Donnerstag, 19. Juli 2012

Die Toten

L’éternité perdue

Nichts ist ihm in der Kindheit sinnvoller erschienen als diese beiden Tage, Allerheiligen und Allerseelen, Tage der Erinnerung an die Leiden der heiligen Märtyrer und der armen Seelen, an denen die dunklen Gestalten der Dorfbewohner seltsam gebeugt im Nebel herumgingen als seien ihnen ihre Wohnungen aufgekündigt worden. Insbesondere aber berührte ihn alljährlich das Verspeisen der Seelenwecken, die der Mayrbeck einzig für diese Gedenktage machte, und zwar nicht mehr und nicht weniger als einen einzigen für jeden Mann, jede Frau und ein jedes Kind. Aus Weißbrotteig waren diese Seelenwecken gebacken und so klein, daß man sie leicht in einer geschlossenen Hand verbergen konnte. Der Mehlstaub, der an seinen Fingern zurückgeblieben war, nachdem er seinen Seelenwecken aufgegessen hatte, ist ihm wie eine Offenbarung vorgekommen, und am Abend desselben Tags hat er noch lange in der im Schlafzimmer der Großeltern stehenden Mehlkiste gegraben, um das dort verborgene Geheimnis zu ergründen.

Der Seelenwecken unterscheidet sich vielleicht in der Backsubstanz nicht allzu deutlich von Prousts Madeleine. La recherche du mystère dans une huche à farine, à l’ombre des morts: eine weitere der gültigen Selbstspiegelungen des Prosawerks, anders als die der durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung einer jeden Erscheinung, eines jedes Blättchens (Pisanello) und die der Levitation der Sätze (Browne) nicht in einem anderen Kunstwerk, sondern auf einer Fläche des eigenen Erlebens und Erinnerns aus der Ferne der Kindheit. Festum Omnium Sanctorum und Commemoratio Omnium Fidelium Defunctorum, Feiern der Annäherung an die Toten, die dunklen Gestalten der Dorfbewohner gehen seltsam gebeugt im Nebel umher, den Toten um einiges ähnlicher als an gewöhnlichen Tagen, und vom Seelenwecken erweckt beginnt Selysses im jungen Alter die Suche nach der Wahrheit dort, wo er sie auf Dauer vermuten wird, im Kleid des Geheimnisses in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits.

Die beiden sinnvollen Tage sind vorüber und alles kehrt zurück zur Ordnung, die Lebenden in ihren Alltag, die heiligen Märtyrer an die Seite des Herrn und die armen Seelen ins Fegefeuer, das Jahr darauf wird man sich wieder treffen. Dieser Ablauf war aber nur möglich, solange die alten Meister noch einen Begriff geben konnten von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht und dabei zuverlässig auch die unsichtbare Zeitdimension der Ewigkeit mitmalten. But then people stopped thinking about eternity, they began do concentrate on measurable hours. Überall ticken die Uhren, eine Unzahl von Standuhren, Regulatoren, Wohnzimmer- und Küchenuhren, Weckern, Taschen- und Armbanduhren durcheinander, ganz so als könne ein Uhrwerk allein nicht genug Zeit zerstören. Und wir sind schon selbst wie eine Uhr, unsere getrübten Augen, die wir den Blinden gleich etwas aufrecht gegen die Helligkeit gerichtet halten, sind von derselben eisgrauen Farbe wie der Pastis im Glas. Wir blicken nur immer unverwandt nach oben und drehen dabei gleichmäßig mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand den sechskantigen Stiel des Glases Ruck für Ruck weiter, so gleichmäßig, als hätten wir in unserer Brust statt eines Herzens das Räderwerk einer Uhr.

Die Augen nach oben gerichtet gegen die vermeintliche Helligkeit sehen wir nichts als graues Dunkel, mit dem Verlust der Ewigkeit ist ein geordnetes Miteinander von Toten und Lebenden unmöglich geworden. Durch das fortwährende Ticken der Uhren wird die Zeit feingeschrotet zu einer ewigen Gegenwart, möglichst - vermittels Abortio am Eingang und Gerätemedizin am Ausgang - ohne weiteren Austausch des Personals, der einseitige Verlauf der Zeit streicht neben der Ewigkeit auch die Vergangenheit fort, und die Zukunft ist nurmehr eine ganz und gar leere Verheißung.

Selysses aber, in der Gestalt des Jacques Austerlitz, hat nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator, noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht. Seine Sehnsucht ist, sich in einer steinernen Burg bis an sein Lebensende mit nichts zu beschäftigen als dem Studium der vergangenen und der zeitlos vergehenden Zeit. Den Platz der Toten sucht er nicht in der von der christlichen Lebens- und Totenordnung verlassenen Gegenwart, die den Toten jeden Platz streitig macht, sondern in einer vorchristlichen Vergangenheit, etwa auf Korsika. Überall zogen sie dort herum, die Toten, in kleinen Banden und Gruppen und manchmal in regelrechten Regimentern. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie normale Leute, aber sowie man genauer hinschaut, verwischen sich ihre Gesichter oder flackern, gerade wie die Gesichter der Schauspieler in einem alten Film. Als Sebald das Korsikaprojekt aufgegeben hat, findet er die Regimenter bei der Niederschrift von Austerlitz im keltischen Wales wieder. Dort gehen Toten fast immer alleine, manchmal ziehen sie aber auch in kleinen Schwadronen herum: in bunten Uniformröcken oder in graue Umhänge gehüllt hat man sie schon gesehen, wie sie zwischen den Feldmauern, die sie nur knapp überragten, mit leisem Rühren der Trommel hinaufmarschierten in die Hügel über dem Ort.

Während bei einem der Mittelmeerinsel Korsika gewidmeten Buch die Beschäftigung mit archaischen Totenvorstellungen ohne weiteres einleuchtet, überrascht das Motiv in einem nach breitem Konsens vor allem anderen dem Holocaustthema verpflichteten Buch. Der Schuster Evan, von dem die keltischen Totenberichte stammen, ist in dieser Angelegenheit der Gegenspieler des Predigers. Im Gegensatz zu Elias, der Krankheit und Tod immer in einen Zusammenhang brachte mit Prüfung, gerechter Strafe und Schuld, erzählte Evan von Verstorbenen, die das Los zur Unzeit getroffen hatte, die sich um ihr Teil betrogen wußten und danach trachteten, wieder ins Leben zurückzukehren. Auszuschließen ist, daß Austerlitz, den die gewaltigen Kanzelreden des Prediger Elias nicht zum Glauben der Christenheit haben bekehren können, daraufhin der keltischen Mythologie und dem Glauben an die Krierien-noz anheimgefallen wäre. Evans Ausführungen mögen ihm eher einleuchten als die gewaltigen und fruchtlosen Rechtfertigungsanstrengungen des christlichen Lehrgebäudes, was erzählerisch benötigt wurde, war in jedem Fall ein scharfes Kontrastbild zur Moderne, die für die Toten keinen Platz in ihrer Mitte hat und sie unauffindbar unter ihren Tempeln verscharrt. Über die mit dem Staub und den Knochen zusammengesunkener Leiber versetzte Erdschicht hinweg war die große Stadt gewachsen. Um 1860, vor Beginn der Bauarbeiten an den beiden nordöstlichen Bahnhöfen, wurden ungeheure Erdmassen, mitsamt den in ihnen Begrabenen, aufgewühlt und verschoben, damit die Eisenbahntrassen, die auf den von den Ingenieuren angefertigten Plänen sich ausnahmen wie Muskel- und Nervenstränge in einem anatomischen Atlas, herangeführt werden konnten an den Rand der City.

Mit nichts anderem beschäftigt als dem Studium der vergangenen und vergehenden Zeit: der Begriff des Studiums überrascht in diesem Zusammenhang, eher würde man mit Betrachtung oder Versenkung oder ähnlichem rechnen, zumal bei Selysses vor Jahren schon den Wunsch erweckt wurde, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Man kann eine ironische Verwendung von Studium diagnostizieren. Bildung ist der operative Begriff der Aufklärung und Studium ihr Einsatzmodus. Zum einen erhofft man, da das nüchterne Studium des Vorhandenen häßliche Vorurteile und üble Meinungen über den Menschen vertreibt, und zum anderen soll das Studium, technisch ausgerüstet, zu Verbesserungen und Erleichterungen des Lebens der Menschen und damit in der Summe zu einer lichten Zukunft führen. Nichts dergleichen aber ist vom Studium der vergangenen und vergehenden Zeit zu erwarten.
Vor allem die Ringe des Saturn können als Protokoll einer längeren Studiensitzung gelten. Dem Studium der vergehenden Zeit dient die aktuelle Wanderzeit, die fortwährenden Abschweifungen in mehr oder weniger weite geschichtliche Tiefen erlauben das Studium der vergangenen Zeit, wenn es aber ein Studienergebnis gibt, dann dies, das beides ein und dasselbe ist. Das Buch beginnt mit zwei Totenreden und wird fortgeführt mit der Suche nach dem Schädel Thomas Brownes, der in seinem berühmten, halb archäologischen, halb metaphysischen Traktat über die Praxis der Feuer- und Urnenbestattung zu den späteren Irrfahrten des eigenen Schädels den schönsten Kommentar liefert an der Stelle, wo er schreibt, aus dem Grabe gekratzt zu werden sei eine Tragödie und eine Abscheulichkeit. Möglicherweise, so Selysses, war Browne anwesend bei der anatomischen Vorlesung des Dr. Tulp, die, so wie Rembrandt sie gesehen und festgehalten hat, das Scheitern der Neuzeit belegt bei dem Versuch, die alte Zeit abzustreifen, denn zweifellos handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. An Schädeln und Gebeinen fehlt es in der im witeren Verlauf des Buches nicht, im Kongo nicht, nicht in China, auf dem Balkan und in Bergen Belsen. Dann aber schließt das Buch, so als gäbe es die Ewigkeit, mit einem schönen Totenbild, kaum weniger innig als das von den Seelenwecken: Zu Brownes Zeit ist es in Holland Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder die Früchte der Felder zu sehen waren, mit seidenem Trauerflor zu verhängen, damit nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald für immer verlorenen Heimat.

Wie klar ist die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten? Als Selysses in seinen Heimatort W. zurückkehrt, ist die Engelwirtin, die namenlos bleibt, die einzige unter den aktuellen Bewohnern, mit der er, notgedrungen, in ein weitgehend wortloses Gespräch eintritt. Überlebt hat auch der Lukas Seelos, der nun den ganzen Tag auf dem Sofa lag oder höchstens mit nutzlosen kleinen Arbeiten im Haus herum verbrachte, und dem es geradezu unbegreiflich geworden war, daß er einmal ein guter Torwart gewesen sei und daß er, der immer öfter von schweren Depressionen geplagt wurde, im Dorf seinerzeit den Hanswursten gemacht hatte, ja daß er jahrelang in der Fasnacht das Ehrenamt des Fasnachtskaspers innegehabt hatte. Auf sein vergangenes Ich schaut er zurück wie auf einen Toten, und Selysses selbst verwandelt sich in seinen eigenen Großvater, indem er beim Herauskommen aus einer Haustür wie dieser zuerst stehengeblieben ist, um nach dem Wetter zu schauen und auf sein verlorenes Ich als Kind wie auf einen vertrauten Fremden. Wenn die Toten, die Krierien-noz, regelmäßig kleiner sind als die Lebenden, so vielleicht deswegen, weil sie den Durchschnittswert unserer verschiedenen nacheinander dahinscheidenden Lebensabschnitte innehaben.

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