Freitag, 8. März 2019

Bahnhofsmenschen

Zum Weltfrauentag

Nicht alle, die einen Bahnhof betreten, sind Reisende. Bahnhöfe sind da für die Abfahrt, die Ankunft, den Aufenthalt, für Genuß und Verzehr und diverse andere Verrichtungen, und es gibt die Menschen, die all das möglich machen. Die wenigen Reisenden sind inzwischen aus dem Wartesaal des Antwerpener Bahnhofs verschwunden – wurden sie an Indizien wie dem Reisegepäck verläßlich als Reisende identifiziert? – im Buffetraum gegenüber sitzt noch ein einsamer Fernet-Trinker, eher kein Reisender, sicher kann man aber nicht sein, vielleicht ist sein Anschlußzug ausgefallen, und er muß lange warten. Ortsfest mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihrem Barhocker hinter dem Ausschank und ebenso einsam wie der Fernet-Trinker ist in jedem Fall die Buffetdame, die mit vollkommener Hingabe und Konzentration ihre Fingernägel feilt. Klarer ist die Situation im Bahnhof Innsbruck. Ein Dutzend Sandler waren da versammelt und eine Sandlerin. Sie bildeten eine bewegte Gruppe um einen Kasten Gösser-Bier, der wundersamerweise, gewissermaßen aus dem Nichts hervorgezaubert, auf einmal in ihrer Mitte stand. Niemand rechnet damit, daß sie über kurz oder lang einen Zug besteigen, niemand auch wird in diesem Fall auf Gendergerechtigkeit pochen und die geringe weibliche Präsenz anprangern. Gleichwohl kann auf die angemessenere Verteilung im Stehbuffet der Ferrovia hingewiesen werden. Als eine Art feste Insel ragte das Buffet heraus aus der wie in einem Ährenfeld schwankenden Menge der Menschen. Aus Leibeskräften mußte man zunächst sein Begehren zu den auf erhobenen Posten sitzenden Kassiererinnen hinaufschreien, die nur mit einer Art Schürze bekleidet, mit lockigem Haar und halbgesenkten Blick in völliger Ungerührtheit über den Häuptern der Bittsteller schwebten und willkürlich, wie es schien, irgendeinen der von den einander durchdringenden und sich überschlagenden Stimmen vorgebrachten Wünsche herausgriffen, sodann den Preis des Verlangten hinausriefen in den Raum und huldvoll und verächtlich zugleich einem das Zettelchen und das Wechselgeld aushändigten. Einmal im Besitz des inzwischen einem schon lebenswichtig erscheinenden Billets mußte man sich in die Mitte der Cafeteria hinüberkämpfen, wo die männlichen Angestellten dieses ungeheuren Gastronomiebetriebs hinter einem kreisförmigen Buffet mit Todesverachtung geradezu dem andrängenden Volk gegenüberstanden und ihre Arbeit mit einer Gelassenheit erledigten, die vor dem Hintergrund der allgemeinen Panik die Wirkung eines zerdehnten Zeitablaufs hervorbrachte. Der Eindruck, daß hier Gericht gehalten wurde über ein korrumpiertes Geschlecht, wurde noch dadurch verstärkt, daß den weißgekleideten, würdevollen Männern, die im Inneren des Kreises offensichtlich auf einer erhöhten Plattform sich befanden, das Buffet nur etwa bis zur Hüfte reichte, den Außenstehenden hingegen bis unter die Schultern, wo nicht gar bis zum Kinn. Im Prager Bahnhof, um erneut den Schauplatz zu wechseln, setzt man weniger auf Versorgung als auf Unterhaltung, ohne allzu großen Erfolg. Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform stehen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten.

Diese Einseitigkeit, Versorgung hier, Unterhaltung dort, ist längst überwunden. Inzwischen sind einige Bahnhöfe so einnehmend gestaltet, daß man die Reisenden, die diesen Ort aus zwingenden Gründen wieder verlassen müssen, bedauern muß. Das war in den sechziger Jahren, als Selysses Austerlitz in Antwerpen traf und Szerucki durch die Straßen Warschaus ging, noch anders. Szerucki ging durch die Straßen Warschaus, weil er in dem Arbeiterhotel, wo man ihn untergebracht hatte, keinen Schlaf finden konnte, und weil das Verlangen nach einem Humpen Bier immer unwiderstehlicher wurde. Nur im Bahnhof aber wird verläßlich auch zur späten Stunde noch Bier ausgeschenkt. Er ging eine breite Straße entlang, oder, besser gesagt, ich ging auf einem breiten Trottoir, ungefähr fünf Meter breit, zwischen wohlgepflegten Alleebäumen, die daneben verlaufende Straße war fünfmal so breit. Auf beiden Seiten ergingen sich die Menschen, zu zweit, zu dritt, auch in größeren Gruppen, die Männer außen, lachende Frauen in der Mitte. Gleich als er den Bahnhof betritt, macht sich das weibliche Element auf andere Weise eindringlich geltend. Mitten in der großen Halle schlägt eine Frau einem Mann ins Gesicht und läuft davon, er bleibt regungslos stehen, fixiert von den Blicken der anderen. Die Schlange am Ausschank ist so lang wie samstags die beim Fleischer, nun aber schäumt das Bier in Szeruckis Krug. So ist es immer und überall, jedni się śmieją, inni stoją cicho.

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