Mittwoch, 2. Mai 2018

Dünnzöpfig

Naturvölker

Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden wollenden Regen. – So wie der Erzähler auf die Tirolerinnen schaut, mit Abneigung und Unverständnis, mögen im Indianerland die weißen Siedler, Bilagáana, auf die indigene Bevölkerung geschaut haben. Diesseits der Grenze nach Tirol, in W., lebte seinerzeit der Stamm der Dünnzöpfigen, kleine, dunkle und böse Bäuerinnen und Mägde, die Mütter, Frauen und Töchter der Bauern, die bis in die Nacht hinein in dem übel beleumundeten Wirtshaus hockten und oft bis zur Besinnungslosigkeit tranken, ein übliches Verhalten bei durch den Kontakt mit der höheren Zivilisation depravierten Stämmen. Aus dem Rahmen gefallen war einzig die Romana, eine Art Pocahontas, die mit den randvollen Gläsern durch bereits angetrunkene Bauern- und Holz- knechtsgesellschaft schwebte mit einer Leichtigkeit, als sei sie von einem anderen Stern. Mittlerweile, nach dem Aussterben des Stamms der Dünnzöpfigen, ist der Engelwirt eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit. Auch seinerzeit waren die Dünnzöpfigen längst nicht mehr tonangebend im Land. Die zugewanderte Seelossippe zählte nicht zu den Dünnzöpfigen, am wenigsten die Mathild, die, mit vollem Haar und hochgewachsen, in ihrem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, etwas durchaus Heiteres an sich gehabt hat. Auch die Ladenbesitzerin Frau Unsinn, die mit einer Pyramide aus goldenen Sanellawürfeln ein Zeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit gesetzt hatte, gehört ebensowenig zu den Dünnzöpfigen wie die ehemalig Engelwirtin Regina Zobel oder gar die Modistin Valerie Schwarz aus dem Böhmischen, die zwar von geringen Körpergröße aber üppig war und ausgestattet mit einer Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat.  Auf zwei Wesen engelhafter Unsichtbarkeit, die nur einen ausgeliehenen Namen haben, den ihre Ehegatten, und keinen eigenen, ist noch einzugehen. Die blasse Frau des Dr. Rambousek war aus der mährischen Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung an das Ende der Welt gewesen ist. Nach dem Tod ihres Mannes hören wir kein weiteres Wort über sie, so als wäre sie nie dagewesen, als hätte es sie nicht gegeben. Die ebenfalls namenlose Gemahlin des aus dem Rheinischen stammenden einbeinigen Engelwirts Sallaba war dem Hörensagen nach eine sehr schöne, den Ort ganz offensichtlich von Herzen verabscheuende Frau. Als dann Sallaba eines Nachts die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört und zerschlagen hat, saß die Frau Sallaba wie vernichtet auf der Kellerstiege und weinte sich die Augen aus.

Die indigenen Frauen, die Tirolerinnen wie auch die Dünnzopfigen bleiben namenlos, ohnehin ist bei den Naturvölkern der genannte Name oft nur eine Attrappe, hinter der der wahre Name verborgen bleibt. Kleingewerbetreibende wie die Valerie Schwarz und andere haben ihren vollen Namen, die Frauen des Arztes und des Wirtshauspächters verfügen nur über den durch das Ehesakrament geliehenen Namen, der Taufname wird nicht angezeigt. Sollte man länger und intensiver nachdenken über diese Staffelung?  

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