Gesundheitsfürsorge
Selwyn und Bereyter gehen aus dem Leben, bevor noch die Medizin Anlaß hat, eine heilende Hand nach ihnen auszustrecken. Aurach hat den rechten Augenblick verpaßt, er liegt, bevor er dem vorbeugen konnte, im Withington Hospital, einer ehemaligen Besserungsanstalt für Obdach- und Beschäftigungslose, in einem Männersaal mit weit über zwanzig Betten. Medizinisches Personal begegnet uns nicht. Seinen Zustand empfindet Aurach als schandbar und er hat den Vorsatz gefaßt, ihm möglichst bald zu entkommen auf die eine oder die andere Weise. Der Richter Farrar bringt es auf seinem morgendlichen Rundgang fertig, mit dem Feuerzeug, das er immer in der Tasche trug, seinen Schlafrock in Brand zu stecken. Seinen schweren Verbrennungen erliegt er noch am selben Tag, über Art und Umfang der ärztlichen Rettungsbemühungen werden wir nicht unterrichtet. Der Major Le Strange ist, einer Zeitungsnotiz zufolge, ohne Vorwarnung im Hallway seines Gutshauses in Henstead, Suffolk, zusammengebrochen und gestorben, jede ärztliche Hilfe kam zu spät, er hätte sie sich auch verbeten.
Als Kind war Selysses in seinem Heimatort W. schon früh mit Vertretern des ärztlichen Standes in Kontakt gekommen. Die Patienten, die die Praxis des Dr. Rambousek aufsuchten, waren nur um ein Geringes zahlreicher als die Besucher des von den Schwestern Babett und Bina betriebenen Café Alpenrose, das nie ein Gast betreten hat. Als Selysses den Dr. Rambousek aufsucht, nicht in eigener Sache, sondern in der des an einer sich nicht schließenden Wunde leidenden Engelwirts, findet er den Mediziner seinerseits tot am Schreibtisch. Die Hilfe des Kollegen Dr. Piazolo hatte er nicht mehr in Anspruch nehmen können und auch nicht wollen. Piazolo ist von weitaus robusterer Natur. Zu jeder Tages- und Abendstunde sah man ihn auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Dem verunfallten Jäger Schlag kann er nicht mehr helfen, Selysses’ Diphtheritis behandelt der Großvater nach Piazolos ärztlichen Anweisungen erfolgreich. Der Dr. Piazolo hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll. – Die slapstickartige Anlage der Szene darf über den Ernst der Lage nicht hinwegtäuschen, überkommene Seelenheilkunde und neuzeitliche Körperheilkunde sind durcheinandergeraten und haben sich gegenseitig lahmgelegt, der heilige Georg mit dem Strohhut und der heilige Antonius haben ihre Plätze verlassen, das von Pisanello festgehaltene wohl austarierte Verhältnis von Alt und Neu ist zerstört. Oder bringt das Vertauschen der Rucksäcke nicht vielmehr an den Tag, daß beider Inhalt unzureichend und unangemessen ist und auch nicht hinreichend und angemessen sein kann. Möglich ist aber auch die Lesart, in der zu der fraglichen Zeit die Institutionen des Landarztes und des Dorfpfarrers noch so solide installiert waren, daß selbst der versehentliche Austausch des Arbeitsgerätes ohne nennenswerte Folgen blieb.
Zu Beginn der Ringe des Saturn treffen wir Selysses in einem Zustand gänzlicher Unbeweglichkeit im Spital, ein behandelnder Arzt ist nicht in Sichtweite. Mit literarischen Mitteln nimmt Selysses seine Heilung selbst in die Hand. Indem er sich in Kafkas Käfer verwandelt, gelingt es ihm immerhin, sich am Fenster aufzurichten und, ähnlich wie Gregor in die stille Charlottenstraße, hinauszublicken über die Stadt, die sich bis weit gegen den Horizont sich erstreckte. Gleich anschließend erfahren wir von zwei Todesfällen, in denen weder die ärztliche Kunst noch die Selbstheilungskräfte etwas auszurichten vermochten. Michael Parkinson, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, wird in seinem Bett tot aufgefunden. Die gerichtliche Untersuchung ergibt that he had died of unknown causes. Rosalind Dakyns, seine Kollegin, erliegt in der kürzesten Zeit einer ihren Körper zerstörenden Krankheit.
Der Erste Teil der Ringe verharrt dann weiterhin bei der Medizin, indem er sich dem Arzt und Prosakünstler Thomas Browne zuwendet, Arzt in der Zeit, als sich die moderne Medizin, ähnlich wie die Astronomie von der Astrologie, von der mittelalterlichen Heilkunde befreit. Browne war, wie der Dichter vermutet, anwesend bei der öffentlichen, von Rembrandt im Bild festgehaltenen Prosektur des Stadtgauners Aris Kindt. Die Leichensektion war das Kernstück der medizinischen Grundlagenforschung, und als solches wollte sie gesehen werden. Zweifellos auch handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten. – Mit den Mitteln der Kunst erkennt Rembrandt die Medizin als Wissenschaft nicht des Lebens, sondern des Todes.
Als Austerlitz nach Verlassen des Veterinärmedizinischen Museums in Paris zusammengebrochen ist, kommt er in der Salpêtrière wieder zu sich, einem ein eigenes Universum bildenden Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, wo er in einem der oft mit vierzig Patienten und mehr belegten Männersälen lag. Die Unterbringung ähnelt der Aurachs, Foucault ist in seinem philosophischen Werk ähnlichen Eindrücken nachgegangen. Vertreter der Heilkunst lassen sich nicht blicken. Hätte nicht der Krankenpfleger Quentin Quignard im Notizbuch des Kranken die Adresse M. de V., 7 Place des Vosges gefunden, weiß man nicht, was aus ihm geworden wäre. Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche bringt Marie aus der Bibliothek ihres Großvaters ein altes Arzneibüchlein mit, pour toutes sortes de maladies, internes et externes, invéterées et difficiles à guérir. Die Lektüre dieses Büchleins, von dem er bis zum heutigen Tag noch ganze Passagen auswendig weiß, läßt Austerlitz, ohne sonstige heilkundliche Maßnahmen, sein verlorenes Selbstgefühl und seine Erinnerungsfähigkeit wiedererlangen.
Selwyn und Bereyter haben die Fürsorge des Gesundheitswesens vermieden, Aurach will ihr entkommen, Adelwarth liefert sich ihr aus, have gone to Ithaca. Anstelle eines Heilers findet er, wohl seinem geheimen Wunsch entsprechend, seinen Henker. Die Diagnose lautete auf schwere Melancholie im Senium, verbunden mit stupuröser Katatonie, doch stand hierzu im Widerspruch die Tatsache, daß der Patient keine Anzeichen der gemeinhin mit diesem Zustand einhergehenden körperlichen Verwahrlosung zeigte. Bemerkenswert war auch, mit welcher Bereitwilligkeit er sich der Schockbehandlung unterzog, die in dieser Zeit wahrhaftig an eine Folterprozedur oder ein Martyrium heranreichte. Zum anberaumten Zeitpunkt saß er jedesmal schon auf dem Hocker vor der Türe und wartete, den Kopf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, auf das, was ihm bevorstand.
Nach Rembrandts gültigen Einsichten in das Wesen der Prosektur war Gutes nicht mehr zu erhoffen. Halbgötter in Weiß, die sich auf die Stelle des toten Gottes drängen mit dem Anspruch, über den Verlust des versprochenen Ewigen Lebens hinwegzutrösten, indem sie dem begrenzten irdischen Dasein die größtmögliche Ausdehnung verleihen, sind in Sebalds Werk nicht anzutreffen. In den Krankensälen sind die Moribunden allem Anschein nach sich selbst überlassen. Besser, man geht ohne ärztliche Hilfe aus dem Leben. Rambousek gilt bei den wenigen, die seine Praxis aufsuchen, als guter Arzt, einen Einfluß auf die Gesamteinschätzung der Lage hat das nicht. Wenn Farrar auf sein Berufsleben als Richter mit einigem Befremden zurückblickt, so Abramsky auf das seine als Arzt mit schierem Entsetzen. Der Folterknecht Professor Fahnstock muß nicht ausdrücklich erwähnt werden. Die überwiegend dem Großvater obliegende Heilung des Schülers Selysses von der Diphtherie ist weithin der einzige zu vermeldende medizinische Erfolg, Piazolos gleichsam nomadenhafte Ausübung der ärztlichen Kunst im ländlichen Terrain vom Krad aus mag noch angehen. Austerlitz gesundet nicht dank der modernen Medizin, er kuriert sich durch die bloße Lektüre eines heillos veralteten Arzneibüchleins.
In dem Augenblick, als Luciana Michelotti möglicherweise seine Schulter berührt, erinnert Selysses sich an einen Besuch in einem Brillengeschäft in Manchester. Neben ihm stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schildchen an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wiederholt rückte sie die schwere Testbrille zurecht, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen wie mit einer heilenden Hand an seine wie so oft vor Schmerzen klopfenden Schläfen, wenn auch wahrscheinlich bloß, um mir den Kopf etwas besser auszurichten. Da die Erinnerung an sie unmittelbarer von der Limoner Wirtin abzweigt, ist die optische Fachkraft gleichsam deren Schwester, und sicher ist es auch nicht ohne Bedeutung, daß es eine Chinesin ist. Es gibt keine Hinweise, der Dichter habe der europäischen Medizin die chinesische gegenüberstellen wollen, die Suche nach einem anderen Denken als dem in Europa nicht nur in der Medizin eingeschlagenen gilt ihm aber als unerläßlich wenn wohl auch aussichtslos. Auch unser Herr, wenngleich ihm bei der Behandlung des wahnsinnigen Gadareners zweifellos ein schwerer Kunstfehler zuungunsten der zweitausend Exemplare starken Sauherde unterlaufen war, setzte für gewöhnlich ganz auf die Heilkraft der unbewaffneten Hände.
Als Kind war Selysses in seinem Heimatort W. schon früh mit Vertretern des ärztlichen Standes in Kontakt gekommen. Die Patienten, die die Praxis des Dr. Rambousek aufsuchten, waren nur um ein Geringes zahlreicher als die Besucher des von den Schwestern Babett und Bina betriebenen Café Alpenrose, das nie ein Gast betreten hat. Als Selysses den Dr. Rambousek aufsucht, nicht in eigener Sache, sondern in der des an einer sich nicht schließenden Wunde leidenden Engelwirts, findet er den Mediziner seinerseits tot am Schreibtisch. Die Hilfe des Kollegen Dr. Piazolo hatte er nicht mehr in Anspruch nehmen können und auch nicht wollen. Piazolo ist von weitaus robusterer Natur. Zu jeder Tages- und Abendstunde sah man ihn auf seiner Zündapp im Dorf herum oder bergauf und bergab zwischen den umliegenden Ortschaften hin und her fahren. Winters wie sommers trug der Dr. Piazolo, der in Notfällen ohne weiteres auch Veterinärgeschäfte zu übernehmen bereit war und der offenbar den Vorsatz gefaßt hatte, im Sattel zu sterben, eine Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheure Motorradbrille, eine lederne Montur und lederne Gamaschen. Dem verunfallten Jäger Schlag kann er nicht mehr helfen, Selysses’ Diphtheritis behandelt der Großvater nach Piazolos ärztlichen Anweisungen erfolgreich. Der Dr. Piazolo hatte einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit schon mit dem Motorrad machte, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führte, der dem des Dr. Piazolo bis aufs Haar glich, weshalb die beiden, als sie einmal beim Adlerwirt beieinandergesessen sind, auch verwechselt haben, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll. – Die slapstickartige Anlage der Szene darf über den Ernst der Lage nicht hinwegtäuschen, überkommene Seelenheilkunde und neuzeitliche Körperheilkunde sind durcheinandergeraten und haben sich gegenseitig lahmgelegt, der heilige Georg mit dem Strohhut und der heilige Antonius haben ihre Plätze verlassen, das von Pisanello festgehaltene wohl austarierte Verhältnis von Alt und Neu ist zerstört. Oder bringt das Vertauschen der Rucksäcke nicht vielmehr an den Tag, daß beider Inhalt unzureichend und unangemessen ist und auch nicht hinreichend und angemessen sein kann. Möglich ist aber auch die Lesart, in der zu der fraglichen Zeit die Institutionen des Landarztes und des Dorfpfarrers noch so solide installiert waren, daß selbst der versehentliche Austausch des Arbeitsgerätes ohne nennenswerte Folgen blieb.
Zu Beginn der Ringe des Saturn treffen wir Selysses in einem Zustand gänzlicher Unbeweglichkeit im Spital, ein behandelnder Arzt ist nicht in Sichtweite. Mit literarischen Mitteln nimmt Selysses seine Heilung selbst in die Hand. Indem er sich in Kafkas Käfer verwandelt, gelingt es ihm immerhin, sich am Fenster aufzurichten und, ähnlich wie Gregor in die stille Charlottenstraße, hinauszublicken über die Stadt, die sich bis weit gegen den Horizont sich erstreckte. Gleich anschließend erfahren wir von zwei Todesfällen, in denen weder die ärztliche Kunst noch die Selbstheilungskräfte etwas auszurichten vermochten. Michael Parkinson, den seit ein paar Tagen niemand gesehen hatte, wird in seinem Bett tot aufgefunden. Die gerichtliche Untersuchung ergibt that he had died of unknown causes. Rosalind Dakyns, seine Kollegin, erliegt in der kürzesten Zeit einer ihren Körper zerstörenden Krankheit.
Der Erste Teil der Ringe verharrt dann weiterhin bei der Medizin, indem er sich dem Arzt und Prosakünstler Thomas Browne zuwendet, Arzt in der Zeit, als sich die moderne Medizin, ähnlich wie die Astronomie von der Astrologie, von der mittelalterlichen Heilkunde befreit. Browne war, wie der Dichter vermutet, anwesend bei der öffentlichen, von Rembrandt im Bild festgehaltenen Prosektur des Stadtgauners Aris Kindt. Die Leichensektion war das Kernstück der medizinischen Grundlagenforschung, und als solches wollte sie gesehen werden. Zweifellos auch handelte es sich bei der Prosektur einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Daß es bei der Amsterdamer anatomischen Vorlesung um mehr ging als um die gründliche Kenntnis der inneren menschlichen Organe, dafür spricht der an Rembrandts Darstellung ablesbare zeremonielle Charakter der Zerschneidung des Toten. Die unförmige Hand ist das Zeichen der über Aris Kindt hinweggegangenen Gewalt. Mit ihm, dem Opfer, und nicht mit der Gilde, die ihm den Auftrag gab, setzt der Maler sich gleich. Er allein hat nicht den starren Blick, er allein nimmt ihn wahr, den ausgelöschten, grünlichen Leib, sieht die Schatten in dem halboffenen Mund und über dem Auge des Toten. – Mit den Mitteln der Kunst erkennt Rembrandt die Medizin als Wissenschaft nicht des Lebens, sondern des Todes.
Als Austerlitz nach Verlassen des Veterinärmedizinischen Museums in Paris zusammengebrochen ist, kommt er in der Salpêtrière wieder zu sich, einem ein eigenes Universum bildenden Gebäudekomplex, in welchem die Grenzen zwischen Heil- und Strafanstalt von jeher unsicher gewesen sind, wo er in einem der oft mit vierzig Patienten und mehr belegten Männersälen lag. Die Unterbringung ähnelt der Aurachs, Foucault ist in seinem philosophischen Werk ähnlichen Eindrücken nachgegangen. Vertreter der Heilkunst lassen sich nicht blicken. Hätte nicht der Krankenpfleger Quentin Quignard im Notizbuch des Kranken die Adresse M. de V., 7 Place des Vosges gefunden, weiß man nicht, was aus ihm geworden wäre. Bei einem ihrer regelmäßigen Besuche bringt Marie aus der Bibliothek ihres Großvaters ein altes Arzneibüchlein mit, pour toutes sortes de maladies, internes et externes, invéterées et difficiles à guérir. Die Lektüre dieses Büchleins, von dem er bis zum heutigen Tag noch ganze Passagen auswendig weiß, läßt Austerlitz, ohne sonstige heilkundliche Maßnahmen, sein verlorenes Selbstgefühl und seine Erinnerungsfähigkeit wiedererlangen.
Selwyn und Bereyter haben die Fürsorge des Gesundheitswesens vermieden, Aurach will ihr entkommen, Adelwarth liefert sich ihr aus, have gone to Ithaca. Anstelle eines Heilers findet er, wohl seinem geheimen Wunsch entsprechend, seinen Henker. Die Diagnose lautete auf schwere Melancholie im Senium, verbunden mit stupuröser Katatonie, doch stand hierzu im Widerspruch die Tatsache, daß der Patient keine Anzeichen der gemeinhin mit diesem Zustand einhergehenden körperlichen Verwahrlosung zeigte. Bemerkenswert war auch, mit welcher Bereitwilligkeit er sich der Schockbehandlung unterzog, die in dieser Zeit wahrhaftig an eine Folterprozedur oder ein Martyrium heranreichte. Zum anberaumten Zeitpunkt saß er jedesmal schon auf dem Hocker vor der Türe und wartete, den Kopf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, auf das, was ihm bevorstand.
Nach Rembrandts gültigen Einsichten in das Wesen der Prosektur war Gutes nicht mehr zu erhoffen. Halbgötter in Weiß, die sich auf die Stelle des toten Gottes drängen mit dem Anspruch, über den Verlust des versprochenen Ewigen Lebens hinwegzutrösten, indem sie dem begrenzten irdischen Dasein die größtmögliche Ausdehnung verleihen, sind in Sebalds Werk nicht anzutreffen. In den Krankensälen sind die Moribunden allem Anschein nach sich selbst überlassen. Besser, man geht ohne ärztliche Hilfe aus dem Leben. Rambousek gilt bei den wenigen, die seine Praxis aufsuchen, als guter Arzt, einen Einfluß auf die Gesamteinschätzung der Lage hat das nicht. Wenn Farrar auf sein Berufsleben als Richter mit einigem Befremden zurückblickt, so Abramsky auf das seine als Arzt mit schierem Entsetzen. Der Folterknecht Professor Fahnstock muß nicht ausdrücklich erwähnt werden. Die überwiegend dem Großvater obliegende Heilung des Schülers Selysses von der Diphtherie ist weithin der einzige zu vermeldende medizinische Erfolg, Piazolos gleichsam nomadenhafte Ausübung der ärztlichen Kunst im ländlichen Terrain vom Krad aus mag noch angehen. Austerlitz gesundet nicht dank der modernen Medizin, er kuriert sich durch die bloße Lektüre eines heillos veralteten Arzneibüchleins.
In dem Augenblick, als Luciana Michelotti möglicherweise seine Schulter berührt, erinnert Selysses sich an einen Besuch in einem Brillengeschäft in Manchester. Neben ihm stand eine chinesische Optikerin, die, wie ein kleines Schildchen an ihrem Berufskittel anzeigte, wunderbarerweise Susi Ahoi hieß. Wiederholt rückte sie die schwere Testbrille zurecht, und einmal rührte sie sogar, viel länger, wie ich mir einbildete, als nötig gewesen wäre, mit ihren Fingerkuppen wie mit einer heilenden Hand an seine wie so oft vor Schmerzen klopfenden Schläfen, wenn auch wahrscheinlich bloß, um mir den Kopf etwas besser auszurichten. Da die Erinnerung an sie unmittelbarer von der Limoner Wirtin abzweigt, ist die optische Fachkraft gleichsam deren Schwester, und sicher ist es auch nicht ohne Bedeutung, daß es eine Chinesin ist. Es gibt keine Hinweise, der Dichter habe der europäischen Medizin die chinesische gegenüberstellen wollen, die Suche nach einem anderen Denken als dem in Europa nicht nur in der Medizin eingeschlagenen gilt ihm aber als unerläßlich wenn wohl auch aussichtslos. Auch unser Herr, wenngleich ihm bei der Behandlung des wahnsinnigen Gadareners zweifellos ein schwerer Kunstfehler zuungunsten der zweitausend Exemplare starken Sauherde unterlaufen war, setzte für gewöhnlich ganz auf die Heilkraft der unbewaffneten Hände.
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