Samstag, 6. Mai 2017

Quelle der Weisheit

Sage Ernest

Jeden Neuankömmling unter der Friedhofserde überfallen die Alteingesessenen mit Fragen zu den aktuellen Entwicklungen oberhalb der Erdoberfläche, der gerade eingetroffene Tomás Rua unterläuft jede Frage. Wie es dem Postmeister gehe, möchte man gern wissen, ist er gesund, oder ist mit seinem baldigen Eintreffen hier auf dem Friedhof zu rechnen? Darauf Tomás Rua: Es werde viel geredet, die einen sagen, der Postmeister sei kerngesund, die anderen sagen, er werde die Friedhofsbewohner wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen, nur ein Weiser könne die Wahrheit sagen, is críonna an té a dearfadh. Und so, nach dem gleichen Muster, bei allen Fragen, allenfalls ein Weiser hätte die Wahrheit parat. Aus welchen Quellen aber soll der Weise die diesbezügliche Wahrheit schöpfen, und wie soll sie aussehen. Die Weisheit ist ins Absurde gestürzt, in einen tiefen Schacht, den Luhmann mit den Instrumenten der Theorie erkundet hat.

Weisheit werde gewonnen auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung, also der unmittelbaren, einsamen Beobachtung eines Sachverhalts. Weisheit ist insofern demodiert, da sich in der Moderne alles Maßgebliche auf der Ebene von Beobachtungen zweiter und dritter Ordnung abspielt, also der Beobachtung eines Beobachters, wenn nicht gar der Beobachtung eines Beobachters einer Beobachtung. Unter Beobachtung schmilzt die Weisheit schnell dahin, wer dem Weisen über die Schulter schaut merkt bald, daß der gegenteilige Weisheitsspruch oft nicht weniger einleuchtend ist als die Ausgangssentenz. Alte Weisheiten, bevorzugt Bauernweisheiten, mögen in mumifizierter Form überdauern, neue kommen nicht hinzu. Cioran ist um einiges impulsiver und spürbar weniger kontrolliert als Luhmann, wenn er den Tag über in den Büchern der Weisen gelesen habe, überkomme ihn, so läßt er wissen, der kaum zu zügelnde Drang, auf die Straße zu laufen, um dem Erstbesten in die Fresse zu hauen.

Die Weisen haben es heutzutage ähnlich schwer wie die Heiligen. Nicht daß sie einander besonders ähnlich wären, die Heiligen neigen mehr zur Tollheit als zur Weisheit und gleichzeitig haben sie den Vorteil, daß sie ihr besonderes Merkmal als Namensteil mit sich tragen. Der heilige Franz mag mit dem Gesicht nach unten im Sumpfwasser treiben, der in der Höhe des Schulterblatts auf die Kutte genähte Namenszug Sanctus Franciscus Assisiensis gibt ihn gleichwohl für jedermann leicht zu erkennen als der Heilige, der er ist. San Giorgio hat allerdings seinen Namen in Giorgio Santini geändert und würde er nicht leichtsinnig den Strohhut in der Hand halten, den Pisanello ihm geschenkt hatte, bliebe seine Identität im Dunkeln.

Die Weisen verfügen über keine Institution, die ihnen ihre besondere Eigenschaft als festen Namensteil zuerkennen könnte, Sage Ernest etwa. Wir haben Jaroslaw den Weisen, aber hier handelt sich um die Hervorhebung der individuellen Eigenschaft eines Herrschers, die Jaroslaw nicht einem Kollegium der Weisen zuweist, sondern in ihn eine Reihe stellt mit anderen Herrschern mit anderen Auffälligkeiten wie Bolesław dem Kühnen oder Karl dem Kahlen. Bei der Suche nach einem Weisen im Werk des zu Schwindelgefühlen neigenden Dichters kann uns also kein Namenzusatz leiten und wir können auch nicht auf auffällige Weisheitssprüche im traditionellen Sinne hoffen, eher schon gilt es Ausschau zu halten nach mehr oder wenig auffällig als Unweisheiten getarnte Weisheiten wie: England ist bekanntlich eine Insel für sich. Wenn man nach England reisen will, braucht man einen ganzen Tag. Von dieser klaren, unaufdringlichen, nicht parfümierten Weisheit ist der rasende Cioran nicht nur entwaffnet, er ist erlöst. Oder: Die Zigarette ist ein Monopol und muß geraucht werden. Auf Dassie in Flammen aufgeht. Diese Weisheit enthält einen heilsamen Kern der Destruktion und ist dem Dichter daher besonders angenehm. Ihm ist, als habe er das Fliegen gelernt, zumindest was man braucht für einen anständigen Absturz. Zu rauchen nur des Feuers und der Flammen wegen, zu fliegen nur um abzustürzen. Auf Dassie in Flammen aufgeht: Eine gewisse Tollheit ist zu spüren, Weiser und Heiliger in eins, Sage Ernest, San Ernesto.


Keine Kommentare: