Montag, 4. März 2019

Geworfen

Emigrationsreifeprüfung

Wir seien geworfen in diese Welt, wurde gesagt, konkret von Wurf anstelle von Geburt wird aber nur bei bestimmten Tierarten gesprochen, bei Hunden und Katzen etwa, Tiere, für die Mehrfachgeburten die Regel sind. Neugeborene Vertreter der Gattung Homo sapiens, Einzelgänger im Normalfall, werden, wenn sie denn für einen Augenblick als Geworfene gelten mögen, sogleich schon aufgefangen und als Erdenbürger begrüßt, als neue Bürger auf Erden, als Angehöriger einer menschlichen Gemeinschaft im Kleinen und im Großen, einer Gemeinschaft, die unverzüglich mit ihrer Prägearbeit beginnt. In rasendem Tempo errichtet sich um den Erdenbürger herum die Sprache, bald kennt er seinen Namen und der lautet nicht Kaspar Hauser. Unterstützung wird auch bei der körperlichen Entwicklung gewährt, der kleine Mann, die kleine Frau genießen die Begeisterung der Umstehenden über die ersten Schritte im aufrechten Gang, man applaudiert ihr, nun steht die Erdenbürgerin tatsächlich auf der Erde, sie hält inne, und, verwundert noch immer über das Geworfensein in diese seltsame Welt, läßt sie sich fallen. Der nächste Schritt ist die Gewöhnung an die modernen Verkehrsmittel. Das Kind hat sich auf seinem Dreirädchen meist auf der untersten des Emporiums fortbewegt, in den Schluchten zwischen des Ladentischen, Kästen und Budeln und durch die Vielfalt an Gerüchen hindurch unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen sind. Ein friedlicher Abschluß seiner Erdeneinbürgerung ist Paul Bereyter nicht beschert gewesen, da sich schon bald die Nazis der Juden und des Emporiums der Bereyterfamilie angenommen haben. Der Dichter erzählt bevorzugt von Menschen, die als junge Erdenbürger exiliert wurden, bevor sie die Emigrationsreifeprüfung hatten ablegen können. Austerlitz begegnet uns gleich auf dem Einband der Taschenbuchausgabe im Kostüm des Rosenkavaliers noch in der Frühphase des Erdenbürgerwesens. Schon bald wird ihm der gesamte bisherige Abschnitt seines Lebens mitsamt dem Kostüm und der in Prag erlernten Sprache weggeschnitten, weiße Taschentücher, mit denen die zurückbleibenden Eltern den ins Exil fahrenden Kindern nachwinken, flattern gleich einer auffliegenden Taubenschar dem Zug hinterdrein. Seine zweite Kindheit in Wales ist wie das Leben in einer schwarzen Box, in die erst mit dem Erinnerungserlebnis in der Liverpool Station Licht einzudringen beginnt. Von Adelwarth heißt es, er habe nie eine Kindheit gehabt. Schon als Fünfjähriger ist er zusammen mit der kaum älteren Schwester Minnie auf den Wochenmarkt geschickt worden zum Verkaufen der von ihnen am Vortag gesammelten Pfifferlinge und Preiselbeeren. In den Herbst hinein haben die beiden manchmal wochenlang nichts anderes getan als Hagebutten heimzuholen, sie einzeln alle aufzuschneiden und die roten Fruchtschalen durch die Presse zu treiben. Wer mag entscheiden, was nachteiliger ist, eine abgebrochene Kindheit oder gar keine. Selwyns Kindheit ist, genauer betrachtet, weder das eine noch das andere. Die Eingewöhnung in England gelingt geradezu nahtlos, dank der wunderschönen jungen Lehrerin Lisa Owen, der er jedes Wort von den Lippen abliest, erlernt er das Englische wie im Traum. Später erlauben ihm die üppigen Einnahmen als Chirurg, vor allem aber das Vermögen seiner Frau Hedi zeitweise ein sogenanntes Playboydasein. Die karge frühe Kindheit in einem litauischen Dorf nahe Grodno, die Jahre im Cheder, der sanfte Kinderlehrer, das ist aber keineswegs vergessen und erscheint schließlich als das wahre, gestohlene Glück. Bei Aurachs Abschied flattern keine weißen Taschentücher im Wind. In der Erinnerung sieht er die Eltern beim Hinausfahren auf das Oberwiesenfeld im Fond des Mietwagens sitzen, auf dem Oberwiesenfeld draußen aber sieht er sie schon nicht mehr. Er hat die Eltern nicht wieder gesehen.

Die frühen Wunden heilen schwer oder gar nicht und können im Alter, nach langer Latenz, wenn sie schon längst als vernarbt gelten, tödlich aufbrechen. Selwyn, Bereyter, Adelwarth und Aurach suchen den Tod, als wir Austerlitz zum letzten Mal sehen ist er auf der Suche nach seinem Vater und nach Marie de Verneuil, seine Ende wird uns vorenthalten oder bleibt uns erspart.

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