Sonntag, 23. Dezember 2012

Andante sostenuto

Das Ethos des Dichters

Verschiedentlich ist der Sound der Sebaldschen Prosa gerühmt und insgeheim getadelt worden. Unter den Musikern wird ein Sound eher James Last als Robert Schuhmann zugeschrieben. Im deutschen und überdies im literarischen Kontext hat das englische Wort vollends etwas unmittelbar Herablassendes. Die Musikalität der Sätze steht im Verdacht, dem Ernst der Dinge nicht angemessen zu sein und spätestens angesichts der ernstesten Dinge, wie es der Holocaust ist, habe sich jedwedes embroidery und jedwede Phrasierung, so die Einschätzung, zugunsten umfassender Korrektheit der Haltung und des Ausdrucks zu verabschieden. Dem steht ein von Walter Benjamin beifällig angeführtes Wort Cajetan Freunds gegenüber, wonach die Musikalität der Worte nicht eine gesonderte technische Qualität darstellt, sondern nichts anderes ist als das eigentliche Ethos des Dichters. Bach hat niemand die Musikalität bei der Behandlung so ernster Dinge wie der Passionsgeschichte verübelt, und von einem Sound spricht Blumenberg bei seiner Würdigung der Matthäuspassion nicht.
Sebald hat sich musikalisch zu Schubert bekannt, sicher wäre es aber verfehlt, im Klang seiner Prosa nach Spuren Schuberts oder eines anderen Komponisten zu suchen. Es bedarf andererseits gar nicht Sebalds Bekenntnis im Hinblick auf das Andante sostenuto aus Schuberts Klaviersonate B-Dur, seiner Grundposition entsprechend bevorzuge er die langsamen Sätze in der Musik, um diese Grundposition als bestimmend für sein literarisches Schaffen zu erkennen. Die Musik der Worte und Sätze ist aber anders als die der Töne. Ein verläßlicher Hinweis auf musikalische Verwandtschaft in der Dichtung findet sich wohl in Sebalds Wahrnehmung der Prosa Kellers, die sich dahin bewege auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn. Mittel mit denen Sebald einen ähnlichen Effekt erzielt sind eine aufwendige und immer geschmeidige Hypotaxe, das häufige, die Fließgeschwindigkeit regulierende Vorziehen des Verbs im Satz, semantisch entbehrliche, allein die Satzmelodie tragende Wörter, blasse Verben nach der Art Stifters (gehen für die Wolkenbewegung), die wie Leichtbauteile in einem Flugapparat wirken. Wenn Sebald zu Thomas Browne bemerkt, seine Sätze vermöchten wegen dieser enormen Belastung durch die beförderten Bedeutungen nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen würde wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreife selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation, so ist klargestellt, daß die Musikalität einer Prosa nicht allein in Wortwahl und Syntax, sondern nicht weniger in der Semantik wirkt. Auch in dieser Weise lassen Freund, und ihm folgend Benjamin, sich in der Einschätzung von der Musikalität als dem Ethos des Dichters verstehen. Zu folgern ist, daß Sätze nicht zählen, die sich aufschwingen, ohne gewichtige Bedeutung zu tragen, während andererseits Bedeutungen, die nicht ins Klingen und Schweben geraten, kaum zur Literatur rechnen. Insofern ergibt sich eine Relativierung der Bedeutsamkeit der Inhalte, die aber durchaus als Steigerung erlebt werden kann. Wir haben der klingenden, die einzelnen Werke übergreifenden Motivik der Empfangsdamen, Mitreisenden, Lesegefährten, Heiligen, Uhren, den Textwanderungen des heiligen Georg &.a.m. gelauscht.
Die Tonart der Sebaldschen Prosa, da sind sich die meisten einig, ist das Moll der Melancholie. Wer aber nur sie und schwarzen Ernst hört, ist gefährdet und sollte medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Eine gelindere Form des gleichen Leidens, die vielleicht mit Hausmitteln kuriert werden kann, besteht in der Idee, man könne sich Sebald und seinen Worten ausschließlich in weihevoller Haltung nähern. Vor allem in den Reise- und Wanderbüchern tritt Melancholie nicht selten im Gewand des heilenden Selbstspotts auf, so wenn Selysses sich in den Ringen des Saturn gleich nach dem spielerisch intonierten melancholischen Auftakt zunächst in einen von Sebalds zahlreichen Krüppeln und dann in Kafkas Käfer verwandelt, oder wenn nach der wirklich nicht zum Zurückhalten des Lachens auffordernden Schilderung der Papierlandschaften in Janine Rosalind Dakyns Büro Dürers Melancholia vorbeigetragen wird. In den Schwindel.Gefühlen häufen sich spöttische Tonfolgen dieser Art, so beim Kampf um dem Cappuccino im Bahnhofsbistro Venedig, bei der scharfen Rasur, die bei der Kindheitserinnerung an den Bader Köpf nachträglich schaudernden Schrecken verursacht, beim Pädophilieverdacht im Bus nach Riva. Die Bilder Kafkas und Stendhals sind ganz in lächelnde Melancholie gekleidet. Die beiden Trauszenen, mit der Wirtin Luciana Michelotti und dem Lehrerfräulein Rauch, leiten über zu Bildern lächelnder Menschenfreundlichkeit wie der Bahnfahrt nach Mailand in Begleitung zweier vollendeter Lesegefährtinnen oder der Begegnung mit der Negerfamilie auf dem amerikanischen Highway in der Erzählung Ambros Adelwarth. Es sind zugleich Szenen der Vergeblichkeit und des Abschieds und insofern melancholische Momente. Gelegentlich gibt es unvermutete und ungläubig wahrgenommene harte und disharmonische, nicht ohne Übermut angeschlagene Klänge wie den der Verwandlung der Belgier in lauter Krüppel und Irre oder den der krächzenden Tiroler Weiber im Bus von Innsbruck nach Oberjoch, Klänge, die bei nichtmusischer Leseweise zu Menschenrechtskritik Anlaß geben könnten und, was die Belgier anbelangt, auch gegeben haben.
Jede Sebalddeutung, die Gehör verdient, muß erklären können, warum wir uns so wohl fühlen in diesem Werk, das der Holocaustliteratur zugerechnet wird. Die Welt sei ohne Sinn, und das sei ausnahmslos allen bekannt, äußert Sebald in einem Gespräch, eine Anmerkung aus dem Bezirk des Nihilismus. In seinem Aufsatz zu Becketts En attendant Godot stellt Günther Anders fest, das Stück unterscheide sich von fast allen nihilistischen Dokumenten durch den Ton. Der Clown sei von einer Traurigkeit, die, da sie das traurige Los der Menschen überhaupt abspiegelt, die Herzen aller Menschen erleichtert. Sebald, der auf seine Weise das traurige Los der Menschen nachzeichnet, vermag unser Herz, bei nur dezenten Anleihen aus dem Clownesken – die Zirkusleute allerdings haben ihren gebührenden Platz im Werk - zu erleichtern, mehr noch: er vermag die Welt bei all ihren Schrecken wohnlich zu erhalten, wohnlich nicht durch freundliche und insofern unsinnige Behauptungen über sie, sondern durch den stillen Klang der Prosa.
Sind die ersten Takte gespielt, die ersten Sätze geschrieben, ist noch so gut wie alles möglich, das meiste gleichwohl bereits nicht mehr. Die aufgefundenen Tonlagen lassen sich nachweisen im Text, im Ohr des Lesers werden sie aber unterschiedliche Wirkung erzielen. Dem einen ist dies heller, dem anderen das, in dem einen Ohr hallt dieser Ton länger nach, in dem anderen ein anderer. Sebald habe immer das gleiche Buch geschrieben, heißt es, aus verschiedenen Gründen eine fehlgeleitete Einlassung, nicht zuletzt wegen der doch sehr unterschiedlichen Mischung der bedeutungsmusikalischen Komponenten. So muß das Element des Selbstspotts in den Lebensgeschichtenbüchern, in denen Selysses sich in die Rolle eines Komparsen begibt, notwendig zurücktreten im Vergleich mit den Reise- und Wanderbüchern, in denen er Hauptdarsteller ist. Wer diese Tonlage besonders liebt, wird Sebalds Prosaerstling einen Vorzugsplatz einräumen. Innerhalb des Andante sostenuto sind die Schwindel.Gefühle ständigen, feineren oder heftigeren Stimmungswechseln unterworfen. Gerade noch hat Selysses das Zugabteil mit zwei wirklich bezaubernden Reisegefährtinnen, der Franziskanerin und dem jungen Mädchen, geteilt, als er auf dem Mailänder Bahnhofsplatz Opfer eines Raubversuchs wird. Das Gebirgsmassiv des Großvenedigers noch im Rücken trifft er im ansonsten noch leeren Innsbrucker Bahnhof die Schar der philosophischen Sandler, dann die ausgeschämte Bedienerin, im Bus die gräßlichen Tirolerinnen, das Land liegt im Regen, es klart auf, die Schar der Hühner läuft hinaus aufs Feld, aus einem nicht ganz erfindlichen Grund geht ihm der Anblick dieser weit ins Feld sich hinauswagenden Hühnerschar sehr ans Herz, überhaupt weiß er nicht, was es ist an bestimmten Dingen und Wesen, das ihn manchmal so rührt, vom Fernpaß aus wird die dunkeltürkisgrüne Fläche des Fernsteinsees sichtbar, ein Inbegriff aller erdenklichen Schönheit. Läßt man die Schwindel.Gefühle mit ihren, im Sinne einer Sonate, vier Sätzen in Gedanken an sich vorüberziehen, so ist es, als würden die Bedeutungen jegliche Festigkeit verlieren zugunsten eines reinen semantischen Klangspiels, um sie, die Festigkeit, auch bei anschließender sorgfältiger Lektüre nur unvollkommen zurückzugewinnen.

Dienstag, 18. Dezember 2012

Wildes Denken

Eine Korrektur

Sebald spricht irgendwo von Bricolage und Wildem Denken und nennt dabei auch Lévi-Strauss, den Vater des Begriffs. Seither bewegt das Wort sich in der Sebaldrezeption, allerdings meistens in einer dem ursprünglichen Begriff entgegengesetzten Form. In der Zeit, als die meisten Altersgenossen, darunter Sebald, auf Marx und die Neumarxisten schauten, hatte Vostre Servidor - vermutlich im Rahmen einer intratextuellen, autorengesteuerten, in seinem Fall allerdings folgenlosen Positionierungsstrategie gemäß Fridolin Schley - Lévi-Strauss als geistigen Leuchtturm gewählt. Das erlaubt ihm die folgende Korrektur.

Das ursprüngliche wilde Denken ist kein bißchen wild, wild sind nur die Ausdrucksmittel, derer es sich notgedrungen bedienen muß. Der Witz ist gerade, daß Lévi-Strauss hinter dem bunten Flickenkleid des Mythos, genäht aus Luchs und Coyote, Menstruationsblut und Muschelschmuck, roher und gekochter Nahrung &c., logisch-philosophische Denkgebilde äußerster Strenge und höchster Abstraktionsstufe freilegt. Der moderne wilde Denker dagegen legt das bunte Flickenkleid an, um den Verwüstungen des rationalen Denkens zu entkommen. Sein Inbild in Sebalds Werk ist der Major Le Strange. Wie und was er denkt, wissen wir nicht, der kanariengelbe Gehrock und der veilchenblaue Trauermantel mit vielen Ösen und Knöpfen aber sind das moderne Mythenkleid. Als die Indianer begannen, sich ähnliche, bei ihren Raubzügen erbeutete Gewänder überzustreifen, war der Untergang des wilden Denkens im ursprünglichen Sinne unausweichlich geworden.

Montag, 17. Dezember 2012

Rastignac

A nous deux, Shoah!

Fridolin Schley hat ein umfängliches Buch über Sebald verfaßt, in dem der Dichter auf zwei Komponenten und sein Leben auf zwei, zeitlich nicht klar getrennte Phasen reduziert wird. Zunächst habe Sebald in Aufsätzen alle deutschen Autoren, die sich mit dem Holocaust beschäftigt hatten, fertiggemacht, um dann, als ein wahrer Rastignac des Literaturbetriebs, selbst das Dichten aufzunehmen mit dem einen Ziel, auf dem geräumten Gelände den Platz des Holocaustalleinherrschers zu besetzen. In Austerlitz ist von den fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bänden der Comédie Humaine die Rede, Marie de Verneuil hat ihren Namen bei Balzac entlehnt, dem Colonel Chabert wird eine Betrachtung gewidmet, Rastignac tritt nicht in Erscheinung, entweder hat sich der Dichter in dem ihm vorgehaltenen Spiegel nicht, oder aber, wie Schley geltend machen würde, nur allzu sehr erkannt. Nicht erkennt ihn jedenfalls der Leser und Literaturfreund, der bislang in seiner Einfalt, dabei allerdings Benjamin folgend, angenommen hatte, der Dichter wolle vor allem musizieren.

Schley schreckt seine Leser mit wahrhaft furchteinflößenden Begriffsgewittern: intratextuelle, autorengesteuerte Positionierungsstrategien, Epiphänomen eines hyperventilierenden Diskursfeldes, und so auf jeder Seite. Man fragt sich, ob Jakob Hessing diese dräuenden Wolken vor Augen hatte, als er Schleys beachtliches Sprachvermögen hervorhob. Bald aber schon klart es auf, und eine rückhaltlose Selbstauslieferung an die Soziologismen Bourdieus wird erkennbar. In einer Sebald gewidmeten Magisterarbeit hatte sich der Verfasser, dessen Name nicht mehr verfügbar ist, in ähnlicher Weise ganz der Philosophie des Rhizoms aus der Werkstatt Deleuze/Guattari verschrieben. In beiden Fällen dient eine geborgte Autorität als archimedische Plattform, von der aus der Forscher sich in Regionen weit oberhalb des Autors katapultiert, um in aller Ruhe und Ausführlichkeit auf ihn herabzuschauen. Einem dem Dichter zugetanen vertrauenden Leser, dessen Belange hier vertreten werden, sind derartige Hochspringerkünste nicht geheuer.

Wenn einzuräumen ist, daß die Kategorien Bourdieus sich bei der Betrachtung des wissenschaftlich-essayistischen Werks halbwegs bewähren, so führt die Hartnäckigkeit und Ausschließlichkeit der Anwendung, die dem Dichter jede Bewegungsfreiheit abspricht (er funktioniert unter Positionierungszwang blind im Feld), vor allem aber die Ausdehnung auch auf das Prosawerk, ins Dubiose. Eine übergangslose Behandlung der beiden Textsorten ist ohnehin fragwürdig. Argumentative Unschärfen in der Wissenschaft werden zu erzählerischen Spielräumen in der Prosa. Ein Erzähltext ist, sofern er nicht ganz durchfällt, während der Lektüre, also solange er lebt, nicht kritisierbar. Sebalds Prosa erzeugt bei vielen seiner Leser eine fortdauernde Kritikunlust und eine Aversion gegenüber der Freigabe zur Prosektur wie im Fall des armen Aris Kindt.

Schleys das wissenschaftlich-essayistische und das literarische Werk übergreifende Generallinie ist auf die Einordnung der Prosa als Holocaustliteratur angewiesen. Da sich ein Nachweis nicht führen läßt, wird der Umstand umstandslos unterstellt. Schon in der Einleitung heißt es, das Prosawerk kreise um den Holocaust. Später wird ein Konsens beschworen, der das Erzählwerk im Subfeld der Holocaustliteratur verortet. Dieser Konsens besteht aber nicht. Als Beleg wird angeführt, der Luftkrieg und Austerlitz seien Sebalds bekannteste und meistgelesene Werke. Das mag so sein und ist nicht verwunderlich, da die Meute der Literaturfernen sich auf den Luftkrieg gestürzt hat und Austerlitz dann wohl oder übel auch verdauen mußte. Dem Freund des Erzählwerks ist der Luftkrieg entbehrlich und insgeheim mag er sich angesichts der eingetretenen Folgen wünschen, Sebald hätte weiter am Korsikaprojekt gearbeitet oder aber sich ernsthaft dem Projekt Münchner Räterepublik zugewandt, und Austerlitz wäre nicht geschrieben worden. Schley zeigt eine gewisse Nachgiebigkeit, wenn er einräumt, je weiter man den Begriff des Holocausts fasse, desto besser passe Sebald hinein. Das ist allerdings ein eigenartiger Truismus, dehnt man den Begriff immer weiter, läßt sich schließlich auch Loriot mit seiner Försterfrau noch unterbringen.

Für die Schwindel.Gefühle, das vom Holocaust am weitesten entfernte Werk, findet Schley nur wenige und noch weniger freundliche Worte. Im ganzen Prosawerk entdeckt er nur im Ausnahmefall Ironieanzeichen. Hätte er genauer auf die Schwindel.Gefühle geschaut, so hätte er sehen müssen, daß der Erzähler hier durchgehend mit der Selbstironisierung des Autors beauftragt ist, so wie auch Kafka vom Anfang bis zum Ende im Lichtkreis einer liebevollen Ironie steht. Auch die Melancholie, Sebalds Middlename, wie es heißt, tritt meist im Gewand des Selbstspotts auf, so wenn Selysses sich in den Ringen des Saturn gleich nach dem spielerisch intonierten melancholischen Auftakt zunächst in einen von Sebalds zahlreichen Krüppeln und dann in Kafkas Käfer verwandelt, oder wenn nach der wirklich nicht zum Zurückhalten des Lachens auffordernden Schilderung der Papierlandschaften in Janine Rosalind Dakyns Büro Dürers Melancholia vorbeigetragen wird. Wer von der Wissenschaft herkommend überall verbissene Wahrheitssuche sieht, verpaßt den Spaß der Literatur. Wer in Sebalds Prosa die Freude und die Freundlichkeit nicht spürt, ist verraten.

Da sich die Schwindel.Gefühlen auch unter großer Anstrengung in den Holocaustkomplex nicht einbinden lassen, wird ihnen im Verein mit dem Prosagedicht Nach der Natur innerhalb der unterstellten Gesamtstrategie die erfolgreiche Erledigung der vorbereitenden Aufgabe bescheinigt, Sebalds Ruf als literarisch anspruchsvollem Exzentriker zu begründen und abzusichern. Der Exzentriker definiere sich als willentlicher Einzelgänger, der das Vernünftige tut in der allgemeinen Unvernunft. Sebalds taumelnder fiktionaler Counterpart in den Schwindel.Gefühlen macht sich aber des Vernunftgebrauchs kaum schuldig, fast schon ist es, als habe er Luhmanns flehentlichen Ruf vernommen: Nie wieder Vernunft!

Eine anderes Kleid, das Sebald gern überstreife, sei der Talar des Richters. Für weite Teile des Essaywerks ist das unbestritten. Im Erzählwerk treffen wir den Richter Frederick Farrar. Er hatte in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Freunde der Sebaldschen Prosa sind versucht, Farrars Übergang vom Richterdasein zum Pensionär einschließlich des entsetzten Rückblicks und des Rosengartens als Bild für Sebalds Übergang vom Literaturwissenschaftler zum Dichter zu deuten. Als Dichter mit einsetzendem Weltruhm war Sebald den germanistischen Graben- und Hahnenkämpfen, seinen Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen, entkommen, was konnte ihn ein Sternheim aus ferner Vergangenheit noch kümmern. Auch Schley äußert an einer Stelle die Vermutung, daß Sebald als arrivierter Autor eine Jahre zuvor beim Kollegen Grass noch getadelte Sache versöhnlicher gesehen hätte. Tatsächlich wird im Prosawerk so gut wie niemand ver- oder auch nur beurteilt, schon gar nicht die auftretenden Literaten. Was Sebald von Swinburne oder Chateaubriand gehalten hat, bleibt verborgen. Wer, in der Literatur oder in der Welt, zu verurteilen wäre, wird erst gar nicht zugelassen zum Werk. Eine wahre Urteilsphobie scheint eingekehrt. Schon im Landhaus waren nur noch positive und elogenhafte Urteile möglich, Freisprüche allesamt. In einer anderen Bildvorstellung könnte man sagen, bevor er die offene See des Prosawerks erreichte, war Sebald wie ein Fisch an Land mit den entsprechenden wilden Bewegungen und Schlägen. Im Wasser hat er sich unter die Makrelen begeben und mit Scomber scombrus ein Prosastück von betörender Eleganz geschaffen. Auch Schley setzt die skrupulöse Sanftheit der Prosa von der Aggressivität der rezensierenden Texte ab, den Gedanken, Sebald könne sich in der Belletristik vom Zwang zum heftigen Urteil befreit haben, verfolgt er aber nicht.

Die ins Feld geführten Bildvorstellungen können naturgemäß der Härte der Wissenschaft nicht standhalten. Für seine Idee des gewandelten Sebalds kann der Literaturfreund letzlich nur anführen, daß ihm am wissenschaftlich-essayistischen Werk wenig, am Prosawerk alles liegt. Gut denkbar, daß Sebald Thomas Bernhard beneidet hat, der sich theoretische Überlegungen ersparen und seinen Zorn ins Werk selbst verlagern konnte, wo er niemand störte und Gerechtigkeit des Urteils programmatisch ausgeschlossen war. Vereinzelt darf Bernhard sich auch im Werk seines bekennenden Freundes Sebald umtun, so in den Vernichtungspredigten des Emyr Elias oder bei der Verwandlung der armen Belgier in lauter Krüppel und Irre. Auch könnte man meinen, Sebald habe sich bei der Erarbeitung seines literarischen Deutschlandbildes leiten lassen von der peniblen Akkuratesse Bernhards bei der Darstellung Österreichs.

Wie Sebald ist Fridolin Schley Wissenschaftler und Prosaautor zugleich. Auf eine Selbstdiagnose im Lichte Bourdieus zur Klärung der Frage, wie es um seine intratextuelle, autorengesteuerte Positionierungsstrategien bestellt ist, wäre man gespannt.

Samstag, 15. Dezember 2012

Panoramablicke

Nur zentimetergroß

Wenn wir dem Dichter gern folgen auf seinen Gängen und Reisen, so auch, weil er mehr sieht, als wir, alleingelassen, an seiner Stelle sehen würden. Er sieht mehr, anderes, und er sieht wiederum auch weniger. Er sieht nur wenige Menschen, es ist nicht ihm anzulasten. Ortschaften wie Terezín aber auch Großstädte wie Manchester sind, sobald er sich dort einfindet, so gut wie entvölkert. In Prag sehen die Menschen allesamt so krank und grau aus, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher, die Beschäftigung mit ihnen ist kaum noch lohnend. In Wien und auch in Venedig verwandeln die Menschen sich in andere, die längst schon tot sind wie der Florentiner Dichter Dante oder der Bayernkönig Ludwig. Menschen aus der Gruppe des Empfangs- und Servicepersonals sind überall in Europa und der Welt zumeist kleinwüchsig und gebeugt, so daß man sie hinter ihren Pulten nur schwer oder gar nicht entdecken kann. Wenn es heißt, Selysses seien bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen als sonst in einem ganzen Jahr, kann einem nur schaudern vor dieser Stadt angesichts der großen Menge Verwachsener und Gebeugter, die er regelmäßig auch an anderen Orten sieht. Gleichsam im Vorübergehen entlarvt der Dichter die neuzeitliche Ideologie der gleichen Augenhöhe als Diskriminierung der Kleinwüchsigen und Niedergedrückten sowie andererseits auch der Hochgewachsenen, zu denen er selbst (einsvierundachtzig, Augenfarbe braun) zu zählen ist. Da ist es alles in allem keine Überraschung, wenn er den verpönten Blick von oben herab zwar nicht ausdrücklich sucht aber auch nicht scheut.
Die Technik des Panoramablicks vergegenwärtigt Selysses bei der Betrachtung eines Gemäldes des niederländischen Malers Ruisdael. Die gegen Haarlem sich hinziehende Ebene ist aus der Höhe herunter gesehen, von den Dünen aus, wie im allgemeinen behauptet wird, doch ist der Eindruck einer Schau aus der Vogelperspektive so stark, daß diese Seedünen ein richtiges Hügelland hätten sein müssen, wenn nicht gar ein kleines Gebirge. In Wahrheit ist van Ruisdael beim Malen natürlich nicht auf den Dünen gestanden, sondern auf einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt. Nur so konnte er alles zugleich sehen, den riesigen, zwei Drittel des Bildes einnehmenden Wolkenhimmel, die Stadt, die bis auf die alle Häuser überragende St. Bavokathedrale kaum mehr ist als eine Art Ausfransung des Horizonts, die dunklen Buschen und Gehölze, das Anwesen im Vordergrund und das lichte Feld, auf welchem die Bahnen der weißen Leinwand auf der Bleiche liegen und wo, soviel ich zählen konnte, sieben oder acht kaum einen halben Zentimeter große Figuren bei ihrer Arbeit sind. Nicht aus theoretischem Interesse allerdings ist Selysses vor Ruisdaels Bild getreten, sondern auf der Flucht, verstört von Rembrandts mit Menschen vollgepackten Prosekturbild, einem Bild voller fragwürdiger Perspektiven, falscher Blickrichtungen und dubioser Tätigkeiten. Er fühlte sich, ohne daß er genau gewußt hätte warum, von der Darstellung derart angegriffen, daß er bald eine Stunde brauchte, bis er sich vor Jacob van Ruisdaels Ansicht von Haarlem mit Bleichfeldern einigermaßen wieder beruhigte. Die in dem Landschaftsbild auf Ameisengröße reduzierte menschliche Population läßt sich verkraften.
Die Ringe des Saturn eröffnen mit einem Panoramablick, dem die Weite ebenso wie die Stille und der Frieden fehlen. Selysses selbst, der in einem Zustand gänzlicher Unbeweglichkeit in das Spital eingeliefert wurde, zählt, wenn auch nur befristet, zu den Verkrüppelten. Von seiner Bettstatt aus sieht er nichts als ein farbloses Stück Himmel im Rahmen des Fensters. Mühsam zieht er sich an der Fensterbrüstung empor und schaut aus dem Fenster, wie der arme Gregor, der mit zitternden Beinchen an die Sessel sich klammert, in undeutlicher Erinnerung an das Befreiende, das früher einmal darin gelegen war, aus dem Fenster zu schauen, sieht er auf die vertraute, ihm jetzt aber vollkommend fremd gewordene Stadt, die sich von den Vorhöfen des Spitals bis weit gegen den Horizont hin sich erstreckte. Wie von einer Klippe aus blickte er hinab auf ein steinernes Meer, aus dem wie riesige Findlingsblöcke die finsteren Massen der Parkhäuser herausragten. Passanten waren im näheren Umkreis keine zu sehen. - Unbewohnte Leere, indem er durch die Verwandlung in Kafkas Käfer seine Verkrüppelung ins Unermeßliche steigert, sieht er sich ausgeschlossen von den Menschen. Sie von sich fern zu halten, ist Ziel und Segen, von ihnen vergessen zu sein, Strafe und Fluch.

Wenn es ihm schien, aus dem Fenster des Krankenzimmers wie von einer Klippe aus hinabzublicken, so schaut er im weiteren Verlauf der Erzählung schon bald herab von der Höhe einer tatsächlichen Klippe. Vom Rand der Klippe richtete er Blick an den Zenit hinauf, ließ ihn herabgleiten an der Himmelskugel und zog ihn dann auf den unten sich befindenden schmalen Strand. Es war es ihm, als hätte er auf dem Uferstreifen etwas seltsam Fehlfarbenes sich bewegen sehen. Er kauerte sich nieder und blickte, erfüllt von plötzlicher Panik, hinab über den Rand. Es war ein Menschenpaar, das dort drunten lag, auf dem Grund der Grube, ein Mann ausgestreckt über dem Körper eines anderen Wesens, von dem nichts sichtbar war als die angewinkelten, nach außen gekehrten Beine. Ein Menschenpaar beim Fruchtbarkeitstreiben ist ein Detail, das Selysses in seinem Panoramabild am wenigsten benötigt, und so wird es umgehend einer radikalen, den Anblick der Prokreation in ein Todes- und Endlichkeitsbild verwandelnden Metamorphose unterzogen. Ungestalt gleich einer großen, ans Land geworfenen Molluske lagen sie da, scheinbar ein Leib, ein von weit draußen hereingetriebenes, vielgliedriges, doppelköpfiges Seeungeheuer, letztes Exemplar einer monströsen Art, das mit flach aus den Nüstern entströmendem Atem seinem Ende entgegen dämmerte.

In Mailand steigt Selysses auf die oberste Galerie des Doms hinauf. Im Westen stand eine ungeheure Wolkenwand, ein starker Wind erhob sich und er mußte sich einhalten, um hinabzuschauen zu können, wo die Menschen sich in seltsamer Neigung über die Piazza bewegten. Ihm, der sich, seit er den Dom betreten hatte, buchstäblich selbst nicht mehr kannte, kam der rettende Gedanke, daß es sich bei den dort unten über das Pflaster hastenden Gestalten um nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Bald aber werden die Eilenden vor dem drohenden Wolkenbruch entflohen sein, und wenn wir nur noch einen Augenblick ausharren, werden wir den Platz und die Stadt menschenleer unter uns liegen sehen.

In Paris sieht Austerlitz vom 18. Stock des Südostturms der neuen Nationalbibliothek aus eine im Laufe der Jahrtausende aus dem jetzt völlig ausgehöhlten Untergrund herausgewachsene Stadtagglomeration, ein fahles Kalksteingebilde, eine Art von Exkreszenz, die mit ihren konzentrisch bis an die im Dunst hinausreicht bis an die im Dunst jenseits der Vorstädte verschwimmende äußerste Peripherie. Ein paar Meilen ostwärts ragt eine Art Kegelstumpf hervor, vermutlich der Affenfels im Bois de Vincennes. Während die Affen immerhin erahnbar sind, bleiben die Menschen in ihren ihrerseits in Tiere verwandelten Artefakten verborgen: mehr in der Nähe sah man verschlungene Verkehrswege, auf denen Eisenbahnzüge und Automobile hin- und herkrochen wie schwarze Käfer oder Raupen.

In vielem ähnlich, wenn auch in den Einzelheiten verschieden, ist der Blick auf Manchester. Im Jahr nach der Entlassung aus der Armee, hatte Aurach sich während eines Spaziergangs einen Blick auf die Stadt aus der Vogelperspektive verschafft. Die letzten Sonnenstrahlen waren eingefallen und hatten eine Zeitlang das Panorama wie in einem einzigen Feuerschein aufleuchten lassen. Erst als der erlosch, wurden die ineinander gestaffelten und verschobenen Häuserzeilen sichtbar, die Spinnereien und Färbereien, dis Gaskessel, Chemiewerke und Fabrikationsanlagen jeder Art. Das eindrucksvollste aber die überall aus der Ebene und dem flachen Häusergewirr herausragenden Schlote, die heute nahezu ausnahmslos niedergelegt oder außer Betrieb sind. Damals aber rauchten sie noch zu Tausenden, bei Tag sowohl als in der Nacht. Wenn keine Menschen zu sehen sind, so ist das nicht auf eine zu große Entfernung zurückzuführen, denn klar erkennbar, wenn auch schattengleich, ist noch eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang ein Rudel von Hirschen, Tiere, die mit den Menschen die gleiche Größenkategorie teilen, auf dem Weg in die Nacht.

Obwohl sich die Schwindel.Gefühle als das Buch der Alpen lesen lassen nutzt Selysses die Möglichkeiten des Fernblicks kaum, er überquert das Gebirge zumeist nachts und in aller Eile. Erst ganz zum Schluß ergibt sich ein Blick vom Fernpaß aus, der ihn für eine Weile befreit vom Anblick der als gräßlich empfundenen Tiroler Weiber, die mit ihm im Bus sitzen. Wir überquerten den Fernpaß. Geröllhalden griffen von den Bergen hinunter in die Wälder so wie Finger ins Haar und in Zeitlupenhaftigkeit stürzten Bäche über die Felswände hinab. Von einer Wegkehre aus erblickte man in der Tiefe die dunkeltürkisgrünen Flächen des Fernsteinsees, ein Inbegriff aller erdenklichen Schönheit.

Als Knabe hatte Aurach mit seinem Vater den Grammont in den Waliser Alpen bestiegen. Es war ein ungetrübter Tag und von droben sah man die Genfer Seelandschaft, reglos bis auf die wenigen auf dem tiefblauen Wasser drunten mit der unglaublichsten Langsamkeit ihre weiße Spur ziehenden winzigen Schiffchen und bis auf die am jenseitigen Ufer in gewissen Abständen hin- und herfahrenden Eisenbahnzüge. Ob Menschen in den Wasser- und Landfahrzeugen sitzen, ist nicht sicher.

Der Verdacht, die Menschen könnten fehlen und die Fahrzeuge, wie es ja tatsächlich immer üblicher wird, führerlos sein, erhärtet sich für Selysses beim Rückflug von Amsterdamer Flughafen Schiphol in seine englische Heimat. In geraden Linien und leichten Bögen verliefen die Auto- und Wasserstraßen und die Trassen der Eisenbahn zwischen den Weiden und Waldparzellen, Bassins und Reservoiren hindurch. Eingebettet in das ebenmäßige Gewebe, lag als Überrest aus früherer Zeit eine von Bauminseln umgebene Domäne. Ein Traktor kroch, wie nach einer Richtschnur, quer über einen bereits abgeernteten Acker - und wirklich sind die meisten landwirtschaftlichen Zugmaschinen inzwischen JPS-gesteuert -, nirgends aber sah man auch nur einen einzigen Menschen. Gleich ob man über Neufundland fliegt oder bei Einbruch der Nacht über das von Boston bis Philadelphia reichende Lichtergewimmel, es ist immer, als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Beim Anflug auf die Insel Korsika, die wie ein unberührtes Reich der mineralischen Welt daliegt, scheint schon der Gedanke an menschliche Bewohner unangebracht. Bald tauchte die Insel vor uns auf, ein düsteres, noch von Nachtschatten umfangenes Gebirge. Wenig später aber waren wir, in der Höhe, in der wir uns befanden, umgeben von strahlendem Morgenlicht, und auch drunten auf dem Wasser wichen westwärts die Schatten zurück. Der Pegel des Lichts senkte sich nun auf die Steinwüsten oberhalb der Baumgrenze nieder. Es war, als würde auf der Morgenseite der Berge eine graue Stoffbahn eingeholt und Zoll für Zoll ein auf der glatten Fläche des Meers aufgebahrter Riesenkörper enthüllt oder doch die Überreste eines Felsenskeletts, eine Wirbelsäule, ein Schädeldach, eine Kinnlade, Schulterblätter und Rippen, bizarre Formen aus Quarz- und Feldspatgranit, die aufragten aus dem seit der Zeit des Tertiärs andauernd von ihnen abgefallenen Schutt.

Der Blick von oben herab auf eine menschenleere Landschaft kann zu Inbegriff aller erdenklichen Schönheit werden. Erstleser erleben Sebald als einen Dichter, der seine Gestalten – Austerlitz, die Ausgewanderten, Kafka und Stendhal in den Schwindel.Gefühlen, Conrad und Casement in den Ringen des Saturn, vor allem aber auch die einfachen Leute - mit äußerstem Einfühlungsvermögen und großer Zuneigung, ja mit Liebe begleitet. Die misanthropischen Züge, die nicht eigentlich thematisiert sind, sondern nur untergründig immer wieder motivisch anklingen, werden zunächst kaum wahrgenommen. Die in Wahrheit weitgehend surrealistische Gestaltung durchbohrt bei Sebald nie die Decke des realistischen Erzählvorgangs. In Prag war es halt ein sehr heller Tag, als Austerlitz anreist, in Terezín waren nun einmal keine Menschen zu sehen, ebensowenig in Manchester, das mag vorkommen. Den einmal aufmerksam gewordenen Leser kann es dann aber nicht wundern, wenn die Panoramablicke dazu dienen, die Menschheit noch weiter aus dem Bild zu befördern, als es dem Blick in der Ebene möglich ist.

Die beiden Facetten, die der Philanthropie im Sinne von Menschenfreundlichkeit und die der Misanthropie, sind nicht unverbunden, zahlreiche Wege führen hin und her, und auch im Inneren der Panoramablickszenen gibt es bemerkenswerte Eigenheiten und Unterschiede, den Unterschied vor allem zwischen dem einsamen Blick von oben herab und dem in Gemeinschaft. Vom achtzehnten Stockwerk schaut Austerlitz hinab in Begleitung und im Gespräch mit dem Bibliotheksangestellten Henri Lemoine, und die Eindrücke des Panoramablicks auf Manchester teilt Aurach mit Selysses. Als die Bezwinger des Grammont im Begriff stehen, sich in der Weite des Blicks zu verlieren, tritt der Dichter Nabokow mit seinem großen Schmetterlingsnetz aus weißer Gaze auf und rät ihnen, wieder abzusteigen ins Tal zu den Menschen, wie immer es um sie bestellt sein mag, um das Nachtmahl einzunehmen. In den Szenen, in denen Selysses allein an der Klippe steht, der des Spitals und der über dem Meer, spiegelt sich in der Verwandlung in Kafkas Käfer am Fenster oben und der des unfreiwillig unten am Strand Gesehenen in eine Molluske das Lächeln der Selbstverspottung, einer immer vorhandenen Ingredienz der Texte, die, nicht zuletzt, sicherstellt, daß der Leser sich keinen Augenblick als Teil einer vom Autor zurückgewiesenen, bestenfalls zentimetergroßen Menschheit empfindet, vielmehr sieht er sich voller Freundlichkeit aufgefordert, Selysses auf seinen Gängen zu begleiten und auch gemeinsam mit ihm herabzuschauen von den Klippen und Gipfeln auf das, was sich unten tut. Selysses ist nie allein, reist und wandert er ohne Begleitung, gesellt sich der Leser zu ihm, immer nur der jeweils eine, Du oder ich, wir wissen nichts voneinander. Die Zweiergruppe ist die von Sebald eindeutig bevorzugte Form der Menschenansammlung

Freitag, 7. Dezember 2012

England

Quartiere

Il ritorno in patria führt den Dichter zunächst in seine Allgäuer Geburtsheimat und dann in seine englische Wahlheimat, ohne daß er uns dahin aber mitnehmen würde. Der Zug fährt aus dem Londoner Bahnhof und damit aus der Erzählung. Schon der Aufbruch aus der englischen Heimat wurde uns vorenthalten, All’estero setzt ein, als der Dichter bereits in Wien eingetroffen ist. Von seinem Leben daheim erfahren wir nur, daß er dort überwiegend mit Schreib- und Gartenarbeit beschäftigt ist. In den Ringen des Saturn erhalten wir Zutritt zum Spital in Norwich und zur Universität, um einen Einblick in das Arbeitszimmer von Janine Rosalind Dakyns zu erhalten. Eindrücke aus Deutschland gruppieren sich im Prosawerk im wesentlichen um den Geburtsort und seine Umgebung, Eindrücke aus England sind weiter gestreut und sparen die Wohngegend des Dichters aus. Das gilt allerdings nicht für die frühen Stationen des Aufenthalts in England. In Manchester sehen wir Selysses bei Gracie Irlam ein Quartier nehmen, das er dann in Gesellschaft einer Teas-Maid, einer entfernten Verwandten der japanischen Geisha, bewohnt. In der Wohnung, die sie bei Dr. Henry Selwyn in Hingham finden, sehen wir das junge Paar gar bei Einrichtungs- und Renovierungsarbeiten. Zu dem Haus, das Clara eines Nachmittags dann unversehens kauft, ob es nun das endgültige ist oder nicht, erhalten wir bereits keinen Zugang mehr.

England ist, mit einer Reihe verschiedener Städte und Orte, in allen vier Prosawerken vertreten. Manchester ist für die Erzählung Max Aurach nicht nur der Hintergrund, sondern gewinnt den Rang einer handelnden Gestalt. London* bleibt in den Schwindel.Gefühlen und in Austerlitz bruchstückhaft. Der Südosten Englands wird in den Ringen des Saturn durchwandert.

Manchester


Stumme Gesellen

Mit Vorliebe entvölkert der Dichter die Städte und Orte, die er auf- oder besser heimsucht. Prag etwa taucht er in ein viel zu helles Licht, so daß die Menschen so krank und grau aus sehen, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher. Bald werden sie uns nicht mehr zur Last fallen. In Terezín sehen wir nur verschlossene Türen und so gut wie keinen Menschen. Die englische Großstadt Manchester ist kaum dichter besiedelt als die böhmische Ortschaft.

Schon das von Zürich Kloten her anfliegende Flugzeug ist so gut wie leer, die wenigen Insassen verlaufen sich gleich nach der Landung und werden nicht wieder gesehen. Die Fahrt im Taxi führt durch möglicherweise bewohnte Vororte, es ist aber Nacht und kein Mensch zu sehen. Je weiter die Fahrt in das Stadtinnere führt, desto deutlicher werden die Zeichen des Unbewohntseins, in ganzen Straßenzügen sind die Fenster und Türen vernagelt, und in ganzen Vierteln ist alles niedergerissen, so daß man weit über das derart entstandene Brachland hinwegschauen konnte. Aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzt und nach wie vor ungeheuer gewaltig wirkend, ist die Wunderstadt des letzten Jahrhunderts beinahe restlos ausgehöhlt. Im Inneren der Stadt ist, obschon bereits der Morgen graut, niemand zu sehen. Tatsächlich konnte man glauben, die Stadt sei längst von ihren Bewohnern verlassen und nun mehr ein einziges Totenhaus oder Mausoleum. Als einzige nachweislichen Bewohner Manchesters lernen wir vorerst Gracie Irlam kennen, in deren Hostelrie Selysses seine Unterkunft findet. Die anderen Gäste, travelling gentlemen and their female companions, bleiben unsichtbar. Selysses wird auf ein Elektrogerät, die sogenannte Teemagd, als Lebensgefährten angewiesen bleiben. Wenn die Nacht sich herabsenkte, begannen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Anscheinend ist die Stadt von unmündigen Squattern in Beschlag genommen. An einer Straßenkreuzung inmitten in der Ödnis von Angel Fields stößt Selysses auf einen kleinen Knaben, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der ihn, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen. Zwei Überlebende der Menschheit, jeder mit einem leblosen Gefährten, Magd und Gesell.
Der zweite nachweisliche Bewohner Manchesters ist Aurach, der Titelheld der Erählung, um die es geht. Folgt man dem Weg in den gepflasterten Hof, in dessen Mitte, umgeben von einem kleinen Grasplatz, ein blühendes Mandelbäumchen steht, ist es allerdings, als betrete man exterritoriales Gelände. Nichts deutet darauf hin, daß es irgendwo in Manchester ein weiteres Mandelbäumchen geben könnte. In gewisser Weise ähnlich steht es um Aurachs zweite Wohnstätte, dem Wadi Halfa, einem Lokal, das von einer vielköpfigen Nomadenfamilie betrieben wird. Ein von unbekannter Hand gemaltes Fresko an der Wand des Lokals zeigt eine Karawane, sie aus der fernsten Tiefe des Bildes heraus und über ein Wellengebirge von Dünen hinweg auf den Betrachter zu sich bewegte. Mehr noch als die Squatter im Kindesalter scheinen die Wüstensöhne berufen, die Wüstenstadt Manchester in ihre Gewalt zu bringen.

Fünf Zeitschichten sind in der Erzählung durch Manchester gelegt, ohne daß die Leser sich darüber immer im klaren wären, das ist auch nicht nötig. Da ist Manchester die Wunderstadt des neunzehnten Jahrhunderts; Manchester in den vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, Aurach kommt als Kunststudent in die Stadt; in den sechziger Jahren, Selysses reist an; in den Siebzigern, die Stadt scheint einen neuen Aufschwung zu nehmen; in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, Selysses erneuert die Bekanntschaft mit Aurach und der scheinbare Aufschwung ist schon wieder hinfällig. Was man gebaut hatte, um den allgemeinen Zerfallsprozeß aufzuhalten, war selbst schon vom Zerfall bedroht, ja, sogar die sogenannten development zones am Rand der Innenstadt und entlang des Schiffahrtskanals schienen schon wieder halb aufgegeben. Die siebziger Jahre bleiben ohne nachhaltige Wirkung und werden daher übersprungen, so daß die Sechziger an die Achtziger anschießen. In den Vierzigern funktionierte Manchester noch in einem ausklingenden Modus des vorausgegangenen Jahrhunderts, so daß letztlich die Stadt des zwanzigsten der des neunzehnten Jahrhunderts gegenübersteht.

Auf seinen ersten Ausflügen sieht Selysses so gut wie nur verlorene Hinterlassenschaften der Vergangenheit, eine längst außer Betrieb gesetzte Gasanstalt, ein Kohlendepot, eine Knochenmühle, den endlos sich dahinziehenden gußeisernen Palisadenzaun eines Schlachthofs, eine aus lauter lederfarbenen Backsteinen gemauerte gotische Burg mit Brustwehren und Zinnen und zahlreichen Türmchen und Toren. In der Nachmittagsdämmerung brachen die Stare in einer weit in einer weit in die Hunderttausende gehenden Zahl in dunklen Wolken über die Stadt herein. Über den leeren Lagertennen und Speichern segeln aus dem Schatten eines der hoch hinaufragenden Gebäude mit wildem Geschrei die Möwen hinaus ins Licht. In dem in die Ebene auslaufenden Parkland, weit unterhalb des Aussichtspunktes, ist ein Rudel Hirsche auf dem Weg in die Nacht. Ob es Courbets Hirsche waren, fragt man sich, als man später auf dessen Bild Die Eiche des Vercingetorix stößt. Neben der Inbesitznahme durch Squatter und Wüstennomaden hat, ausgehend womöglich vom Mandelbäumchen in Aurachs Hof, die Renaturalisierung des Stadtgeländes begonnen.

Der Höhepunkt des Aufschwungs des in allen Ländern als ein an Unternehmergeist und Fortschrittlichkeit nicht zu überbietenden Industriejerusalems sei, so Aurach, des Bau des Schiffahrtkanals in den Jahren 1887 bis 1894 gewesen. Durch die Vollendung des gigantischen Kanalprojekts war Manchester zum größten Binnenhafen der Welt aufgestiegen. Der Schiffahrtsverkehr hatte um 1939 seinen Höhepunkt erreicht und war dann bereits gegen Ende der fünfziger Jahre völlig zum Erliegen gekommen. 1945, nach der Entlassung aus der Armee, hatte Aurach sich während eines Spaziergangs einen Blick auf die Stadt aus der Vogelperspektive verschafft. Die letzten Sonnenstrahlen waren eingefallen und hatten eine Zeitlang das Panorama wie in einem einzigen Feuerschein aufleuchten lassen. Erst als der erlosch, wurden die ineinander gestaffelten und verschobenen Häuserzeilen sichtbar, die Spinnereien und Färbereien, dis Gaskessel, Chemiewerke und Fabrikationsanlagen jeder Art. Das eindrucksvollste aber die überall aus der Ebene und dem flachen Häusergewirr herausragenden Schlote, die heute nahezu ausnahmslos niedergelegt oder außer Betrieb sind. Damals aber rauchten sie noch zu Tausenden, bei Tag sowohl als in der Nacht.

Die Gedanken sind frei, und so mag man sich vorstellen, die vierte und letzte der langen Erzählungen zu kürzen um die Teile, die nicht in Manchester angesiedelt sind, um sie anschließend zu wenden und nicht von Geschehen, sondern vom Schauplatz her zu lesen. Man hätte eine zusätzliche authentische Sebalderzählung gewonnen: Splendour and Misery of the City of Manchester, wobei es den Glanz in den Augen des Dichters nie gegeben hat.
Selysses und Aurach bewohnen Manchester weniger, als daß sie es betrachten und deuten, ähnlich wie die Kosmonauten den Stern Solaris. Die Deutung scheint die Oberhand zu gewinnen gegenüber der Betrachtung, vieles, was zu sehen wäre und was der einfache Reisende sieht, bleibt außerhalb des Blickfelds. Für Selysses, der die Stadt nur in ihrem späten Zustand kennt, scheint alles Vorausgegangene nur Präliminarium, um das Spätere zu ermöglichen. Das schwarze Loch ist die Bestimmung der Sterne, und auch in der Mitte der Stadt scheint alles überzugehen in einen tiefschwarzen, in keiner Weise mehr differenzierten Bereich. Als seine Mittel es erlauben, nimmt Aurach Wohnung in einem verfallenden Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts, die beiden Zeitseiten der Stadt sind verklammert. Auf den letzten Seiten gleitet die Erzählung hinüber nach Lodsch, do Łodzi, polskiej metropolii przemysłowej, zwanej niegdyś polskim Manchesterem. Wir stoßen hier auf Nona, Decuma und Morta, die Tochter der Nacht mit Spindel und Faden und Schere. Diese Seiten sind das letzte Kapitel auch der Erzählung, die hier gelesen wurde.

Sonntag, 2. Dezember 2012

Das neunzehnte Jahrhundert

Frau Margret & Gracie

Sebald arbeitet nicht als Historiker, sondern als Dichter. Sein Held, Selysses, zieht durch die von ihrer Geschichte gestalteten und verwüsteten Länder Europas. Die vier Prosabücher nicht weniger als das Elementargedicht Nach der Natur sind in hohem Maße geschichtsträchtig, die jeweils erreichte Tiefe der Zeit ist unterschiedlich. Mit den beiden Protagonisten Grünewald und Steller ist das Elementargedicht besonders tief in die Vergangenheit gerichtet. Nicht auf den Haupterzählebenen, aber über Werke der bildenden Kunst, Giotto, Pisanello, Tiepolo, reichen die Schwindel.Gefühle gleich weit zurück. In den Ringen des Saturn markiert Rembrandts Prosekturbild die im Ansatz schon mißlingende Ablösung des Mittelalters durch die Moderne.

Auf den ersten Blick zumindest scheinen die beiden Reise- und Wanderbücher geschichtsschwerer zu sein als die beiden Lebensgeschichtenbücher, einer genaueren Betrachtung hält dieser Eindruck womöglich nicht stand. Die Schwindel.Gefühle bewegen sich untergründig in der Zeitspanne von 1813, als Beyle, der im vorhergehenden Winter den Napoleons Untergang einleitenden grauenhaften Rückzug aus Rußland mitgemacht hatte, sich in einer anhaltend elegischen Stimmung befand, und dem Jahre 1913, als die Zeit sich wendete, und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur entlanglief. Wenn wir die Frist von der Kaiserdämmerung bis zur blutigen Morgenröte des Weltkrieges als die des neunzehnten Jahrhunderts sehen, so wäre es eine einzige Nacht gewesen. The night of time far surpasseth the day, and who knows when was the AEquinox? Das ganze neunzehnte Jahrhundert ist der Boden, auf dem Selysses in unserer Zeit durch Oberitalien reist, um schließlich von Oberjoch aus auf dem Sebaldweg in seinen Geburtsort W. zu wandern. In den letzten Zeilen des Buches wird ein Blick auf das Jahr 2013 geworfen, dann ist Ende, das Ende des Buches, vielleicht das endgültige Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, vielleicht die Grenze für die Reichweite des prophetischen Blicks, vielleicht das Ende der Welt. Die vorausgehende napoleonische Zeit sehen wir durch die Augen der Napoleonverehrer Stendhal und Hilary. In den Korsikafragmenten hatte Sebald begonnen, das Bild des Kaisers mit zusätzlichen, der Verehrung nicht dienlichen Zügen auszustatten. Auf die Revolutionszeit fällt Licht in den Rousseau und Chateaubriand betreffenden Veduten.

Die Unterlegung des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem neunzehnten setzt sich in den weiteren Büchern fort. In den Ringen des Saturn wird die Gründung des europäischen Reichtums auf den Verbrechen des Kolonialismus, des englischen in China und mehr noch des belgischen im Kongo drastisch vor Augen geführt. Die Instrumente der Ausbeutung sind Handelskompanien wie die Société Anonyme pour le Commerce du Haut Congo, deren bald legendären Bilanzen beruhen auf einem von sämtlichen Aktionären und sämtlichen im Kongo tätigen Europäern sanktionierten Zwangsarbeit und Sklavensystem. In manchen Regionen des Kongo wird die eingeborene Bevölkerung durch die erpreßte Arbeitsleistung bis auf geringe Reste dezimiert. Zwischen Geröllhalden sieht man schwarze Figuren in Trupps bei der Arbeit und Trägerkolonnen, die in langer Linie sich fortbewegen durch das unwegsame Terrain. Ein Stück weit außerhalb des besiedelten Areals stößt man auf einen Platz, an dem die von der Krankheit Zerstörten und von Hunger und Arbeit Ausgehöhlten zum Sterben sich niederlegen. Wie nach einem Massaker liegen sie da in dem gräulichen Dämmer auf dem Grunde der Schlucht. Offenbar als Strafe eines unnachsichtigen Gottes alttestamentarischen Zuschnitts, der, selbst handlungsschwach, dem Dichters das Wort überläßt, gibt es in Belgien bis auf den heutigen Tag eine besondere, von der Zeit der ungehemmten Ausbeutung der Kongokolonie geprägte, in der makabren gewisser Salons und einer auffallenden Verkrüppelung der Bevölkerung sich manifestierende Häßlichkeit, wie man sie anderwärts nur selten antrifft. Jedenfalls entsinnt sich Selysses genau, daß ihm bei seinem ersten Besuch in Brüssel im Dezember 1964 mehr Bucklige und Irre über den Weg gelaufen sind als sonst in einem ganzen Jahr.

Für die ältere Zeit, deren Worte uns fremd geworden sind, läßt Sebald gern die Bilder der Maler sprechen, die Malerei des neunzehnten Jahrhunderts ist dagegen wenig vertreten. Turner bestreitet einen Abschnitt in Austerlitz, da ist es eine Koinzidenz, wenn Osterhammels immenses Buch über das neunzehnte Jahrhundert ein Eisenbahnbild Turners auf dem Umschlag hat. Nicht nur dem Westernfilm und Benjamin gilt der Eisenbahnbau als Inbild des neunzehnten Jahrhunderts. Selysses ist ein eifriger Nutzer der Bahn in unserer Zeit. Insbesondere Austerlitz ist von Gleisanlagen und Bahnhofsbauten geprägt, auch von anderen Monumentalbauten, in denen das späte neunzehnte Jahrhundert seine Apotheose, seinen Kulminationspunkt feierte und von hoch oben vielleicht schon der Funken die Zündschnur durchs Gras laufen sah, seinem Ende schon ins Auge blickte. Wieder ist Belgien, dessen Hauptstadt inzwischen die Hauptstadt Europas ist, ein bevorzugtes Erkundungsgelände. Jetzt aber sah ich, so Selysses, wie weit der unter dem Patronat des Königs Leopold II errichtete Bahnhofsbau über das bloß Zweckmäßige hinausreichte, und verwunderte mich über den völlig mit Grünspan überzogenen Negerknaben, der mit seinem Dromedar als ein Denkmal der afrikanischen Tier- und Eingeborenenwelt hoch droben auf einem Erkerturm zur Linken der Bahnhofsfassade seit einem Jahrhundert allein gegen den flandrischen Himmel steht. Ringsum in der Eingangshalle sind auf halber Höhe steinerne Schildwerke mit Symbolen wie Korngarben, geflügelten Rädern und ähnlichem angebracht, wobei das heraldische Motiv des Bienenkorbs nicht, wie man zunächst meinen möchte, die dem Menschen dienstbar gemachte Natur versinnbildlicht, auch nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation, abgesichert in ihrem ungestörten Verlauf durch die Verwaltung sogenannten Rechts im Justizpalast in Brüssel, die größte Anhäufung von Steinquadern in ganz Europa. In diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude gibt es Korridoren und Treppen, die nirgendwo hinführen, und türlose Räume und Hallen, die von nie jemand zu betreten sind, und deren ummauerte Leere das Geheimnis aller sanktionierten Macht ist. Neben vielen anderem, das noch anzuführen wäre, sind es in den Schwindel.Gefühlen, in einer unerwarteten, durch die Verdioper Aida ermöglichten Wende ins Morgenländische der Suezkanal und das Kairoer Operhaus, in dem man sich zusammenfindet zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts, ehe das Gebäude dann, vor der Zeit, in Flammen aufgeht.
Das Signum des neunzehnten Jahrhunderts sieht Sebald, dabei kaum Originalität beanspruchend, in der Proliferation des Kapitals und in den irreparablen Schäden, die sie auslöst in der Natur, in der Gesellschaft und im Gefühlsleben der Menschen. Er überläßt die näheren Ausführungen aber weder einem Theoretiker noch einem Historiker, sondern dem Dichter Gottfried Keller an, in dessen Werk die Entwicklungslinien, die bis auf die heutige Zeit unser Leben bestimmen, so deutlich zutage träten wie nirgend sonst. Den Mitreisenden des Jahrhunderts schien es für eine Weile noch, als könne alles noch anders kommen können, als es dann tatsächlich kam. Hätte es gänzlich anders kommen können? Den jeweiligen Gegenwartszustand hat Luhmann mit den Worten beschrieben, alles könne ganz anders sein, und kaum etwas sei zu ändern.

Dem in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Lauffeuer um sich greifenden Hochkapitalismus hat Keller im Trödelladen ein Bild entgegengesetzt aus jener früheren Zeit, in der die Verhältnisse der Menschen zueinander noch nicht über das Geld geregelt wurden. Anders als das fortwährend umlaufende Kapital sind die hier verwahrten und verdämmernden Dinge aus dem Verkehr gezogen, haben ihren Warencharakter längst eingebüßt und sind gewissermaßen schon in die Ewigkeit eingegangen. Sebald hat das Trödelgeschäft als Antikos Bazar an den dunkelsten Ort in seinem Werk plaziert.
Beherrscherin und Seele des Trödelreichs ist bei Keller eine bejahrte, dicke Frau in altertümlicher Tracht. Frau Margret, die kaum etwas Gedrucktes zu lesen vermag, noch je das Rechnen mit arabischen Ziffern erlernt hat, führt ihre nicht existierenden Bücher auf einem Tischblatt mit einem Stückchen weicher Kreide und mit nicht mehr als vier verschiedenen römischen Ziffern, indem sie lange Postenketten aufstellt und vermittels komplizierter Transformationen große Summen kleinerer Ordnung in kleinere Summen größerer Ordnung verwandelt. Als wir dann noch erfahren, Frau Margret habe ihre Wohnung in eine Art Hostelrie für durchreisende Handelsmänner verwandelt, wird klar, daß wir sie in unserer Zeit als Gracie Irlam wiederfinden, in deren Absteige für sogenannte travelling gentlemen Selysses Unterkunft findet. Ihr gelingt die Verwandlung und Entschärfung des Geldes auf der Grundlage der märchenhaften englischen Währungsformen, indem sie mithilfe eines halb manuellen, halb rechnerischen Verfahrens zuerst über das Zwölfersystem die Pennies, Thre’Pennies und Sixpence pieces in Schillinge, die Zweischilling- und Halbwertkronenstücke über Zwanzigermengen in Pfundwerte umsetzte. Die drauffolgende Rückverwandlung der solchermaßen bestimmten Pfundsumme in Einheiten von einundzwanzig Schilling, also in sogenannte guineas, erwies sich zwar stets als der schwierigste Teil der Finanzoperation, war aber zugleich deren zweifellose Krönung. Gracie unterhält ihre Hostelrie in Manchester, der Paradestadt des neunzehnten Jahrhunderts, dem inzwischen auf den Hund gekommenen Kapital- und Industriejerusalem der oft ahnungslos so genannten guten alten Zeit.

Margret und Gracie sind durch mehr als ein Menschenalter getrennte und daher gut unterscheidbare Zwillingsschwestern, jede ein Kind ihres Jahrhunderts. Gracie ist die Gewitztere. Das für Margret tragende Motiv des Trödels ist bei Gracie auf die mit Candlewickdecken vollgestopfte Mahagonitruhe und, wenn man will, das electric miracle der teas-maid geschrumpft, die im neunzehnten Jahrhundert noch denkbare Idylle läßt sich nicht heil bewahren. Das hart verdiente Geld gerät durch die geheimnisvolle Verwandlung in Guineas nicht aus dem Umlauf. In ihrer Hostelrie beherbergt sie nicht nur die Gentlemen, sondern auch the gentlemen’s travelling female companions. Gracie Irlam hat in der zweiten Hälfte der langen Erzählung einen ebenso bedeutsamen wie unwahrscheinlichen Auftritt in einem Bild des Malers Aurach G.I. on her Blue Candlewick Cover. Von der anrüchigen Herberge in die Kunstzone: für einen Augenblick scheint sich eine weitere Frauengestalt einzufinden, Prousts Rachel, die sich von der Prostituierten zur gefeierten Bühnendiva wandelt. Wie es Gracie auf Aurachs Bild geschafft hat, erfahren wir im einzelnen nicht, nur soviel, daß sie jetzt, damit der Rachel noch um einiges näher, den Beruf einer Flügelhornistin ausübt.

Nicht zuletzt das Bild G.I. on her Blue Candlewick Cover begründet Aurachs unerwarteten und ungewünschter Ruhm in der sogenannten Kunstwelt. Die jetzt reichlich fließenden Geldmittel beeinflussen und verändern seine bisherige asketische Lebensweise nur in einem Punkt. Wie Nabokow verlegt er seine Wohnung in ein Hotel, indem er eine Suite im Midland mietet, mehr oder weniger nur noch die Ruine eines Luxushotels vom Ende des 19. Jahrhunderts. Aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterscheiben sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen, ganze Teile des Hauses sind abgesperrt, und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis der Betrieb eingestellt und das Midland verkauft und in ein Holiday Inn umgewandelt wird. Der Künstler richtet sich ein in den Trümmern des neunzehnten Jahrhunderts. Die Zukunftsprognose des Dichters hat sich mehr oder weniger erfüllt. Das Midland wurde 2004 von der Paramount Hotel Gruppe übernommen und für 12 Millionen Pfund renoviert. Es durfte allerdings die Fassade und den Namen des Midlands behalten.

Nicht nur die Frau Margret hat Sebald verwandelt in das zwanzigste Jahrhundert versetzt, sondern auch das, in seiner Sicht, tiefste Merkmal der Kellerschen Prosa, die, bedingungslos allem Lebendigen zugetan, ihre staunenswerten Höhepunkte gerade dort erreicht, wo sie an den Rändern der Ewigkeit entlang führt. Wer sich dahin bewegt auf ihrer schönen, Satz für Satz vor uns aufgerollten Bahn, der spürt immer wieder immer wieder mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht, wie das Taglicht manchmal schon schwindet vor den von weit draußen heranziehenden Schatten und oft beinah erlischt unter dem Anhauch des Todes.
Sebald hat sich als Fortführer der Prosa des süddeutschen Sprachraums im neunzehnten Jahrhundert gesehen. Was er bei Keller erspürt, liegt, ihn selbst betreffend, für seine Leser plan auf der Hand. Die Bahn der Sätze ist breiter noch und kommoder, die Abgründe sind tiefer, das Taglicht ist heller, die Schatten sind dunkler und der Hauch des Todes ist ein böser Sturm. Modernität ist, von einem, dem man nicht gern widerspricht, auch schon so beschrieben worden: Das Alte ist gerade erprobt genug, um ein durchaus Neues zu bewältigen.

Sonntag, 25. November 2012

Plagiat

Blinde Passagiere

Verschiedene Personen des öffentlichen Lebens in Deutschland haben in der letzten Zeit den Hochschulgrad zurückgeben müssen, andere kämpfen noch um die angefochtene akademische Auszeichnung. Ihnen allen wird unkorrektes Zitieren und übermäßige Nutzung vorgefundener Texte zum Vorwurf gemacht. Der Sebaldleser ist angesichts dieser Vorkommnisse verunsichert, weiß er doch, daß sein Autor ständig andere Autoren nutzt und zitiert, ohne das irgend kenntlich zu machen. Einiges entdeckt der Leser selbst, anderes erfährt er von Lesegefährten und wiederum anderes räumt der Autor ohne jedes Schuldgefühl ein: Und dann steht da plötzlich in einem Ihrer Bücher ein kostbares Wort: Wenn einer angelehnt steht an den Strom der Zeit. – Ja, das ist ein geborgtes Wort, das stammt aus Woyzeck.

Literatur ist nicht Wissenschaft und umgekehrt gilt das auch, wird man gleich einwenden, die Freiheiten der Kunst können nicht die der Wissenschaft sein. Dabei läßt sich durchaus eine wissenschaftliche Arbeit denken, die, so gut wie nur aus Bekanntem montiert, erregend Neues erbringt. Ein Physiker etwa könnte neun bekannte Formeln untereinanderschreiben, einen Strich darunter ziehen und von einem bloßen ergo eingeleitet die zehnte, gänzlich neue zur Kenntnis bringen: quod erat demonstrandum. Wenn die zehnte Gleichung dann noch die ungefähre Qualität von E = mc² haben sollte, wollte niemand wegen mangelhafter Zitiertechnik die Graduierung verweigern. Luhmann hat immer betont, Bücher würden nicht von Menschen geschrieben, sondern schrieben sich selbst aus anderen Büchern. Im Nachweisapparat hat er meist auf das Personenregister verzichtet. Nach seinem Tod hat der legendäre Zettelkasten allerdings die Produktion eingestellt und damit eine letztendliche Abhängigkeit vom Autor erwiesen.

Die Literaturwissenschaft legt besonderen Wert auf den Nachweis, daß sie sich vom oft leichtfertigen Treiben ihres Forschungsgegenstandes nicht hat anstecken lassen. So wird etwa die im Zitatkontext notwendig werdende Änderung einer Flexionsform penibel mit Klammer und Schrägdruck als nicht auf den erforschten Autor, sondern auf den Forscher zurückgehend gekennzeichnet. Nicht der geringste Zweifel soll bestehen an den Eigentumsverhältnissen. Niemand hat Spaß an diesem feinsinnigen Kataster, aber um Spaß geht es auch nicht, die Idee der fröhlichen Wissenschaft hat sich nicht durchgesetzt. Der renitente Leser allerdings ist oft nicht bereit, sich Spaß und Freude an der Lektüre nehmen zu lassen.

Zur Alltagsausstattung eines Dichters gehören wie bei den meisten Menschen Meinungen, Ansichten und Standpunkte. Dem Vollendeten allerdings liegt es nach Buddhas Einschätzung fern, Ansichten zu haben. Wir würden das nicht vom Dichter selbst, wohl aber von seinem Werk fordern. Die Qualität literarischer Texte, ihre Vollendung, bemißt sich daran, wie weit ihre Kraft reicht, die Alltagsausstattung des Autors zu überwältigen und unkenntlich zu machen. Die Literaturwissenschaft ist demgegenüber in ihrer überkommenen einfachen Ausprägung darauf bedacht, den Weg in die Literatur rückgängig zu machen, und den Text auf die Alltagsausstattung des Dichters zurückzuführen, den Text als Illustration der Meinungen, Ansichten und Standpunkte des Autors zu verstehen.

Es gibt naturgemäß auch anspruchsvollere Forschungsansätze. Ein junger Forscher hat in die Sebaldbetrachtung das Rhizom à la Deleuze & Guattari eingeführt, angesichts der verzweigten unterirdischen Verflechtung der Motive beim Dichter ohne Zweifel ein erfolgversprechendes Konzept. Immer aber nimmt die Wissenschaft die Literatur aus sich heraus und versetzt sie in ein so oder so geartetes, in jedem Fall aber vom Text weit entferntes Erklärungsraster. Bei dem Rhizombeispiel hat der einfache Leser und Literaturfreund dann die Last, das Bild der ausgegrabenen und ans Licht gezerrten unförmigen und unschönen Pflanzenknollen bei der Lektüre ständig störend vor Augen zu haben. Aber Literaturwissenschaft wird um ihrer selbst willen betrieben und nicht für die Leser der Bücher, die müssen sich um ihre Belange selbst kümmern.

Der Literaturwissenschaftler sucht die Entfernung vom und letztlich die Ruhe vor dem literarischen Text. Er sperrt ihn in ein Gittergerüst, sei es das der Alltagsausstattung des Autors, sei es das Sproßachsensystem der beiden französischen Philosophen oder in ein anderes. Am Ende ist das Areal des Dichters sauber von dem des Forschers separiert, die Arbeit ist getan, die Akte kann geschlossen werden. Der Leser geht den umgekehrten Weg, er sucht nicht den Abstand vom, sondern die Nähe zum, die dauerhafte Symbiose mit dem Text. In einer Doppelbewegung möchte er aufgehen im Text und sich den Text zueigen machen, den Text mit und bei sich tragen. Der wahre Leser ist ein Leser auch dann und vielleicht in besonderem Maße dann, wenn er gerade nicht liest. Er geht mit dem Hund durch das heimisches Gelände und reist dabei mit Selysses durch Oberitalien. Heimgekehrt vom gemeinsamen Ausflug, der gemeinsamen Reise, mag er auf die Idee kommen, sich der angenehmen Vorgänge in seinem Kopf, des Amalgams aus Worten des Dichters, eigenen Worten und Worten Dritter in der Weise eines kleinen Sebaldstücks zu versichern.
Im Umgang mit Lektüre, die ihm wenig oder gar nicht behagt, wird der Leser seinerseits zum kühlen Betrachter, und nicht auszuschließen ist der Fall des Literaturwissenschaftlers, der zugleich Leser ist, es ist sogar der übliche Fall. Sebald selbst ist ein helles Beispiel. Schreibend hat er sich immer stärker zur Seite des Lesers hin bewegt. Schon seine literaturwissenschaftlichen Arbeiten in den Bänden Unheimliche Heimat und Beschreibung des Unglücks haben essayistische und belletristische Züge. Mit Keller, Walser und anderen Alemannen wollte er, anstatt sie zu behandeln, lieber gemeinsam Logis in einem Landhaus nehmen, und schließlich hat er sich, die Wissenschaft hinter sich lassend, zusammen mit Kafka, Büchner, Browne, Wittgenstein, auch mit Gefährten aus der bildenden Kunst - niemand weiß genau zu sagen, wer sich sonst noch alles aufhält in seinem Prosawerk - auf den Weg der Dichtung begeben.

Kafka ist nicht nur ständiger Begleiter bei den Fahrten durch Oberitalien, er ist auch dabei, als Jacquot Austerlitz vom Prager Bahnhof aus auf die Reise geschickt wird, als die weißen Taschentücher flattern gleich einer auffliegenden Taubenschar, und als es schien, daß der Zug, nachdem er unendlich langsam angerückt war, nicht eigentlich weggefahren, sondern bloß, in einer Art Täuschungsmanöver, ein Stück aus der überglasten Halle herausgerollt und dort, noch nicht einmal in halber Ferne, versunken sei. Oder im nächtlichen London, als überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste. Büchner steht in Wien, es wurde schon erwähnt, wie angelehnt an den Strom der Zeit, das Feuer des Onkels Evelyn, das in Andomeda Logde, Wales, von fast gar nichts brennt, ist das gleiche, das bei Keller die Mutter des grünen Heinrichs in der Schweiz unterhält, und als Selysses bei seiner Flucht aus Verona auf dem Brenner angelangt ist, geht ihm, gerade wie vormals Thomas Browne, durch den Sinn: The night of time far surpasseth the day, and who knows when was the AEquinox? Wie soll den Leser da nicht die Lust ankommen, mit von der Partie zu sein, von niemandem bemerkt, als blinder Passagier, der er ohnehin immer ist.

Sonntag, 18. November 2012

Warenparadiese

Poèmes de l’étalage

Benjamin hinterläßt den Eindruck eines von Haus aus ungebundenen, sich ohne Not marxistisch disziplinierenden Denkers, der uns nun aus den längst erloschenen Vulkanen des Marxismus mit an sich vermeidbaren Brand- und Alterspuren entgegentritt. Beim Passagenwerk habe er, so heißt es, Horkheimers und Adornos Hinweis aufgegriffen, ohne Rückgriff auf Marx sei das nicht ernsthaft zu machen. Die Passagen sind dann gar nicht gemacht worden, und die gesammelten Bruchstücke lassen die schöne Gestalt des fertigen Werkes nicht einmal erahnen. Fertiggestellt, in deutscher sowohl als in französischer Sprache, ist das kurze Exposé Paris, Capitale du XIXème siècle und naturgemäß gefällt daran alles besser als die seither durch die Verwendung an Zweimillionen anderen Stellen zugrundegerichteten Marxpartikel. Adorno hat im übrigen dem gleichen Empfinden Ausdruck verliehen, wenn er in einem späteren Brief an Benjamin schreibt, er, Benjamin, habe sich Gewalt angetan, um dem Marxismus Tribute zu zollen, die die weder diesem noch ihm selbst recht anschlagen.

Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt, heißt es im Passagenwerk, und etwas ausführlicher in der Arbeit über Baudelaire: Als Flaneur begibt sich der Literat auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. Oder, wie Walser es in seiner unverkennbaren Weise ausdrückt: Der scheinbar so bummelige und behagliche Spaziergang ist voll praktischer geschäftlicher Verrichtungen. Baudelaire hatte seinerseits die städtische Menschenmenge als den Lebensraum des Flaneurs identifiziert: Le flâneur entre dans la foule comme dans un immense réservoir d'électricité -, und wir hatten gesehen, daß Selysses als städtischer Flaneur an dieser Anforderung scheitert, da die Passanten sich ihm auf die eine oder andere Weise entziehen. Noch weniger trifft er den Markt an, das Poème de l’étalage, wie Benjamin es exemplarisch in den Pariser Passagen findet und darstellt, rezitiert er nicht.
Der Aufenthalt in Terezín ist der Höhepunkt des Sebaldschen Flanierens und als solcher, wie man sich denken kann, ein Tiefpunkt. Was die Menschen anbelangt, so trifft Austerlitz eine vornübergebeugte Gestalt, die sich an einem Stock unendlich langsam voranbewegt und dann plötzlich verschwunden ist, und einen Geistesgestörten, der wild fuchtelt, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Sein Poème de l’étalage findet er im Antikos Bazar. Was in den Auslagen zur Schau gestellt war, machte gewiß nicht mehr als einen geringen Teil des im Inneren des Bazars angehäuften Trödels aus. Aber selbst diese vier, offenbar vollkommen willkürlich zusammengesetzten Stilleben hatten für den Dichter – ihn und nicht Austerlitz sehen wir seltsamerweise im Spiegelbild der Fensterscheibe des Bazars - eine derartige Anziehungskraft, daß er sich von ihnen lange nicht fortreißen konnte. Fruchtlos zu fragen, ob das eine oder andere der Stücke vor Zeiten die Auslagen eines feinen Geschäftes in der Metropole gesehen haben mag, die Aufmerksamkeit des Dichters erregen nur die verlorenen, und an unerwarteten Orten wieder aufgefundenen Dinge.

In der Buchkritik ist Anstoß daran genommen worden, daß Selysses die Zeit in Terezín vor dem wichtigen Besuch des Ghettomuseums buchstäblich vertrödelt. Besser hätte er wohl bei dieser Gelegenheit die demokratischen Errungenschaften des modernen tschechischen Landes bedenken sollen, wie es ihm ja auch im Hinblick auf Belgien und die Belgier ausdrücklich angeraten worden ist. Aber selbst wenn sie auf den Holocaust zulaufen, kommen Sebalds Erzählstränge von weiter her. Terezín macht in jeder Hinsicht den Eindruck einer für die in ihr begangenen schweren Sünden mit alttestamentarischer Ungerechtigkeit gestraften Stadt. Der Handel ebenso wie das Wandeln sind zum Erliegen gekommen. Am Ende des Besuches in Terezín werden die letzten Bewohner des Ortes, darunter auch Selysses selbst, in einem Leichenwagen nach Prag gekarrt. Die verrenkten Leiber lehnten und hingen in den Sitzen, dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts oder in den Nacken gekippt.
Der Antikos Bazar ist geschlossen, ob er jemals geöffnet war oder sein wird, bleibt eine unbeantwortete Frage. Zeuge einer kaufmännischen Transaktion werden wir jedenfalls nicht. Generell ist in Sebalds Büchern das Marktgeschehen unauffällig. Selysses sehen wir ausschließlich Dinge kaufen, die für die Aufrechterhaltung der körperlichen und geistigen Tüchtigkeit unerläßlich sind, Lebensmittel also und Bücher. In Wien hält er schon bald seine Mahlzeiten nur noch an einem Stehimbiß oder verzehrt einfach etwas aus dem Papier. Restaurantbesuche wie in Verona oder Lowestoft verlaufen unerfreulich oder komisch-grotesk. Ob und gegebenenfalls wo er während des längeren Aufenthalts in seinem Heimatort W. etwas zu sich nimmt, bleibt im Verborgenen. Immerhin hatte er beim Abstieg auf dem Sebaldweg beim Hirschwirt in Unterjoch, um sich aufzuwärmen, eine Brotsuppe gegessen und einen halben Liter Tiroler getrunken.

In Venedig liest er in den Reisetagebüchern Grillparzers, die er noch in Wien gekauft hatte, eher beim Bouquinisten als in einem regulären Buchgeschäft, möchte man glauben. Von den Memoiren des Duc de Sully, die seither zu seinen liebsten Lektüren zählen, heißt es ausdrücklich, daß er sie für ein paar Schillinge bei einer Auktion erstanden hatte. Noch wohler ist ihm, wenn das Marktgeschehen ganz entfällt, wie beim von einem Großonkel mütterlicherseits ererbten Beredten Italiener, einem Hilfsbuch der italienischen Sprache, oder bei der ihm ebenfalls zugefallenen Bibliothek der Tante Mathild, die neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert, neben Reiseberichten aus den hohen Norden, neben Lehrbüchern der Geometrie und der Baustatik und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller zahlreiche religiöse Werke spekulativen Inhalts umfaßte sowie Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abschilderungen der uns alle erwartenden Pein.

Was die ebenfalls zu den unumgänglichen Notwendigkeiten zu zählende textile Ausstattung anbelangt, so wird das Wort an Michael Parkinson, einen wahren Stachanow der Konsumverweigerung, abgetreten. Er besitzt nicht mehr zwei Jacken, und wenn die Ärmel abgestoßen oder die Ärmel durchgewetzt sind, greift er selber zu Nadel und Faden und näht einen Lederbesatz auf. Sogar die Kragen an seinen Hemden soll er gewendet haben.

Schwer zu sagen, ob Parkinson und Leute seines Schlages den Niedergang der Textilmetropole Manchester verursacht haben, oder ob sie nach dem Erlöschen Manchesters kein geeignetes Angebot für Neuanschaffungen mehr vorfinden. Die erste Bedingung des Aufkommens der Pariser Passagen und der Auslagenkultur war laut Benjamin die Hochkultur des Textilhandels, für den die Schlote der Spinnereien und Webereien rauchen mußten. Diese Schlote sind heute nahezu ausnahmslos niedergelegt, damals aber rauchten sie zu Tausenden, einer neben dem andern, bei Tag sowohl als in der Nacht. In den aufgelassenen Lagerhäusern, die die Vorräte für Etalagen stapelten, drehen sich noch die Ventilatoren. Vor der Silhouette des erstorbenen Textiljerusalems spinnt der Dichter von Hand seine Fäden, verwebt sie und vernäht die bunten Flicken der Motive.

Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen, so Benjamin, bilden die Anfänge des Eisenbaus. Er enthält den entscheidenden Anstoß, als sich herausstellt, daß die Lokomotive nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die neuen Elemente des Eisenbaus, Trägerformen, beschäftigen wiederum den Jugendstil. Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen.

Sous le pont Mirabeau coule la Seine et nos amours: die Brücke, die Appoliniare lyrisch inspirierte, sieht Austerlitz als unförmige Betonmasse immer wieder in seinen Angstträumen. Tatsächlich sind wohl nur die Brückenfüße betoniert und die eigentliche Brückenkonstruktion ist eine um Rückgewinnung durch die Kunst bemühte Eisenkonstruktion, für manchen Betrachter nicht ohne Charme. Dabei spricht der Dichter dem Jugendstil weder Redlichkeit noch Erfolg ab, der letztere aber konnte nicht von Dauer sein, wie etwa am Prager Bahnhof zu sehen ist. Das einst weit über Prag hinaus berühmte Jugendstilbauwerk war 1919 zum Andenken an den freiheitsliebenden amerikanischen Präsidenten Wilson eingeweiht worden. Wie ausnahmslos alles Schöne wurde er dann aber in der Folge zielstrebig ruiniert und in den sechziger Jahren umgeben mit häßlichen Glasfassaden und Vorwerken aus Beton. Das kunstvolle Gitterwerk aus Glas und Eisen der Nordfassade der Pariser Gare d’Austerlitz wird gewürdigt, es berührt aber unangenehm, daß zwei winzige, wahrscheinlich mit Reparaturen beschäftigte Figuren sich ich der Konstruktion an Seilen bewegen gleich schwarze Spinnen in ihrem Netz.

Der Umstand, daß sich die meisten großen Bahnhöfe real längst in Warenparadiese mit begleitendem Gleisverkehr verwandelt haben, wird nicht honoriert. Das Geschehen um die Getränkeausgabe im Stehbuffet der Ferrovia Venedig hat den Charakter eines grotesken Mysterienspiels und in Prag ist es keineswegs das Paradies, sondern die Hölle in der neuzeitlichen Form der Spielhölle: Auf einer etwas erhöhten, gut zehn mal zwanzig Meter messenden Plattform standen in mehreren Batterien gewiß an die hundert in debilem Leerlauf vor sich hindudelnde Spielautomaten.

Im Bahnhof von Antwerpen sind in hierarchischer Anordnung die Gottheiten des 19. Jahrhunderts vorgeführt, zuoberst Handel und Kapital. Das heraldische Motiv des Bienenkorbs versinnbildlicht nicht etwa den Fleiß als eine gemeinschaftliche Tugend, sondern das Prinzip der Kapitalakkumulation. Aus dem Bienenkorb wird aber keine marxgestützte oder anderweitige Verlaufsgeschichte des Kapitals abgeleitet. Selysses läßt den Kapitalismus, wenn man so sagen darf, links liegen, so als habe er sein zerstörerisches Werk endgültig verrichtet und sei mit ihm verschwunden. Selysses lebt in einer postmodernen, postkapitalistischen, postapokalyptischen Welt. Die große Stadt Manchester ist so menschen- und warenleer wie das kleine Terezín. Brüssel, die europäische Hauptstadt, Europa schlechthin, wird am alles überragenden Bau des Justizpalastes erfaßt, und der erweist sich als menschenleer. Viele Stunden ist Selysses durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Eine Umgestaltung des, wie es den Anschein hat, aufgelassenen Palastes der Rechtssprechung in ein Warenhaus hat nicht stattgefunden, wie im Antikos Bazar türmt sich das Gerümpel. Man gerät in dunkle Sackgassen, an deren Ende Rolladenschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinander gestapelt sind, als habe hinter ihnen jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. Die Barrikade, ein weiteres Kapitel des geplanten Passagenwerkes, taucht für einen kurzen Moment auf vor unseren Augen.

In dem Brüsseler Monumentalbau breitet sich, wie zur Wiederbelebung einer untergegangenen Welt, das Kleingewerbe aus, immer wieder entstehen in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain eingerichtet worden sein von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, um die Anlage dann in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der weiteren Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umzuwandeln.

In seinem Heimatort ist der Dichter unter Kleingewerbetreibenden großgeworden, dem Bader Köpf, dem Uhrmacher Ebentheuer, dem Bäcker Mayr und vielen anderen. Das Großstadtkind Austerlitz hat mit dem Blick auf die Werkstatt des Schneiders Moravec und den Besuchen im Handschuhgeschäft der Tante Otýlie ganz ähnliche Erinnerungen. Der Dichter, selbst ein Einmannbetrieb, ist Mitglied der Gilde.

Wenn Benjamin schreibt, als Flaneur begibt sich der Literat auf den Markt, um einen Käufer zu finden, meint er naturgemäß nicht, der Literat wolle die Figur des Käufers beobachten, oder er selbst wolle eine Ware veräußern. Es geht um die Ablösung des Mäzenatentums durch den Markt. Sebald hatte den Vorteil eines gesicherten Einkommens, der ihm ein freies Dichtertum ermöglichte, erst der Erfolg zerrte ihn auf den Markt. Einige vermuten, daß sein angegriffenes Herz dem nicht gewachsen war, aussetzte und den tödlichen Unfall verursachte.

Mittwoch, 7. November 2012

Passanten

Flâneur à vide

Durch die Erhebung zur literarischen Figur haben Baudelaire, Benjamin und andere den Flaneur gestärkt und zugleich gefährdet. Le flâneur entre dans la foule comme dans un immense réservoir d'électricité. Il s'agit, pour lui, de tirer l'éternel du transitoire. Wer das liest, möchte seinerseits der gemeinen städtischen Menge entkommen, und zum einsamen Flaneur werden, der die Menge philosophisch betrachtet. Was aber ist ein einsamer Flaneur noch wert, wenn an jeder Straßenecke ein von ihm selbst erweckter und nunmehr gleich gestimmter, philosophisch flanierender Konkurrent auf ihn wartet.
Diese Überlegung bereitet nicht auf den Flaneur bei Sebald vor, sondern auf seine auffällige Absenz. Dabei weist Selysses, Sebalds Bruder im Text, eine Reihe notwendiger Eigenschaften des Flaneurs auf. Er ist allein und für sich, er ist gebildet und hat offenbar hinreichend Zeit. Ungeachtet seiner ländlich-dörflichen Herkunft wird man ihm ein urbanes Wesen nicht absprechen wollen. Sein Liebe gilt neben Benjamin dem eigenwilligen Flaneur Robert Walser. Er ist ein Mann, auch das sei erwähnt, denn die Gestalt der Flaneuse ist kaum bekannt; neueren Berichten zufolge orientiert sie sich inzwischen weitgehend in Richtung der, wie schon bei Benjamin erkennbar, verwandten und ökonomisch ungleich sinnvolleren Tätigkeit des Schoppens. Selysses aber fehlt, seiner persönlichen Eignung zum Trotz, nahezu komplett das eigentliche Medium des Flaneurs, die Menschenmenge. Die Passanten bleiben aus, oder es sind nicht die richtigen oder aber er selbst ist nicht in der richtigen Position oder Stimmung. Fehlgeleitet war freilich die Sorge um ein Verschwinden der Passanten durch massenhaftes Überwechseln in das Lager der Flaneure. Eine Verphilosophierung der Welt hat nicht stattgefunden. So berechtigt unsere Ängste sind, so falsch liegen wir oft mit unseren Befürchtungen. Das Unheil zeigt sein Gesicht erst, wenn es zu spät ist für Flucht oder Gegenwehr.

In Mailand gibt es eine hinreichende Zahl von Passanten, Selysses aber hat den Mailänder Dom aufgesucht und ist hinauf bis in die oberste Galerie gestiegen. Weit unten sieht er über das Pflaster hastenden Gestalten, die sich vor einem Unwetter in Sicherheit bringen wollen. Das ist nicht die Welt des Flaneurs, der die Begegnung auf gleicher Ebene sucht und nicht, selbst auf der Galerie in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, auf zwergenhafte Figuren am Boden steil nur herabschauen will.

Auch in dem kleinen Ort Limone am Gardasee fehlt es nicht an Einhergehenden. Als Selysses gegen Mitternacht zum Hotel zurückgeht, ist auch das ganze Ferienvolk paar- und familienweise unterwegs. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Bei den Feriengästen handelt es sich nicht um in ihre üblichen Geschäfte eingebundene Passanten, über die nachzusinnen sich lohnt, sondern um Pseudoflaneure auf einem unbekannten, von Dante noch nicht erahnten  Höllenkreis.

In Verona flaniert Selysses nach den Regeln der Kunst unter den Bäumen der Uferpromenade den Adige entlang bis zum Castelvecchio. Seine Aufmerksamkeit ist aber ganz gefangen von einem hellfarbiger Hund, der einen schwarzen Fleck wie eine Klappe über dem linken Auge hatte und der wie alle herrenlosen Hunde schräg zu der Richtung zu laufen schien, in der er sich fortbewegte, hatte sich auf dem Domplatz ihm angeschlossen und war immer ein Stück voraus. Blieb Selysses stehen, so hielt auch der Hund ein und schaute versonnen auf das fließende Wasser der Etsch. Ging er weiter, so machte auch der Hund sich wieder auf den Weg. Als er aber am Castelvecchio den Corso Cavour überquerte, blieb der Hund an der Bordsteinkante zurück, und Selysses wäre, weil er mitten auf dem Corso sich umwandte nach ihm, um ein Haar überfahren worden. – Vom frei schweifenden Blick des Flaneurs kann nicht die Rede sein.

Venedig scheint ausschließlich von Einzelgängern bewohnt, die einander übel wollen. Wer hineingeht in das Innere der Stadt, weiß nie, was man als nächstes sieht oder von wem man im nächsten Augenblick gesehen wird. Kaum tritt einer auf, hat er die Bühne durch einen anderen Ausgang schon wieder verlassen. Geht man in einer sonst leeren Gasse hinter jemandem her, so bedarf es nur einer geringen Beschleunigung der Schritte, um jemanden, den man verfolgt, die Angst in den Nacken zu setzen. Umgekehrt wird man leicht selbst zum Verfolgten. Verwirrung und eisiger Schrecken wechseln einander ab, kein Gedanke an entspannt aufmerksames Flanieren.
Austerlitz trifft in Prag an einem nach seiner eigenen Einschätzung viel zu hellen Tag ein. Der Tag ist wie überbelichtet, und die Menschen sehen so krank und grau aus, als wären sie sämtlich chronische, nicht mehr weit von ihrem Ende entfernte Raucher. Kein Flaneur könnte hoffen, unter diesen Moribunden auf ein immense réservoir d'électricité zu stoßen, für Austerlitz, dem der Sinn ohnehin nicht nach Flanieren steht, eher eine Erleichterung.
Wien ist nach allgemeiner Überzeugung eine wie zum Flanieren geschaffene Stadt. Die einzige Beschäftigung in Wien besteht für Selysses aber aus ebenso endlosen wie leeren Gängen, die aber über ein eher enges Areal nicht hinausführen, einen genau umrissenen, sichel- bis halbmondförmigen Bereich, dessen Rand zugleich die Grenze seiner Vernunft, Vorstellungs- und Willenskraft ist. Wien ist für ihn leer, menschenleer, Selysses kommt mit niemandem ins Gespräch. Er hat es nur mit Schemen zu tun, Menschen, die mit Sicherheit nicht mehr am Leben sind, wie die Mathild Seelos, der einarmige Dorfschreiber Fürgut oder, in der Gonzagagasse der aus seiner Heimatstadt verbannte Dichter Dante. Bloß mit den Dohlen redet der Dichter einiges und mit einer weißköpfigen Amsel
In Terezín fehlen Bewohner und damit Passanten so gut wie vollständig. Eine vornübergebeugte Gestalt bewegt sich an einem Stock unendlich langsam voran und ist dann plötzlich verschwunden. Ein Geistesgestörter fuchtelt wild, ehe er, mitten im Davonspringen, vom Erdboden verschluckt wird. Am unheimlichsten aber waren die Türen und Tore von Terezín, die sämtlich den Zugang versperrten zu einem nie noch durchdrungenen Dunkel.
In Fall Terezíns mag man die Entvölkerung der besonderen Vergangenheit der Stadt zuschreiben, aber Manchester ist kaum dichter besiedelt. An einem späten Novembernachmittag stößt Selysses an einer Straßenkreuzung inmitten der Ödnis von Angel Fields auf einen kleinen Knaben, der in einem Wägelchen eine aus alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der ihn, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgegend unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen.

In Den Haag trifft Selysses in der Rezeptionsnische des Hotels auf zwei nicht mehr ganz junge, offenbar seit langem vermählte Herren, mit ihrem an Kindesstatt angenommenen aprikosenfarbenen Pudel, - eine dem Flaneur würdige Beobachtung. Er kann das Niveau allerdings nicht halten. Wahrscheinlich gehe er, so gibt er selbst zu bedenken, in fremden Städten oft auf den falschen Wegen. Vor den Eingängen der diversen Unterhaltungs- und Eßlokale versammeln sich kleine Gruppen morgenländischer Männer, von denen die meisten stillschweigend rauchen, während der eine oder andere ein Geschäft abwickelt mit einem Klienten. Als dann aber ein dunkelhäutiger Mensch auf Selysses zustürzt, das blanke Entsetzen im Antlitz, verfolgt von einem seiner Landsleute, dessen Augen geradezu glänzten vor Mordlust und Wut, ein langes, blitzendes Messer in der Hand, ergreift der Flaneur die Flucht und liegt, verstört von den Nachwirkungen des Erlebnisses, lange schlaflos auf dem Bett in seinem Hotelzimmer.

In Antwerpen sucht Selysses, kaum angekommen, die Tierwelt im Dunkel des Nocturamas auf, ein Besuch der prägend wird für das Erleben dieser Stadt. Auch Austerlitz flaniert in London vorwiegend nachts, wenn die potentiellen Passanten schlafen. Man kann ja tatsächlich zu Fuß in einer einzigen Nacht fast von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen, und wenn man einmal gewöhnt ist an das einsame Gehen und auf diesen Wegen nur einzelnen Nachtgespenstern begegnet, dann wundert man sich bald darüber, daß überall in den zahllosen Häusern die Bewohner jeden Alters anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben müssen unter sicherem Dach, während sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch die Wüste.

Paris, Capitale du XIXème siècle, ist das Eldorado der Flaneure. Austerlitz macht hier lange Spaziergänge in der Begleitung von Marie de Verneuil, ebenso in Marienbad. Nun findet der Flaneur unter den beobachteten Passanten, wie Botho Strauß hervorgehoben hat, durchaus Paare, er selbst aber kann nicht paarweise auftreten, da ihm in dieser Konstellation sein Charakteristikum, die entspannte und unbehinderte Aufmerksamkeit, verlorengeht.

Der Flaneur ist eine Erscheinung der Belle Epoque, deren Trümmer in Sebalds Werk zu besichtigen sind, so das Midland Hotel in Manchester, drei Kellergeschosse, sechs Stockwerke über der Erde, nicht weniger als sechshundert Zimmer. Derart enorm waren die Brausen, daß man unter ihnen wie in einem Monsunregen stand. Jetzt funktioniert die legendäre Dampfheizung bestenfalls noch stotternd, aus den Wasserhähnen rieselt der Kalk, die Fensterläden sind mit einer dichten, vom Regen marmorierten Staubschicht überzogen, ganze Teile des Hauses sind abgesperrt. Merkmal des klassischen Flaneurs war sein Hang zum Dandytum und zur ostentativen Langsamkeit, man führte Schildkröten bei seinem Spaziergang mit sich. Einen späten Abkömmling von vollendeter Dekadenz treffen wir in Deauville. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt kam die Gräfin daher, mit einem hoppelnden Angorakaninchen an der Leine. Sie hatte ein giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich hinunterbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in der linken Armbeuge hielt.

Der Flaneur betritt, sozusagen als seine essayistische Variante, mehr oder weniger zeitgleich mit dem Soziologen die geschichtliche Bühne, beide suchen eine Beobachterperspektive auf die rätselhaft gewordene Gesellschaft der Menschen von außerhalb der Gesellschaft. Die Soziologie hat sich inzwischen längst als gesellschaftliche Aktivität innerhalb der Gesellschaft erkannt, dem Flaneur jedoch, dem ungebundenen Intellektuellen fällt es nach wie vor schwer, den Anspruch auf eine archimedischen Position aufzugeben. Ce fut le regard d'un flâneur, dont le genre de vie dissimula derrière un mirage bienfaisant la détresse des habtitants futurs de nos métropoles. Selysses ist auf der Höhe unserer Zeit, indem er als Stadtgänger scheitert am schieren Unmaß der Neuzeit. Austerlitz spricht im Einverständnis mit dem Autor anhand der von ihm einzig akzeptierten Architekturformen unter dem Normalmaß der domestischen Architektur - der Feldhütte, der Eremitage, dem Häuschen des Schrankenwärters, dem Aussichtspavillon, der Kindervilla im Garten – der Stadt praktisch das Existenzrecht ab. Nicht umsonst zieht durch die verschiedensten Städte unversehens und an den überraschensten Orten immer wieder die Karawane der Wüstenbewohner. Nicht fern ist Ciorans Urteil, die Menschheit hätte nie über den Stand der Hirtenvölker hinauswachsen dürfen.

Die Schwindel.Gefühle sind, neben vielem anderen, das Buch des scheiternden Flaneurs, die Ausgewanderten und Austerlitz wenden sich einzelnen Lebensschicksalen zu, der Blick auf die Stadt bleibt dabei der gleiche. In den Ringen des Saturn tritt an die Stelle des urbanen Flanierens die ländliche Wanderung. Daß dabei das Weltgeschehen nicht aus dem Blick gerät, muß man niemandem sagen.