Aufatmen
Als vor Jahren der deutsche Politiker Trittin sich den Oberlippenbart, der als sein unverzichtbares Attribut, ja als eine Charaktereigenschaft galt, abrasierte, lief ein Schauder durch die Wählerschaft. Noch heute geben ihm nicht wenige in Gedanken, vor ihrem inneren Auge den Bart zurück. Emmanuel Carrère erzählt die gegenläufige Geschichte eines Mannes, der nach zehnjähriger Trägerschaft seinen Schnauz entfernt, und niemand, beginnend mit seiner Frau, bemerkt es und, schlimmer noch, rundum wird behauptet, er habe nie einen Bart gehabt. Die daraus erwachsende Identitätskrise - um diesen inzwischen ein wenig überholten Begriff neu zu beleben - ist leicht zu ermessen, wenn auch nicht unbedingt in der von Carrère unterbreiteten Wucht bis hin zur Selbstverstümmelung mit wahrscheinlich letalem Ausgang. Der zu Schwindelgefühlen neigende Dichter hat sich wohlweislich auf Experimente nicht eingelassen, kaum dem Kindesalter entwachsen, sehen wir ihn mit Moustache, etwaige spätere bartlose Phasen sind nicht dokumentiert. In seiner Prosa wird der Bart nicht thematisiert, in der die Prosa begleitenden Photoausstellung ist sein Personal bartlos. Es wäre auch unverantwortlich, die ohnehin labilen Gestalten, die sein Werk bevölkern, zusätzlich den Gefahren auszusetzen, die Carrère so eindrücklich schildert, Gefahren und Risiken, die allenfalls ein so robuster Mensch wie Trittin eingehen kann. Von Austerlitz haben wir kein deutliches Photo, das ihn im Mannesalter zeigt, sein Aussehen wird aber unmißverständlich dem des Siegfried in Fritz Langs Film verglichen und der ist, wie sich jeder leicht überzeugen kann, bartlos. Und doch bleibt ein Unbehagen. Auf einem der Photos, die Austerlitz vom Antikos Bazar in Terezín macht, sehen wir umrißhaft in der Schaufensterscheibe das Antlitz des Photographen, also sein eigenes, gespiegelt, und da scheint er dem Dichter ähnlicher als dem Siegfried. Die untere, bartverdächtige Gesichtshälfte ist allerdings zum einen durch die vorgehaltene Kamera und zum anderen durch die lichtstarke weiße Reiterfigur hinter der Scheibe verdeckt. Wir können vorsichtig aufatmen und uns weiter an den Siegfried halten. Endgültig verscheucht das versöhnliche Ende des Buches mit einem Austerlitz, der sich, mit oder ohne Bart, auf die Suche nach Marie de Verneuil begibt, unsere Ängste.
Als vor Jahren der deutsche Politiker Trittin sich den Oberlippenbart, der als sein unverzichtbares Attribut, ja als eine Charaktereigenschaft galt, abrasierte, lief ein Schauder durch die Wählerschaft. Noch heute geben ihm nicht wenige in Gedanken, vor ihrem inneren Auge den Bart zurück. Emmanuel Carrère erzählt die gegenläufige Geschichte eines Mannes, der nach zehnjähriger Trägerschaft seinen Schnauz entfernt, und niemand, beginnend mit seiner Frau, bemerkt es und, schlimmer noch, rundum wird behauptet, er habe nie einen Bart gehabt. Die daraus erwachsende Identitätskrise - um diesen inzwischen ein wenig überholten Begriff neu zu beleben - ist leicht zu ermessen, wenn auch nicht unbedingt in der von Carrère unterbreiteten Wucht bis hin zur Selbstverstümmelung mit wahrscheinlich letalem Ausgang. Der zu Schwindelgefühlen neigende Dichter hat sich wohlweislich auf Experimente nicht eingelassen, kaum dem Kindesalter entwachsen, sehen wir ihn mit Moustache, etwaige spätere bartlose Phasen sind nicht dokumentiert. In seiner Prosa wird der Bart nicht thematisiert, in der die Prosa begleitenden Photoausstellung ist sein Personal bartlos. Es wäre auch unverantwortlich, die ohnehin labilen Gestalten, die sein Werk bevölkern, zusätzlich den Gefahren auszusetzen, die Carrère so eindrücklich schildert, Gefahren und Risiken, die allenfalls ein so robuster Mensch wie Trittin eingehen kann. Von Austerlitz haben wir kein deutliches Photo, das ihn im Mannesalter zeigt, sein Aussehen wird aber unmißverständlich dem des Siegfried in Fritz Langs Film verglichen und der ist, wie sich jeder leicht überzeugen kann, bartlos. Und doch bleibt ein Unbehagen. Auf einem der Photos, die Austerlitz vom Antikos Bazar in Terezín macht, sehen wir umrißhaft in der Schaufensterscheibe das Antlitz des Photographen, also sein eigenes, gespiegelt, und da scheint er dem Dichter ähnlicher als dem Siegfried. Die untere, bartverdächtige Gesichtshälfte ist allerdings zum einen durch die vorgehaltene Kamera und zum anderen durch die lichtstarke weiße Reiterfigur hinter der Scheibe verdeckt. Wir können vorsichtig aufatmen und uns weiter an den Siegfried halten. Endgültig verscheucht das versöhnliche Ende des Buches mit einem Austerlitz, der sich, mit oder ohne Bart, auf die Suche nach Marie de Verneuil begibt, unsere Ängste.