken rühren und stellen also das krasse Gegenteil ihrer toten keltischen Brüder und Schwestern in Wales dar, die bunt oder grau gekleidet in Schwadronen recht munter durchs Land ziehen. Aber haben wir auch die richtige Brille auf, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Existenzformen der Toten zu tun oder vielmehr nur mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen, so wie ja auch die Lebenden, falls sie nicht vorzeitig ins Reich der Toten wechseln, Kindheit, Jugend, Reife und Alter durchlaufen. Es ist gut denkbar, daß sich Caitríona Pháidín und auch die schon seit vier Jahren in der Friedhofserde verwahrte Muraed Phroinsiais noch in der pränatalen Phase des Totenlebens befinden, angesichts der Ewigkeit des Todes besteht, anders als beim kurzen Leben, keine Eile beim Durchlaufen der verschiedenen Abschnitte. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sich auch die irischen Toten erheben aus den Gräbern erheben und an den Feldmauern entlangziehen.
Ein Detail würde aber auch dann noch der Erklärung harren. Schwadronen, bunte Uniformröcke: das suggeriert, nur männliche Tote seien unterwegs. Auf keinen Fall aber könnten wir hinnehmen, wenn die Frauen ohne Freigang an ihre Gräber gefesselt blieben. Vielleicht aber bilden sie auch einfach nur die erwähnte und weiter nicht beschriebene Mehrheit, die allein und einsam ihres Weges geht. Caitríona Pháidíns eindeutig nicht auf Abgeschiedenheit angelegtes Wesen und Denken stützt diese Annahme allerdings nicht. Letzten Endes wissen wir derzeit einfach noch zu wenig über das Totenleben, weitere Beobachtungen und Forschungen, empirischer sowohl wie theoretischer Art, sind unerläßlich.
Auf Korsika sehen die Toten auf den ersten Blick aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. In Wales gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort. Man könnte meinen, ein allgemeines, wen auch gleichsam dialektal differenziertes Bild von der Seinsweise und dem Verhalten der Toten in der Hand zu halten, zumindest was die heidnisch unterfütterten Gegenden der Christenheit anbelangt - man könnte es meinen, wenn nicht Máirtín Ó Cadhain von den Verhältnissen in Irland ein ganz anderes Bild gezeichnet hätte. Hier liegen die Toten sicher in ihren Särgen und Gräbern, den Blicken und Ohren der Allgemeinheit entzogen. Untereinander aber bilden die Bewohner des Friedhofs eine eigene, in ständigem Wortaustausch begriffene Gesellschaft. Ó Cadhains Bericht von den irischen Toten in Cré na Cille (Friedhofserde) ist nichts anderes als ein wortgetreuer Protokollauszug derartiger Unterhaltungen, der dem Dichter vermutlich auf illegalem Wege von einem Sceithire (Whistleblower) zugespielt worden war. Ó Cadhains von vielen als der beste Roman des zwanzigsten Jahrhunderts in irischer Sprache angesehenes Buch ist ihm also bei Licht gesehen ohne viel eigenes Zutun in den Schoß gefallen.
Neues aus der Welt der Lebenden erfahren die Grabbewohner nur von Neuzugängen auf dem Friedhof. Die frischeste Leiche ist die jüngst verstorbene Caitríona Pháidín, die ihre einstige Freundin und Nachbarin Muraed Phroinsiais nun als Grabnachbarin hat. Unaufhaltsam redet Caitríona einher, erklärt Einzelheiten ihrer Beisetzung, schwer nur kann sie es verwinden, offenbar nicht die ihr zugesagte Luxusgrabstätte erhalten zu haben. Der ohnehin bestehende Groll gegenüber ihren noch im Leben verweilenden Verwandten erhält dadurch weiter mächtig Auftrieb, von einer dem traurigen Anlaß angemessenen inneren Einkehr ist nichts zu spüren.
Ach mo léan deacrach ní fhágfaidh an marbh láthair i gcré na cille: Leider können sich die Toten in der irischen Friedhofserde nicht vom Flecken rühren und stellen also das krasse Gegenteil ihrer toten keltischen Brüder und Schwestern in Wales dar, die bunt oder grau gekleidet in Schwadronen recht munter durchs Land ziehen. Aber haben wir auch die richtige Brille auf, haben wir es mit zwei unterschiedlichen Existenzformen der Toten zu tun oder vielmehr nur mit unterschiedlichen Entwicklungsstufen, so wie ja auch die Lebenden, falls sie nicht vorzeitig ins Reich der Toten wechseln, Kindheit, Jugend, Reife und Alter durchlaufen. Es ist gut denkbar, daß sich Caitríona Pháidín und auch die schon seit vier Jahren in der Friedhofserde verwahrte Muraed Phroinsiais noch in der pränatalen Phase des Totenlebens befinden, angesichts der Ewigkeit des Todes besteht, anders als beim kurzen Leben, keine Eile beim Durchlaufen der verschiedenen Abschnitte. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sich auch die irischen Toten erheben aus den Gräbern erheben und an den Feldmauern entlangziehen.
Ein Detail würde aber auch dann noch der Erklärung harren. Schwadronen, bunte Uniformröcke: das suggeriert, nur männliche Tote seien unterwegs. Auf keinen Fall aber könnten wir hinnehmen, wenn die Frauen ohne Freigang an ihre Gräber gefesselt blieben. Vielleicht aber bilden sie auch einfach nur die erwähnte und weiter nicht beschriebene Mehrheit, die allein und einsam ihres Weges geht. Caitríona Pháidíns eindeutig nicht auf Abgeschiedenheit angelegtes Wesen und Denken stützt diese Annahme allerdings nicht. Letzten Endes wissen wir derzeit einfach noch zu wenig über das Totenleben, weitere Beobachtungen und Forschungen, empirischer sowohl wie theoretischer Art, sind unerläßlich.
Donnerstag, 2. März 2017
Kulturvermittler
Kalt und verachtend
Es wird niemanden überraschen, wenn er sich nach dem Betreten des Museums über den Tresenrand beugen muß, um in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau sitzen, ja, beinahe hätte man sagen können liegen zu sehen. Vom vielen Stehen ruhte sie sich aus und war vielleicht sogar ein wenig eingeschlummert. Als die Museumskassiererin sich erhob, erwies sie sich als eine Dame von sehr stattlichem Format, die zudem eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Franzosenkaiser aufwies, in dessen Geburtshaus sie als Türhüterin amtierte. Schon gar nicht wird man sich wundern, wenn auf dem oberen Absatz der schwarzen Marmortreppe eine weitere Dame wartet, die gleichfalls der napoleonischen Linie zu entstammen schien. Niemand, auch der reisende Dichter nicht, wird irgendwelche Einwände gegen diese lebendige und stumme Erweiterung der Exponate und des Ausstellungsgeschehens vorbringen. Niemals aber würde sich der Dichter einer der allseits bekannten wortreichen Museumsführungen anschließen. Lieber wandert er planlos in den Zimmern herum, geht in den ersten Stock hinunter und dann wieder in den zweiten herauf. Schon andere Besucher sind ihm lästig, wenn möglich wartet er ab, bis sie, die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchwandern, wieder verschwunden sind. Ideal ist die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, die, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor ihm, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwand. Unbehelligt fürderhin konnte er sich in das Fresco vertiefen, das der Maler Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat.
Wenn der Dichter Kulturvermittler etwa in der Gestalt von Fremdenführern nicht in Anspruch nimmt, heißt das nicht, er wisse nicht von ihnen. Die Arena in Verona war menschenleer bis auf eine Gruppe später Ausflügler, denen ein sicher nahezu achtzig Jahre alter, wenn nicht noch älterer Cicerone mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb. Der alte Mann, der wenig mehr als vier Fuß messen mochte, trug ein um vieles zu großes Jackett, das, da er bucklig war und stark vornübergebeugt ging, mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte. Die Ausflügler aber zeigten sich wenig beeindruckt von der Architektur- und Opernbegeisterung des verwachsenen Fremdenführers, der, indem er sich auf den Ausgang zubewegte, das eine oder andere seinen schönen Ausführungen noch anfügte, wobei er stets einhielt, sich umwandte und den Zeigefinger der Rechten gegen die gleichfalls stehenbleibende Gruppe erhob wie ein winziger Schullehrer vor einer um Haupteslänge ihn überragenden Kinderschar. - Der Leser ist bereit, den Ausflüglern ihre schnöde Mißachtung der klugen, in schönem Italienisch vorgetragenen Ausführungen zum Vorwurf zu machen, der Dichter aber sich verhält ganz unparteiisch. Nichts hätte er dagegen, mit dem Cicerone, ähnlich wie später mit Salvatore Altamura, in ein Zwiegespräch über die Arena einzutreten, die Redeform des Vortrags ist ihm suspekt. Im gesamten Prosawerk ist das Zwiegespräch die dominierende wenn nicht einzige Form des verbalen Austausches. Für einen Dichter, der, einem Fremdenführer nicht unähnlich, als kulturvermittelnder Hochschullehrer erwerbsmäßig Vorlesungen gehalten hat, ein auffälliger Befund.
Unter dem Portal der Grabeskirche bot sich den beiden Reisenden ein verwachsenes Männlein mit einer mordsmäßigen Nase als Führer an durch das Gewirr der ineinandergebauten Quer- und Seitenschiffe, Kapellen, Schreine und Altäre. Er hatte einen bis weit in das letzte Jahrhundert zurückdatierenden grellgelben Gehrock am Leib, und seine krummen Beine steckten in einer mit himmelblauen Streifen besetzten ehemaligen Dragonerhose. Mit winzigen Schritten tanzte er, halb stets den Reisenden zugewandt, voraus und redete in einem fort in einer von ihm wahrscheinlich für Deutsch oder Englisch gehaltenen unverständlichen Phantasiesprache. Immer wenn sein Auge die Reisenden traf, fühlten sie sich verachtet und kalt wie herrenlose Hunde. - Klein, verwachsen, auffälliger Rock, die Ähnlichkeiten mit dem Cicerone sind nicht zu übersehen und lassen die Unterschiede nur umso deutlicher hervortreten. Mit nur zwei Reisenden hat es der Führer zu tun, eine Situation nahe dem Zwiegespräch, das aber nicht zustande kommt, schon weil die gemeinsame Sprache fehlt. Als ein bösartiger Kobold erscheint der Führer, immer wenn er seinen Blick auf sie richtete, fühlten sie sich verachtet und kalt wie herrenlose Hunde: der Kafkaton, mit dem die ganz anders geartete Prosa des Dichters latent immer unterlegt ist, drängt an die Oberfläche. Es ist ein Auszug aus Adelwarths Tagebuch, der Erzähler ist nicht anwesend und kann nicht vermittelnd eingreifen. Der Erzähler selbst hatte in Verona, kaum daß der Cicerone und seine Zuhörerschaft das Theater verlassen hatten, die Augen zweier junger Männer kalt und verachtend auf sich gerichtet gespürt und eilends die Flucht ergriffen.
Durch die gleißende Leere des Jordantales geht Adelwarth und Solomon ein blinder Führer voraus, kalter und verachtender Blicke nicht fähig. Die Aufgabe des Führers besteht nicht in der Erläuterung von Kunst- und Kulturschätzen, er leitet die beiden durch unwegsames Gelände. Sprachliche Verständigung in Form von Vorträge oder Zwiegesprächen ist nicht möglich, der Führer deutet lediglich mit seinem Stab auf einen dunklen Fleck am Horizont und schreit mehrfach er-Riha, er Riha. Es ist die erste von zwei Expeditionen ins Jordantal, Schauplatz dieser ersten Expedition ist ein Traum, den Adelwarth in seinem Tagebuch festgehalten hat.
Es wird niemanden überraschen, wenn er sich nach dem Betreten des Museums über den Tresenrand beugen muß, um in einem schwarzledernen zurückgekippten Bürosessel eine jüngere Frau sitzen, ja, beinahe hätte man sagen können liegen zu sehen. Vom vielen Stehen ruhte sie sich aus und war vielleicht sogar ein wenig eingeschlummert. Als die Museumskassiererin sich erhob, erwies sie sich als eine Dame von sehr stattlichem Format, die zudem eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Franzosenkaiser aufwies, in dessen Geburtshaus sie als Türhüterin amtierte. Schon gar nicht wird man sich wundern, wenn auf dem oberen Absatz der schwarzen Marmortreppe eine weitere Dame wartet, die gleichfalls der napoleonischen Linie zu entstammen schien. Niemand, auch der reisende Dichter nicht, wird irgendwelche Einwände gegen diese lebendige und stumme Erweiterung der Exponate und des Ausstellungsgeschehens vorbringen. Niemals aber würde sich der Dichter einer der allseits bekannten wortreichen Museumsführungen anschließen. Lieber wandert er planlos in den Zimmern herum, geht in den ersten Stock hinunter und dann wieder in den zweiten herauf. Schon andere Besucher sind ihm lästig, wenn möglich wartet er ab, bis sie, die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchwandern, wieder verschwunden sind. Ideal ist die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, die, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, und einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor ihm, dem einzigen Besucher, hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag verschwand. Unbehelligt fürderhin konnte er sich in das Fresco vertiefen, das der Maler Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat.
Wenn der Dichter Kulturvermittler etwa in der Gestalt von Fremdenführern nicht in Anspruch nimmt, heißt das nicht, er wisse nicht von ihnen. Die Arena in Verona war menschenleer bis auf eine Gruppe später Ausflügler, denen ein sicher nahezu achtzig Jahre alter, wenn nicht noch älterer Cicerone mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb. Der alte Mann, der wenig mehr als vier Fuß messen mochte, trug ein um vieles zu großes Jackett, das, da er bucklig war und stark vornübergebeugt ging, mit dem vorderen Saum bis an den Boden reichte. Die Ausflügler aber zeigten sich wenig beeindruckt von der Architektur- und Opernbegeisterung des verwachsenen Fremdenführers, der, indem er sich auf den Ausgang zubewegte, das eine oder andere seinen schönen Ausführungen noch anfügte, wobei er stets einhielt, sich umwandte und den Zeigefinger der Rechten gegen die gleichfalls stehenbleibende Gruppe erhob wie ein winziger Schullehrer vor einer um Haupteslänge ihn überragenden Kinderschar. - Der Leser ist bereit, den Ausflüglern ihre schnöde Mißachtung der klugen, in schönem Italienisch vorgetragenen Ausführungen zum Vorwurf zu machen, der Dichter aber sich verhält ganz unparteiisch. Nichts hätte er dagegen, mit dem Cicerone, ähnlich wie später mit Salvatore Altamura, in ein Zwiegespräch über die Arena einzutreten, die Redeform des Vortrags ist ihm suspekt. Im gesamten Prosawerk ist das Zwiegespräch die dominierende wenn nicht einzige Form des verbalen Austausches. Für einen Dichter, der, einem Fremdenführer nicht unähnlich, als kulturvermittelnder Hochschullehrer erwerbsmäßig Vorlesungen gehalten hat, ein auffälliger Befund.
Unter dem Portal der Grabeskirche bot sich den beiden Reisenden ein verwachsenes Männlein mit einer mordsmäßigen Nase als Führer an durch das Gewirr der ineinandergebauten Quer- und Seitenschiffe, Kapellen, Schreine und Altäre. Er hatte einen bis weit in das letzte Jahrhundert zurückdatierenden grellgelben Gehrock am Leib, und seine krummen Beine steckten in einer mit himmelblauen Streifen besetzten ehemaligen Dragonerhose. Mit winzigen Schritten tanzte er, halb stets den Reisenden zugewandt, voraus und redete in einem fort in einer von ihm wahrscheinlich für Deutsch oder Englisch gehaltenen unverständlichen Phantasiesprache. Immer wenn sein Auge die Reisenden traf, fühlten sie sich verachtet und kalt wie herrenlose Hunde. - Klein, verwachsen, auffälliger Rock, die Ähnlichkeiten mit dem Cicerone sind nicht zu übersehen und lassen die Unterschiede nur umso deutlicher hervortreten. Mit nur zwei Reisenden hat es der Führer zu tun, eine Situation nahe dem Zwiegespräch, das aber nicht zustande kommt, schon weil die gemeinsame Sprache fehlt. Als ein bösartiger Kobold erscheint der Führer, immer wenn er seinen Blick auf sie richtete, fühlten sie sich verachtet und kalt wie herrenlose Hunde: der Kafkaton, mit dem die ganz anders geartete Prosa des Dichters latent immer unterlegt ist, drängt an die Oberfläche. Es ist ein Auszug aus Adelwarths Tagebuch, der Erzähler ist nicht anwesend und kann nicht vermittelnd eingreifen. Der Erzähler selbst hatte in Verona, kaum daß der Cicerone und seine Zuhörerschaft das Theater verlassen hatten, die Augen zweier junger Männer kalt und verachtend auf sich gerichtet gespürt und eilends die Flucht ergriffen.
Durch die gleißende Leere des Jordantales geht Adelwarth und Solomon ein blinder Führer voraus, kalter und verachtender Blicke nicht fähig. Die Aufgabe des Führers besteht nicht in der Erläuterung von Kunst- und Kulturschätzen, er leitet die beiden durch unwegsames Gelände. Sprachliche Verständigung in Form von Vorträge oder Zwiegesprächen ist nicht möglich, der Führer deutet lediglich mit seinem Stab auf einen dunklen Fleck am Horizont und schreit mehrfach er-Riha, er Riha. Es ist die erste von zwei Expeditionen ins Jordantal, Schauplatz dieser ersten Expedition ist ein Traum, den Adelwarth in seinem Tagebuch festgehalten hat.
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