Donnerstag, 5. November 2020

Ärztliche Kunst

Allgegenwärtig


Diverse Fachleute der Literatur können weder bei Dostojewski noch bei Sebald Humor entdecken, Dostojewski scheitert in ihren Augen an seiner anhaltenden Gedankenschwere und der fortwährenden Frage nach dem Grund der Dinge, Sebald an seiner lückenlosen Melancholie. Diese wissenschaftliche Sicht ist leicht zu widerlegen, und das sogar für beide Autoren am gleichen Motiv, dem der ärztlichen Kunst. Zu Dmitri Karamasows Verhör hat das Gericht drei Ärzte zwecks Klärung des Geistes- und Gemütszustandes des Angeklagten berufen. Da ist zunächst der örtliche Arzt Herzenstube, ein älterer freundlicher Mann deutscher Herkunft und scheuer Bewunderer der Weiblichkeit. Aus dem Umstand, daß Dmitri beim Betreten des Gerichtssaals mit raumgreifenden Schritten zu seinem Platz eilt, ohne nach links oder rechts zu schauen, leitet Herzenstube eine seelische Verwirrung und verminderte Zurechnungsfähigkeit ab. Im Normalzustand hätte Dmitri als bekennender und nicht sonderlich scheuer Frauenliebhaber unbedingt nach links geschaut, dort wo die Damen im Gerichtssaal ihren Platz haben. Der von Katerina Iwanowna eigens aus Moskau bestellte teure Modearzt gibt seinem gelehrten Kollegen, wie er spöttisch anmerkt, grundsätzlich recht, allerdings hätte Dmitri seinem verläßlichen ärztlichen Urteil zufolge nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts zum Platz seines Verteidigers schauen müssen, von dem allein er Rettung erwarten konnte. Den Reigen beschließt der erst seit kurzem in der Gegend niedergelassene junge Arzt Warwinski, der bestätigt, Dmitri habe unbedingt, so wie geschehen, nach vorn schauen müssen, dorthin wo das Gericht sitzt, von dem allein sein Schicksal abhänge. Dmitri pflichtet ihm lauthals bei, was ihm einen weiteren Ordnungsruf einbringt. Offensichtlich handelt es sich um eine humoristische Persiflage auf die ärztliche Kunst im Bereich der medizinischen Seelenkunde. Für den weiteren Prozeßverlauf haben die unterschiedlichen Diagnosen kaum Bedeutung. Im Voralpenort W. obliegt die Gesundheitsfürsorge dem rustikalen Dr. Piazolo, seine Popularität in der Bevölkerung ähnelt der Herzenstubes. Obwohl er inzwischen auf die Siebzig zugeht, sieht den man ihn zu jeder Morgen- und Abendstunde auf seiner siebenhundertfünfziger Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Orten hin und her fahren, oft im Verein mit seinem Doppelgänger oder Schattenreiter, dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte. Einmal hätten die beiden im Adlerwirt beieinandergesessen und dann ihre Rucksäcke, die einander bis aufs Haar glichen, vertauscht, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zum nächsten Patienten und der Pfarrer mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Gemeindemitglied gekommen sei. Es ergibt sich eine Art von Verdoppelung, so daß man, je nach Bedarf fast von zwei Ärzten oder zwei Pfarrern sprechen möchte. Als dritter Arzt gesellt sich, ähnlich dem Dr. Warwinski beim russischen Gericht, in der Ortschaft W. der Dr. Rambousek hinzu, ein aus dem Mährischen zugewanderter Arzt, der aber im Allgäu kaum Fuß fassen konnte. Seinen am besten mit dem Wort levantinisch bezeichneten Gesichtszüge, den großen dunklen Augen, den allzeit zur Hälfte gesenkten Lider, seinem ganzen irgendwie abgewandten Habitus nach war er zu den von Haus aus Untröstlichen zu rechnen. Man fand ihn schließlich tot in seinem Drehsessel, den Oberkörper auf der Schreibtischplatte liegend, ein Vorkommnis, das den von den beiden Motorradartisten eingeführten Komödienton mit Slapstick-Charakter naturgemäß ein wenig dämpft.

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