Gespräche und Schweigen
Das Ferienvolk ist für nähere Bekanntschaften nicht geeignet, die Einzelnen sind nicht einmal unterscheidbar, eine riesige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts, lauter Lemurengesichter, die, verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwanken. Oder man stößt auf sie in einer Bahnhofshalle, hingestreckt wie von schweren Krankheit liegen sie da, ein wahres Heer in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen. Der Dichter versteht es, sich abzusetzen vom Ferienvolk, im überfüllten Zug nach Venedig sitzt er im Gang auf dem Rucksack, versunken in seine Aufzeichnungen auf den Knien und schaut erst wieder auf, als die Lagune erreicht ist. Er läßt sich so gut wie nur auf Gespräche mit Einzelpersonen ein, Herbeck, Malachio, Salvatore, Austerlitz. Da er seine eigenen Gesprächsanteile weitgehend unterschlägt, verwandeln sich die Dialoge mehr oder weniger in Referate. Die Ausnahme ist die Zweisamkeit mit Luciana, ihre Feriengäste haben sich auf der Terrasse versammelt, er sitzt schreibend in der Gaststube, allein aber nicht einsam. Luciana serviert ihm in geregelten Abständen einen Espresso und interessiert sich für seine Aufzeichnungen. Auch Ehepaare, üblicher Weise zwei, treten als Einzelpersonen auf. Nach längeren Ausführungen Hamburgers tritt Anne, die ein paar Stunden ausgeruht hatte, ins Zimmer, nun ist sie an der Reihe. Lina berichtet ausführlich über das, was sie von Ambros Adelwarth weiß, nun ist Kasimir, der zusehends unruhiger wird, an der Reihe: I have got to get out oft he house! Im Auto sitzen dann allein der Dichter und Kasimir. In Wien hat der Dichter gar niemand, mit dem er ein Wort wechseln könnte, abgesehen von den Dohlen und einer weißköpfigen Amsel – aber leidet er darunter, ist die Einsamkeit ihm nicht recht, für eine gewisse Zeit zumindest? In der Nationalgalerie London vermag er die Gemälde erst betrachten, als die mit dem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der durchwandernden Besucher samt und sonders verschwunden sind und er allein mit sich selbst. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Cioran während seine Aufenthalts auf Ibiza mit irgend jemandem gesprochen hätte, warum auch. Er steht zwischen drei und vier Uhr auf, das Ferienvolk hat sich zu dieser Zeit weitgehend verflüchtigt. Auf einem Felsen sitzend erwartet der Philosoph das Morgenlicht, es kommt nicht von oben, sondern von den umgebenden Felsen, so als habe es sich dort versteckt. Die Transformation der Materie ist für einen Augenblick so schön und irreal wie kaum noch etwas, aber was hilfts, das Auto, das Flugzeug und der Transistor, dieses Dreigestirn, so Cioran, habe die letzten Spuren des Paradieses so gut wie vernichtet.
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