Sonntag, 29. November 2020

Evolution des Schönen

L'art pour l'art



Jeder wohl denkt, Kunst ist allein Menschensache, wenn man denn die Götter aus dem Spiel läßt, Apoll etwa und die Musen. Und doch, wer an einem Spätsommerabend vom Garten her lauscht, wie die Amsel, besser der Amsel, immer wieder vom Leitungsdraht herab sein Liedchen schmettert, ist verunsichert, diese Schönheit, diese Vielfalt, dieser Ideenreichtum, diese Raffinesse. Die Evolutionslehre in ihrer einfachen Form beruhigt, alles nur Arterhaltung, wenn auch mit dem erfreulichen Nebeneffekt der Schönheit, das anmutigste Weibchen erwählt den besten Sänger, beider Gene sind unschlagbar, was könnte der Art widerfahren? Was aber ist mit dem Keulenflügel-Manakin*, der seine Gesänge nicht aus der Kehle, sondern vermittels Flügelschlag erzeugt. Zu dem Zweck verstärkten sich die Federkiele im Evolutionsverfahren erheblich, bei den stillen Weibchen unnötigerweise gleich mit, die Flugfähigkeit des Männchens leidet darunter signifikant, die des Weibchens immerhin spürbar, die Art ist offenkundig geschädigt, im Nachteil. L’art pour l’art der Evolution, ohne Rücksicht auf Verluste?

Das Balzverhalten vieler Vögel belegt, daß auch die Kunstform des Tanzes in den Kompetenzbereich des Federvolkes fällt. Damit könnte ihre Beteiligung am Kunstgeschehen als abgeschlossen gelten, wenn nicht die Laubenvögel wären, die das künstlerische Agieren der Vogelwelt zum einen um die Architektur und zum anderen um die bildende Kunst erweitern. Die Lauben selbst sind bei einigen Arten architektonische Wunderwerke, der Hüttengärtnervogel (Amblyornis inornata) dekoriert überdies den Zugangsweg zur Laubenhütte in einer Weise, die an Produkte der modernen bildenden Kunst erinnert. Die traditionelle Malerei ist den Vögeln naturgemäß nicht zugänglich, da es sich vorwiegend um erzählende, also Sprache voraussetzende Bildwerke handelt, die Bildwerke Giottos, Fra Angelicos und anderer mehr, gehe es um Ruth, um Hagar, oder um die heilige Jungfrau selbst,  sind erzählende Theopoesie (Sloterdijk) in Bildform. Der Zugang zur Sprache aber ist den Tieren verschlossen, das Plappern des Papagei darf uns nicht in der Irre führen, Bedeutung wird nicht mitbefördert. Literatur als Kunstform ist dem Menschen vorbehalten. Die Schwierigkeit für die Literatur liegt darin, daß der Alltagsgebrauch der Sprache sie stärker belastet, als es bei den Klängen und Bildern der Fall ist. Wenn Sergio Chejfec urteilt: Sebald ramène le lecteur à une position souvent perdue depuis longtemps: l'admiration et le pur plaisir esthétique, heißt das, diese Schwierigkeit wurde überwunden, sofern, woran wir glauben, Chejfecs Urteil zutrifft.

*Richard O. Prum, The Evolution of Beauty



Samstag, 14. November 2020

Telephon

Zurück zum Wendepunkt


Er glaubte, seiner seit Tagen anhaltenden Sprachlosigkeit durch einen Telefonanruf ein Ende machen zu können, die drei oder vier Personen aber, mit denen er unter Umständen hätte reden wollen, waren alle auswärts und auch durch das längste Läutenlassen nicht herbeizubringen. Hat er tatsächlich versucht anzurufen, wo wir doch sonst fast nie davon hören, daß er zum Telephon greift? Man nimmt an, daß die Treffen mit Herbeck, Salvatore Altamura, Farrar, dem Ehepaar Hamburger, Alec Garrard sowie zahlreiche Treffen in Amerika telephonisch vereinbart wurden, ausdrücklich bestätigt wird das nicht. Anne Hamburger bestellt telephonisch ein Taxi, als der Besuch in ihrem Hause endet. Der Dichter steht, wie er mehrfach hervorgehoben hat, in der Nachfolge der Erzähler des 19. Jahrhunderts, als es für eine Weile noch schien, als könne alles anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Zahlreiche Romane aus dieser Zeit würden geradezu in sich zusammenfallen, wenn man die Figuren nachträglich mit einem Telephon ausrüsten wollte. Dostojewskis späte Romane Бесы und Братья Карамазовы etwa leben in nicht geringem Ausmaß vom fernsprechfreien Botenwesen. In Бесы ist der Icherzähler Anton Lawrentjewitsch G. ständig unterwegs zwischen den Parteien, er bestimmt den Tonfall des Buches. In Карамазовы fällt die Rolle des Botengängers gar dem von Dostojewski zum Protagonisten des Romans erklärten Aleksej Karamasow zu. Sicherlich will der Dichter sich nicht nachträglich in die Reihe der Autoren des neunzehnten Jahrhunderts einreihen, indem er mehr oder weniger auf das Telephon verzichtet, er spricht aber dem, was nach dem Zeitpunkt kam, vor dem vielleicht alles noch hätte anders kommen können, keine maßgebliche Bedeutung zu. Die digitalen Erweiterungen des Telephons wie E-Post und Internet bleiben von der Prosa ausgeschlossen, allerdings waren sie in der erzählten Zeit auch noch nicht ausgereift. Der sparsame Umgang mit technischen Gerät betrifft nicht allein das Nachrichtenwesen, sondern in gleichem Maße die Verkehrsmittel. Die schon das neunzehnte Jahrhundert prägende Eisenbahn bleibt unbehelligt. Das Automobil hingegen findet kaum Gnade, es hat nur wenige gute Momente, so etwa, als der Onkel Kasimir es so langsam bewegt, daß es schon wider seine Natur ist, so langsam, wie man noch nie jemand auf freier Strecke hat fahren sehen. Der Zenit dessen, was sich positiv zum Auto sagen läßt, ist erreicht, als der Erzähler dank der zeitlupenhaft langsamen Überholvorgänge auf dem Highway Zeit findet, mit den Insassen des Nachbarautos wortlos Freundschaft schließen kann. Auch das Flugzeug als Verkehrsmittel findet keine Zustimmung. Der erste Flug des Erzählers, von Zürich nach Manchester, ist kein beglückendes Erlebnis, den Flügen in die USA wird als solchen keine Beachtung geschenkt, man steigt auf an dem einen Ort und landet an dem anderen, mehr ist nicht zu sagen. Eine ganz andere Kategorie sind die Cessnas y similares, die den mythischen Menschheitstraum vom Fliegen technisch umsetzen. Irgendwann aber trifft auch Gerald Fitzpatrick das Schicksal des Ikaros, er kehrt von einem seiner Flüge über die Alpen nicht zurück.

Dienstag, 10. November 2020

Nicht volljährig

Altersstufen


Wir lernen Adroddwr, den Erzähler, 1980 bei seiner ersten Italienreise kennen, ein Mitdreißiger, wenn man ein dem des Autors ähnliches Geburtsdatum annimmt. Er ist nicht im Normalzustand, seine Zugehörigkeit zur gutbürgerlichen Gesellschaft allenfalls verschwommen erkennbar. In Wien, der ersten Station der Reise, hat er keinen Menschen, mit dem er sprechen kann, für ein Gespräch ist er auf Dohlen und Amseln angewiesen. Bedrohliches erhebt sich diffus im Hintergrund, zwei Augenpaare, die sich, so nimmt er es wahr, nicht wohlmeinend immer wieder auf ihn richten. Sieben Jahre später, bei der zweiten Italienreise, hat er das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten. Diesmal ist ein Übermaß an Menschen in Gestalt des Ferienvolks das Hindernis, gleich nach der Ankunft, noch in der Bahnhofshalle, stößt er auf ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. In Limone ist noch um Mitternacht das ganze Ferienvolk paar- und familienweise unterwegs, eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Tagsüber sieht es besser aus, Luciana Michelottis Gäste vergnügen sich auf der Terrasse, nur Adroddwr sitzt und schreibt in der Gaststube, ab und zu blickt er hinüber zu Luciana, die an der Theke wirtschaftet. In den Ringen des Saturn, Adroddwr hat nahezu die fünfzig erreicht, sind seine Gastfreunde in idealer Weise sortiert, der Richter Farrar, der Dichter Michael Hamburger, seine Frau Anne, der Zuckerexperte de Jong, der Tempelmodellbauer Alec Garrard, einer nach dem anderen, der Reihe nach. In Ritorna in patria werden Blicke auf diverse Ereignisse aus der Kindheit des Erzählers geworfen. Im zweiundzwanzigsten Lebensjahr, also bereits volljährig, trifft er mit dem Flugzeug in Manchester ein, aus seiner Jugendzeit im engeren Sinn erfahren wir so gut wie nichts, nur daß er zwischen dem sechzehnten und siebzehnten Lebensjahr versuchte, die Geistes- und Körperhaltung eines Hemingway-Helden an sich auszubilden versuchte, ein Projekt, das allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Mit dem Haus, das Clara unversehens kauft, ist die Jugendzeit dann gültig abgeschlossen.

Bei Modiano lernen wir, daß Adroddwr, abgesehen von dem Nachklang in Manchester, die einerseits entscheidenden, andererseits gefährlichen Jahre der Persönlichkeitsbildung ausgelassen hat. Die Jahre vor der Volljährigkeit sind der Abschnitt, in dem die meisten Romane Modianos ihr Spielfeld haben. Der Protagonist ist nicht volljährig, täuscht aber mit verfälschten Papieren Volljährigkeit vor. Er trifft ein Mädchen, eine junge Frau, die einige Jahre älter und erheblich lebenserfahrener ist als er, sie bewegt sich, wie viele Figuren Modianos, in einem Nebel von Verbrechen und Ausnutzung, in Gesellschaft von Schiebern, Spielern, Kriminellen, einer korrupten, scheinbar unwirklichen Gesellschaft, vermutlich das wahre Leben, aber es kann auch ganz anders ausgehen. Den jungen Mann interessiert das alles nicht, er und das Mädchen sind für einige Zeit wie Märchenkinder ohne Eltern, Jeannot et Margot. Gisèle (Un cirque passe) kommt dann aber bei einem Autounfall ums Leben, Jaqueline (Du plus loin de l‘oubli) ist plötzlich verschwunden, verheiratet mit einem anderen, wie sich fünfzehn Jahre später zeigt. Odile (Une jeunesse) ist gerade fünfunddreißig Jahre alt geworden, als wir sie kennenlernen, sie ist mit Louis ihrem Jugendfreund verheiratet und hat zwei Kinder. Die Mühen und Gefahren der Jugend sind so gut wie vergessen. Wenn man den Autor, Modiano, selbst als einen seiner Protagonisten betrachtet, so hat er im Alter von fünfundzwanzig Jahren seine Jugend endgültig abgeschlossen, indem er eines der Mädchen aus seinen Büchern, neunzehn Jahre alt und ohne erkennbare zwielichte Momente, geheiratet hat. Und weil sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.

Donnerstag, 5. November 2020

Ärztliche Kunst

Allgegenwärtig


Diverse Fachleute der Literatur können weder bei Dostojewski noch bei Sebald Humor entdecken, Dostojewski scheitert in ihren Augen an seiner anhaltenden Gedankenschwere und der fortwährenden Frage nach dem Grund der Dinge, Sebald an seiner lückenlosen Melancholie. Diese wissenschaftliche Sicht ist leicht zu widerlegen, und das sogar für beide Autoren am gleichen Motiv, dem der ärztlichen Kunst. Zu Dmitri Karamasows Verhör hat das Gericht drei Ärzte zwecks Klärung des Geistes- und Gemütszustandes des Angeklagten berufen. Da ist zunächst der örtliche Arzt Herzenstube, ein älterer freundlicher Mann deutscher Herkunft und scheuer Bewunderer der Weiblichkeit. Aus dem Umstand, daß Dmitri beim Betreten des Gerichtssaals mit raumgreifenden Schritten zu seinem Platz eilt, ohne nach links oder rechts zu schauen, leitet Herzenstube eine seelische Verwirrung und verminderte Zurechnungsfähigkeit ab. Im Normalzustand hätte Dmitri als bekennender und nicht sonderlich scheuer Frauenliebhaber unbedingt nach links geschaut, dort wo die Damen im Gerichtssaal ihren Platz haben. Der von Katerina Iwanowna eigens aus Moskau bestellte teure Modearzt gibt seinem gelehrten Kollegen, wie er spöttisch anmerkt, grundsätzlich recht, allerdings hätte Dmitri seinem verläßlichen ärztlichen Urteil zufolge nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts zum Platz seines Verteidigers schauen müssen, von dem allein er Rettung erwarten konnte. Den Reigen beschließt der erst seit kurzem in der Gegend niedergelassene junge Arzt Warwinski, der bestätigt, Dmitri habe unbedingt, so wie geschehen, nach vorn schauen müssen, dorthin wo das Gericht sitzt, von dem allein sein Schicksal abhänge. Dmitri pflichtet ihm lauthals bei, was ihm einen weiteren Ordnungsruf einbringt. Offensichtlich handelt es sich um eine humoristische Persiflage auf die ärztliche Kunst im Bereich der medizinischen Seelenkunde. Für den weiteren Prozeßverlauf haben die unterschiedlichen Diagnosen kaum Bedeutung. Im Voralpenort W. obliegt die Gesundheitsfürsorge dem rustikalen Dr. Piazolo, seine Popularität in der Bevölkerung ähnelt der Herzenstubes. Obwohl er inzwischen auf die Siebzig zugeht, sieht den man ihn zu jeder Morgen- und Abendstunde auf seiner siebenhundertfünfziger Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Orten hin und her fahren, oft im Verein mit seinem Doppelgänger oder Schattenreiter, dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte. Einmal hätten die beiden im Adlerwirt beieinandergesessen und dann ihre Rucksäcke, die einander bis aufs Haar glichen, vertauscht, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zum nächsten Patienten und der Pfarrer mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Gemeindemitglied gekommen sei. Es ergibt sich eine Art von Verdoppelung, so daß man, je nach Bedarf fast von zwei Ärzten oder zwei Pfarrern sprechen möchte. Als dritter Arzt gesellt sich, ähnlich dem Dr. Warwinski beim russischen Gericht, in der Ortschaft W. der Dr. Rambousek hinzu, ein aus dem Mährischen zugewanderter Arzt, der aber im Allgäu kaum Fuß fassen konnte. Seinen am besten mit dem Wort levantinisch bezeichneten Gesichtszüge, den großen dunklen Augen, den allzeit zur Hälfte gesenkten Lider, seinem ganzen irgendwie abgewandten Habitus nach war er zu den von Haus aus Untröstlichen zu rechnen. Man fand ihn schließlich tot in seinem Drehsessel, den Oberkörper auf der Schreibtischplatte liegend, ein Vorkommnis, das den von den beiden Motorradartisten eingeführten Komödienton mit Slapstick-Charakter naturgemäß ein wenig dämpft.