Mittwoch, 19. April 2017

Argumente

Distanz

Was geschieht, fragt Luhmann sich und uns, wenn das bessere Argument gesiegt hat und die Diskursteilnehmer auseinandergegangen sind. Kaum werden sie alle dauerhaft in einem einheitlich erleuchteten Zustand verharren, in die Köpfe kann man nicht schauen, die eine hat vielleicht nur zugestimmt, weil sie das Gerede leid war, und der andere hatte von Anfang an nicht recht verstanden, worum es geht, wieder andere haben bald vergessen, worüber und worauf man sich geeinigt hatte. Wurde der Konsens nicht protokolliert, hat er sich schon bald verflüchtigt.

Von Jahr zu Jahr fällt es Selysses schwerer, sich unter ein Publikum zu begeben, offenbar fallen Diskussionsforen zum Austausch von Argumenten auch unter das Verdikt. Auch in seinen vielen Zwiegesprächen wird nicht gestritten, meist hört er nur zu, und was er hört, gibt ihm zu denken. Nach Beendigung des Gesprächs zieht Selysses weiter, selten sehen wir ein zweites Mal im Gespräch mit der selben Person. Das Gespräch kann noch nachhallen in ihm, ci vediamo a Gerusalemme, was mag Malachio mit seinem Abschiedsgruß gemeint haben. Die meisten Gesprächspartner trifft Selysses nur einmal, Austerlitz zu wiederholten Malen, aber in größeren Abständen und immer an einem anderen Ort. Man spricht miteinander und trennt sich, legt eine Strecke zwischen sich, das ist einer der Rhythmen, die den Erzählvorgang bestimmen.

Wenn das Konklave zur Papstwahl mit dem weißen Rauch zum Abschluß bereits ein starker Einwand ist gegen die Vorstellung, nach hinreichend langem Zusammensein im Gespräch würde sich das bessere Argument, gleichgesetzt mit der Wahrheit, durchsetzen, so ist es Máirtín Ó Cadhains Roman Cré na Cille (Friedhofserde) umso mehr. Der Schauplatz ist ein kleiner Ort im Westen Irlands, unweit von Galway. Man ist immer unter sich, immer die gleichen Gesichter und Gesprächspartner, auch wenn die eine oder der andere schon mal nach Dublin fährt oder gar nach England zum Geldverdienen und mancher Verwandte in Amerika hat. Reisen können aber nur die Lebenden und die redenden Figuren des Buches sind ausschließlich die Toten auf dem Friedhof, die zwar jede körperliche Bewegungsfreiheit, nicht aber die mentale Präsenz und das Sprachvermögen eingebüßt haben. Immer beieinander und nur untereinander zum Redeaustausch fähig, versagt die konsensstiftende Macht der Sprache völlig. Bald schon hat man sich festgeredet im ewigen Dissens, um es milde auszudrücken.

Für den vorgeblich auf dem besseren Argument beruhenden Konsens ist das Auseinandergehen essentiell. Zwar setzen sofort Zerfall und Vergessen ein, gleichwohl kann das protokollierte Ergebnis durch ein Ritual, eine feierliche Bekräftigung, einen gemeinsamen Schwur, ein Edikt oder ein Gesetz wirksam mumifiziert werden. Die Sebaldmenschen leben in paradiesischen Verhältnissen, unter denen es Dissens nicht gibt und Konsens nicht notwendig ist. Das rechtzeitige Auseinandergehen scheint für die Aufrechterhaltung des glücklichen Zustands unerläßlich. Máirtín Ó Cadhain ist ein Pionier auf dem ansonsten noch wenig erforschten Gebiet der untergründigen Friedhofsgespräche, die Allgemeingültigkeit seiner Ergebnisse bedarf noch weitere Bestätigungen. L'enfer c'est les autres, darauf scheint es hinauszulaufen, wenn die anderen immer da sind und nie den Mund halten. Ganz am Schluß des Buches keimt Hoffnung, einer der Diskursteilnehmer scheint sich in heilsames Schweigen zu verabschieden: Jetzt, wo du reden könntest, schweigst du - tá cead cainte anois agat ach is cosúil gur binne leat an béal marbh. - Leat an béal marbh, dein Mund bleibt tot, eine wunderliche Bemerkung bei einem Gespräch unter Toten.

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