Freitag, 6. Juli 2012

Verdi

Tonausfall

In den Moments musicaux feiert Selysses Brahms und macht kein Hehl aus seiner Abneigung gegenüber bayerischer Volksmusik und Zitterspiel. Die Einstellung zu weiteren Formen und Gebieten der Musik wie der Oper und insbesondere auch die Einstellung zu Verdi bleiben unklar.

Für eine Bregenzer Aufführung der Oper Nabucco hatte Selysses als Dank für die Teilnahme an einer Veranstaltung des Rahmenprogramms Freikarten erhalten und steht nun unschlüssig mit den Karten in der Hand auf dem Vorplatz, unschlüssig, weil es ihm mit jedem vergehenden Jahr unmöglicher wird, sich unter ein Publikum zu mischen und unschlüssig, weil er den Chor der gemäß einem genialen Regieeinfall in richtige Juden mit KZ-Zebraanzügen verwandelten Sklaven nicht sehen will. Er verzichtet letztlich auf das Klangtheater und versenkt sich stattdessen vor dem Einschlafen an jenem Bregenzer Abend in ein Bild der Stille: Als der Maestro im Januar 1901 im Sterben lag, hatten die Mailänder vor seinem Haus Stroh in die Straßen gestreut, damit die Hufschläge der Pferde sich dämpften und er hinübergehen könnte in Ruhe. Im Traum dann sieht Selysses diese strohbedeckte Mailänder Straße und Kutschen und Droschken, die lautlos hin und her fuhren auf ihr.

Eine weitere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Verdi ergibt sich in Verona. Den Tag über hat Selysses in der Biblioteca Civica Veroneser Zeitungen aus den August- und Septemberwochen des Jahres 1913 studiert. Als er Abend Salvatore vor einer Bar auf der Piazza Bra gegenüber der Arena trifft, liegt auf dessen Tisch Sciascias Buch mit dem Titel 12 & 1. Auch die Oper ist nicht mehr, was sie einmal war, urteilt Salvatore. Dabei hätte er beim Besuch der Aufführung keineswegs Choristen in Zebraanzügen zu befürchten, die Bühnenbilder und die Kostüme für die Aida, die heute gegeben wird, sind vielmehr exakte Nachschöpfungen der im Jahre 1913 für die Eröffnung der Veroneser Festspiele von Ettore Fagiuoli entworfenen. Aber die Vergangenheit läßt sich weder mit dummer Gewalt und gestreiften Kitteln in die Gegenwart befördern, noch unberührt in ihr verwahren. Zumal das Jahr 1913 war ein ganz besonderes Jahr, die Zeit wendete sich, und wie ein Natter durchs Gras lief der Funken die Zündschnur entlang. Nichts ist seither mehr das, was es einmal war. Obwohl ihm die Oper alles bedeute, fährt Salvatore fort, habe er in den dreißig Jahren, die er lebe in der Stadt, nie eine Aufführung gesehen in der Arena. Er sitze hier draußen auf der Bra, wo von der Oper nichts zu hören ist, nicht der Orchesterklang, nicht der Chor, nicht die Stimmen der Sänger, kein Ton. Er höre gewissermaßen eine lautlose Oper. 

La spettacolosa Aida, als säße die ganze Gesellschaft immer noch zur Feier des unaufhaltsamen Fortschritts im Operhaus in Kairo bei der Uraufführung im Jahre 1871. Die Wälder wirst du wiedersehen, lautet das Versprechen Amanorosos. Und jetzt bricht ein Feuer aus im Opernhaus. Durch die Rauchschwaden unter der Decke senkt sich eine unbekannte Figur herab, di morte l’angelo a noi s’apressa. Das Kairoer Opernhaus ist aber nicht 1871, sondern 1971 niedergebrannt, der Todesengel senkt sich nicht auf Aida und Radames herab, sondern, ohne Gesang, auf uns. Die Geschichte geht jetzt ihrem Ende zu. Wir erleben sozusagen die Generalprobe der Abschlußszene der Schwindel.Gefühle, die aus dem Brand Londons hinleitet zum Weltende im Jahre 2013.

Salvatore ist längst gegangen und Mitternacht längst vorbei, als Selysses, der immer noch auf der Piazza Bra sitzt, glaubt, den Hufschlag eines Pferdes zu hören auf dem Pflaster des Platzes und das Rollen einer Kutsche, für ihn offenbar das Sinnbild der Verdizeit, der Zeit, als alles noch hätte ganz anders kommen können, als es dann gekommen ist. Die Kutsche bekommt er nicht zu Gesicht, stattdessen taucht vor seinem inneren Auge eine Freilichtaufführung der Aida auf, die er als Kind in Begleitung der Mutter gesehen hatte. An nichts kann er sich erinnern und schon gar nicht an die Musik, nur an den Triumphzug bestehend aus einem armseligen Reiterkontingent und einigen gramgebeugten, vom Zirkus Krone entliehenen Kamelen und Elefanten.
Die Erzählung All’estero schließt mit einer Szene am Sterbebett Kafkas, des frühen Sängers vom Scheitern der Neuzeit. Werfel überreicht dem todkranken Freund ein Exemplar seines Verdibuches, das Kafka wohl kaum noch hat lesen können. Vielleicht nicht der größte Verlust, den Kafka verschmerzen mußte, urteilt Selysses. Er selbst jedenfalls habe in dem immerhin gut sechshundert Seiten starken Roman nichts Bemerkenswertes gefunden außer dem Exlibris eines Dr. Samson, der die Aida so geliebt haben muß, daß er das Todesbildnis der Pyramiden zu seinem Insignium wählte. Kafka selbst, so mutmaßt der Dichter, habe im übrigen die Gelegenheit, bei der Eröffnung der Veroneser Festspiele im Jahre 1913 dabei zu sein, nur knapp verpaßt und noch an allen Ecken und Enden die vom August herrührenden Anschläge der spettacoli lirici all’Arena gesehen, ganz besonders aber und in Großbuchstaben: AIDA. Verdis Musik aber war unwiderruflich verklungen.

Die Frage, wie Selysses zu Verdis kompositorischen Leistungen steht, hat sich nicht erhellen lassen, da kein einziger Ton erklingt. Verdi erscheint als Tonmeister der Lautlosigkeit. Inwieweit dieser Ansatz für die Musikwissenschaft als wegweisend gelten kann, muß dahingestellt bleiben. Tatsächlich wird Verdi gar nicht als Tondichter gesehen, sondern als der italienische Notenfürst des neunzehnten Jahrhunderts, als Sinnbild des Glanzes und der Herrlichkeit, den die Menschen dieses Jahrhundert selbst über ihren Köpfen sahen. Das Jahr 1913 aber war ein ganz besonderes Jahr, die Zeit wendete sich, und wie eine Natter durchs Gras läuft seither der Funken die Zündschnur entlang. Wäre nicht der schreckliche Lärm überall, die Brandung des Verkehrs, die Stunde um Stunde über uns hinweggeht, würde man das leise Knistern hören zwischen den Halmen, die Musik jedenfalls schweigt.

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