Mittwoch, 4. Juli 2012

Zum ewigen Frieden

Fragen der Strategie

Sebald ist in der unmittelbaren Nachkriegszeit geboren, mehrfach erzählt er von der Überzeugung seiner Kindheit, Trümmerfelder seien feste Bestandteile eines jeden Stadtbildes, ähnlich wie, könnte ein anderer ergänzen, Bombentrichter als unverzichtbare Ausstattung der allen nach pädagogischen Gesichtspunkten angelegten Spielplätze weit überlegenen natürlichen Spielareale in den Waldungen galten.

An die Stelle dieser gleichsam ruhenden, dem Auge des Kindes unverfänglichen Kriegsspuren, treten für den Heranwachsenden schon bald die lebendigen Verheerungen und die sich nicht schließenden Wunden. Dabei sind es eher Spuren aus dem entsetzlichen Weichbild der Kriege als unmittelbare Folgen der Kampfhandlungen, die Selysses fortan nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Im Barrestaurant des Crown Hotels sitzt er bei der Teestunde, der Perpendikel der Standuhr bewegt sich gleichmäßig hin und her, Ruck für Ruck geht der große Zeiger durch seine Runde, und eine Weile schon fühlt er sich WIE IM EWIGEN FRIEDEN, als er bei der eher achtlosen Durchsicht des Independent auf einen langen Artikel über die wohl kaum als Kriegshandlung zu bezeichnenden Greueltaten der kroatischen Ustascha stößt. Auch die in den Ausgewanderten und dann naturgemäß in Austerlitz virulente Judenverfolgung und -vernichtung kann nicht als Kriegshandlung angesehen werden, auch wenn sie nur, wenn man so sagen kann, im Schutze des Krieges möglich wurde. Verschiedentlich aber wird auch der Krieg in dem Sinne, wie er Gegenstand der Militärwissenschaften ist, behandelt, Krieg zu Land (in den Überlegungen zum Festungsbau), zu Wasser (in der Schilderung des Battle of Sole Bay) und in der Luft, im Bericht William Hazels, Gärtner in Somerleyton, von den über seinen Kopf hinwegziehenden Bombergeschwadern.

Zusätzlich wird ein Blick auf Gattung des Kolonialkrieges geworfen, dadurch gekennzeichnet, daß zwischen den Kriegsparteien keine auch nur annähernd ausgewogene Waffengleichheit besteht. In China, im Vierten Teil der Ringe des Saturn, beschränkt sich die taktische Aufgabe der Engländer im wesentlichen darauf, geeignete Anlässe zu finden für die Attacke. Der strategische Grund steht mit der Öffnung des Marktes für die englischen Baumwollprodukte ohnehin fest, ebenso mit der christlichen Missionierung die vorgeschobene hehre Begründung. Im belgischen Kongo, im Fünften Teil, ist angesichts der Wehrlosigkeit der autochthonen Bevölkerung kein einleitender Krieg vonnöten, die Massakrierung der Schwarzen in den Rohstoffminen kann ohne militärische Präliminarien beginnen.
Bei innereuropäischen Kriegen waren die Verhältnisse herkömmlich anders. Das Emblem des Mittelalters ist die Burg, die für ein ausgeglichenes Verhältnis von kriegerischen Angriffs- und Abwehrmöglichkeiten stand. Mit Beginn der Neuzeit konnten die auf baulichen Vorkehrungen gründenden Abwehrmaßnahmen mit der rasante Fahrt aufnehmenden Entwicklung der Waffentechnik nicht mehr mithalten. Mit dieser Lage beschäftigt sich Austerlitz zu Beginn des Buches. Um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte gewappnet zu sein, so führt er aus, waren wir gezwungen, in sukzessiven Phasen uns stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die nach außen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre Grenzen stießen. Und auch dabei war die Waffentechnik immer einen Schritt voraus. Bei der Belagerung von Antwerpen wurden aus gerade erst erfundenen Riesenmörsern an die siebzigtausend tausendpfündige Bomben auf die Zitadelle geschleudert worden, und der greise Feldherr Baron de Chassé hatte schon Anstalten getroffen, sich mit dem Denkmal seiner Treue und seines Heldenmutes in die Luft zu sprengen, als ihm gerade noch rechtzeitig die Erlaubnis zur Kapitulation übermittelt wurde. Fest in ihren Gleisen können die Festungsbaumeister allerdings nur die eine Lehre ziehen, daß man nämlich die Ringanlagen um die Stadt um vieles mächtiger wieder aufbauen und weiter noch nach draußen verschieben mußte. Nach verschiedenen Erweiterungen hätte das Wachstum Antwerpens letztendlich erfordert, die Linie des Forts um weitere drei Meilen nach außen zu verlegen, womit sie freilich mehr als dreißig Meilen lang geworden wäre, mit der Folge, daß die gesamte belgische Armee nicht ausgereicht hätte, um eine adäquate Besatzung für die Anlage zu stellen. – Austerlitz’ Überlegungen dienen insgesamt als Beleg der These, daß gerade unsere gewaltigsten Pläne nicht selten am deutlichsten den Grad unserer Verunsicherung verraten.
Ähnlich wie bei der Belagerung von Antwerpen mit dem greisen Baron de Chassé tritt uns auch beim Battle of Sole Bay als einziger unter allen Kombattanten in Gestalt des drei Zentner schweren Earl of Sandwich ein an sich kriegsuntauglicher Schlachtenteilnehmer vor Augen. Von Flammen umzingelt sieht man ihn wild gestikulierend auf dem Hinterdeck und Wochen später dann als bei Harwich an den Strand gespülte Leiche. Die Nähte der Uniform waren geplatzt, die Knopflöcher ausgerissen, aber der Hosenbandorden strahlte noch in unverminderter Pracht.

Das Besondere am klassischen Seekrieg war, daß er auf engem Raum wie auf einer Schaubühne ablief. Wahrscheinlich sind damals die Bewohner von Southwold, sowie die ersten Kanonenschüsse gefallen waren, hinausgeeilt vor die Stadt und haben das seltene vom Strand aus verfolgt. Wahr an der Zuschauerperspektive ist aber nur, daß die Darsteller nicht die geringste Möglichkeit hatten, die Bühne zu verlassen, während die erlittene Pein, das gesamte Werk der Zerstörung nicht nur den Betrachtern verborgen blieb, sondern auch jedes Vorstellungsvermögen um ein Vielfaches überstieg, ebenso wie es nicht auszudenken ist, was für ein enormer Aufwand an Arbeit – vom Schlagen und Zurichten der Bäume, von der Gewinnung und der Verhüttung des Erzes und dem Schmieden des Eisens bis zum Weben und Vernähen der Segel – vonnöten gewesen sein muß, um die ja von vornherein größtenteils zur Vernichtung bestimmten Fahrzeuge zu bauen und auszurüsten.

Es ist nie richtig klar geworden, welche der beiden Parteien des Seegefechts am Ende siegreich gewesen ist, der holländische Niedergang hat mit einer kaum tarierbaren Verschiebung der Kräfte hier seinen Anfang genommen, während andererseits die nahezu bankrotte englische Seite trotz eines scheinbar völligen Mangels an Strategie und einer am Rande der Auflösung sich befindenden Marineverwaltung, dank vielleicht allein des damaligen Spiels der Winde und der Wellen ihre so lange ungebrochene Vorherrschaft über die Meere einleiten konnte. Wer will, mag hier eine gewisse Nähe zur Tolstoischen Geschichts- und Militärphilosophie, zur von ihm gestalteten Kutusowschen Strategie des Nichthandelns heraushören.

Tolstoi tritt in Sebalds Prosawerk nicht auf, gleich die erste Gestalt aber, der wir überhaupt begegnen, ist mit Stendhal ein anderer Stratege, der nach Einschätzung von Kennern des Kriegsfaches mit dem über das Schlachtfeld von Waterloo irrenden Fabrizio del Dongo die Wirklichkeit des Kampfgeschehens in unübertrefflicher Weise eingefangen hat. In den Schwindel.Gefühlen allerdings wird Stendhal bald klar, daß er selbst sein Glück im Dienst der Armee nicht würde machen können, so daß er den Entschluß faßt, der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden, ein sehr weit gestecktes Ziel, das er dann nicht ganz erreichen konnte. Der Geschichtslehrer André Hilary jedenfalls kommt bei der Analyse der Napoleonischen Schlachten und insbesondere der bei Austerlitz zu Ergebnissen, die Fabrizios Eindrücken entsprechen. Zuletzt bliebe, führt er aus, ungeachtet der penibelsten Detailkenntnisse, nichts übrig, als das, wovon man nichts wisse, zusammenzufassen in dem lachhaften Satz: Die Schlacht wogte hin und her. Die Beschäftigung mit der Geschichte sei immer eine Beschäftigung mit vorgefertigten Bildern, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liege.

Wenn also schon in den historischen Schlachten das wahre Geschehen sich hinter dem Rücken der Menschen abspielte, so geht der moderne Luftkrieg im wahrsten Sinne über unsere Köpfe hinweg. Abend für Abend, so Hazel, sah ich die Bombergeschwader über Somerleyton hinwegziehen, und Nacht für Nacht malte ich mir vor dem Einschlafen aus, wie die deutschen Städte in Flammen aufgingen. Ich kann heute noch kein Auge zutun, ohne die Formationen der Lancaster- und Halifax-Bomber, der Liberators und sogenannten fliegenden Festungen über die graue Nordsee hinweg nach Deutschland einfliegen und im Morgengrauen weit auseinandergezogen wieder heimkehren zu sehen. Neben dem unvorstellbaren Grauen in den deutschen Städten, die in Flammen aufgingen, die Feuerstürme in den Himmel lohten und die Überlebenden in den Trümmern wühlten, erklingt erneut das Motiv des wahnwitzigen Aufwands. Die achte Luftflotte allein hat im Verlauf der eintausendundneun Tage eine Milliarde Gallonen Gasolin verbraucht, siebenhundertzweiunddreißigtausend Tonnen Bomben abgeworfen, nahezu neuntausend Flugzeuge und fünfzigtausend Mann verloren.

Mit den Flugzeugen ist der Krieg zu dem geworden, was über unsere Köpfe hinweggeht, ohne daß wir uns noch sinnvolle Bilder davon machen könnten in der Art Tiepolos. Mit aufheulenden Motoren jagen die Maschinen der Flight Officers Russel P. Judd und Louis S. Davies hinter- und nebeneinander her durch die glänzende Frühlingsluft, bis sich die Tragflächen in einem Aufschwung berühren. Weder Stichflammen noch Rauchwolken steigen auf, die See hat sie lautlos verschluckt. Jahre später hat man sie hervorgeholt und die Gebeine begraben. Himmel, Wasser und Erde, die drei Elemente des Lebens und Tötens waren involviert, bevor die beiden zum Ewigen Frieden gefunden haben.

R.I.P.

Kaum ein Prosawerk atmet inniger die Sehnsucht nach dem ewigen Frieden, und kaum eins ist weiter entfernt von der beliebten Königsberger Schrift über die Möglichkeiten seiner Herbeiführung mit den Mitteln der Vernunft.

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