Gemessen an Grönland, mit mehr als zwei Millionen Quadratkilometern die größte Meeresinsel, ist Korsika mit weniger als neuntausend Quadratkilometern ein Zwerg, eine Riese aber im Vergleich zur Peterinsel im Bieler See, die weniger als zwei
Quadratkilometer mißt, eine paradiesische Miniaturwelt mit den Worten des
Dichters, in der der für kurze Zeit dort beherbergte Rousseau eine Regelung für
die größere Insel, das Projet de constitution pour la Corse, entworfen
hat. Das unbedachtes Einzäunen eines Gartengeländes und seine Erklärung als
Eigentum habe gereicht, die ursprüngliche Gleichheit der Menschen nachhaltig zu
stören, so Rousseau im Discours sur l’inégalité. Die Korsen aber seien
fast noch im Naturzustand und gesund, heilbar jedenfalls, so urteilt er ohne
viel Empirie. Von der Insel könne ein Neubeginn in Form einer Rückkehr zur
wahren Menschlichkeit ausgehen. Dafür sei eine Isolation der Insel von der
sündigen Außenwelt erforderlich, das Leben auf Korsika sei als umfassender nationaler
Kibbuz zu organisieren. Il faut que tout le monde vive et que personne ne
s’enrichisse, daher ist das Geld, als die Quelle allen Übels, wieder
abzuschaffen. Rousseaus Leben fällt in die Zeit, als man sich daran machte, Gott
zu entlasten und das weitere Geschick der Menschheit der Vernunft zu
überantworten, was immer man darunter verstehen mochte. Gott ist nicht beiseite
geschoben, bei seinem Namen schwören die Korsen unter Rousseaus Anleitung auf
die Wege der Vernunft. Die soziologische und ökonomische Ahnungslosigkeit ist wahrhaft
unbefleckt, erst gut zweihundert Jahre später ruft Luhmann: Nie wieder
Vernunft! Mit den Worten des Dichters: Das Korsikaprojekt ist ein Traum, in
welchem der immer mehr auf Warenproduktion, Handel und Akkumulation sich ausrichtende
Gesellschaft die Rückkehr in unschuldigere Zeiten verheißen wird. Auch die
moderneren Verfassungen, etwa das deutsche Grundgesetz, als Richtschnur
menschlichen Verhaltens erreichen keineswegs die Stabilität des Dekalogs und
müssen ständig neu justiert und ergänzt werden. Die Tendenz, alles
Wünschenswertes ins Grundgesetz hineinzuschreiben, ist eine verkappte Rückkehr
zur ohnehin hoffnungslos überlasteten Vernunft. Die unanwendbare Abkehr vom
Kibbuz und die Hinwendung zum fortwährenden Fortschritt führen, wie Rousseau
ahnte, an den Rand des Abgrunds. Alle Wege der Menschen führen gefährlich nah am
Abgrund vorbei, auch wenn man immer wieder für längere Zeit glauben will, es
sei nicht so.
Hat Rousseau selbst
seinem Traum vertraut? Er war eingeladen, auf Korsika zu wohnen und zwar in Viscuvatu,
einer kleinen, eng zusammengebauten Stadt, einer paradiesische Miniaturwelt,
allerdings auf festem Boden, das Wasser kaum sichtbar. Ein Aufenthalt in Viscuvatu
hätte dem von Verfolgung und Verfolgungswahn gleichermaßen Geplagten
wohl gut getan, gleichwohl schlägt er die die Einladung aus, neben anderen
Gründen wohl auch aus Zweifel an der Stichhaltigkeit seines Projekts. Die Constitution
pour la Corse ist über vorbereitende Seiten nicht hinausgekommen.
Stattdessen hatte Rousseau sich Experimenten zugewandt, die ihn überzeugten, daß
der Mensch, wie im übrigen auch die Tiere, aus Glas hervorgegangen ist und nach
dem Tode auch wieder zu Glas werden kann etwa in der Form schöner leuchtender,
durchsichtiger Vasen. Auch dieser hoffnungsvolle, in seiner Bedeutsamkeit nicht
zu unterschätzende naturwissenschaftliche Ansatz hat sich letzten Endes nicht bestätigt.
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