Dienstag, 11. April 2017

Lüge

Sprachvermögen

He asked me no questions, I told him no lies

Kant war ein entschiedener Freund der Wahrheit und der Lüge abhold. Fragt dich ein Mordlustiger, durch welche Tür der Gesuchte verschwunden ist, mußt du ihm die richtige Tür weisen und nicht, um das Opfer zu retten, die falsche. Da ist es schwer, Kantianer zu sein und nicht allein Dirty Harry wird Vorbehalte formulieren. Die Antwort zu verweigern, zu schweigen, wäre doch wohl das Mindeste, oder besteht über die Vermeidung der Lüge hinaus eine moralische Auskunftspflicht? Im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung macht sich Kants Wahrheitsfreund zudem womöglich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. - Wie auch immer, Kant gründet seine Überlegungen allein auf der Morallehre, neuzeitlichere Fragestellungen auf der Grundlage von Anthropologie und Evolutionslehre waren ihm noch verschlossen. Ein Insekt nimmt die Form eines welken Blattes an, verbringt sein kurzes Leben in der Lüge und fährt gut dabei. Utilaristische Erwägungen dieser Art hätten Kant, für den die Sonderstellung des Menschen in jeder Hinsicht außer Frage stand, nur noch zusätzlich beflügelt, mehr noch allfällige Hinweise auf unsere nächsten Verwandten, die Affen, die einander auf die manninfaltigste Weise hinters Licht führen. Genau da, wird es heißen, tut sich die tiefe Kluft auf zwischen ihnen und uns, die wir dem gestirnten Himmel hoch oben und dem moralischen Gesetz tief in unserem Innern verpflichtet sind.

Der Mensch ist als Lügner nicht allein, aber nur er kann mit Worten lügen. Welchen Weg hätte wohl die Entwicklung genommen, wenn der Herr bei der Erschaffung der Sprache in Erfüllung des Traums der Philosophen nur wahre Sätze zugelassen hätte, wäre unsere Erkenntnis ins Unermeßliche gewachsen, oder wäre unser Erkenntnisvermögen alsbald aus Freudlosigkeit verdorrt und mit ihm die gerade erst erschaffene Sprache; aber waren dem Herrn nicht ohnehin die Hände gebunden, nachdem er die Lüge bereits in der sprachlosen Welt der Tiere zugelassen, vielleicht gar gefördert hatte? Ist das Vermögen zu lügen nicht geradezu eine Gabe Gottes, die wir nicht brach liegen lassen dürfen, oder ist die Lüge Teil des Bösen, das uns gegeben wurde, ihm zu widerstehen, um unsere Kraft und Freiheit zu dokumentieren?

Läßt sich aber bei der Anwendung der Sprache die Lüge überhaupt vermeiden, trägt nicht schon jede Übertreibung um der Deutlichkeit willen, jede Ausschmückung der Schönheit halber den Hauch der Lüge in sich, und nun gar erst die fiktionale Kunst. Die alten Mythen der Vorzeit lesen sich für uns wie unverhohlene Lügengeschichten und doch tragen sie Wahrheiten in sich, die auf anderem Wege nicht zu erreichen waren. Den von Schwindelgefühlen geplagten Dichter kann man als besonders perfid bezeichnen, tarnt er seine Erzählungen doch als dokumentarische Berichte, er war in Italien und im Allgäu und berichtet davon in planen und klaren Worten, wen immer das interessieren mag, so denkt man. Er berichtet aber auch von dem Hotel in Verona, wo er sich ohne ersichtlichen Grund als Jakob Philipp Fallmerayer einträgt, er wird also nicht als Lügner ertappt, sondern stellt sich plakativ als Lügner dar, was mag ihn da geritten haben: eine zweckfreie, sozusagen selbstlose Lüge, die niemandem schadet, eine schöne Lüge. Gerade erst waren ihm neue Nachweise seiner alten Identität ausgestellt worden, aber die polizeiliche Bestätigung des Paßverlustes gilt ihm als Heiratsurkunde und im Konsulat zu Mailand beeindruckt ihn die Gauklerfamilie weitaus mehr als der Konsularbeamte. Wir haben keinen Anlaß, an seinen Schwindelgefühlen zu zweifeln, gleichzeitig haben wir zunehmend das Gefühl, er schwindelt. Sollen wir ihm abnehmen, daß der Gaukler auf den Namen Giorgio Santini hört und zugleich den Hut des San Giorgio in der Hand hält, den wir aus Pisanellos Gemälde kennen, und was ist mit den undurchsichtigen Jägergeschichten, der Jäger Gracchus, dann der Jäger auf dem Dachboden der Mathild, der haargenau das Erscheinungsbild des Jägers Schlag bei Kafka hat, und schließlich der Jäger Hans Schlag im Dorf, der sich durch die eintätowierte Barke am Oberarm wiederum mehr oder weniger unstrittig als Gracchus zu erkennen gibt. Am Ende traut man keinem Satz, keinem Wort mehr und fühlt sich, befreit von der Wahrheitspflicht, froh und unbeschwert. Solange die Lüge die Wahrheit aufmuntert, kann sie ihr nicht schaden.

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