Dorfkirchen
Das Großartigste an der Kirche von Combray, so der Curé, sei der Ausblick vom Glockenturm. Quatre-vingt-dix-sept marches müsse man überwinden, um nach oben zu gelangen, juste la moitié du celèbre dôme de Milan. Selysses hat die doppelte Anzahl von Stufen nicht gescheut und ist bis auf die oberste Galerie des Mailänder Doms aufgestiegen, ohne sich einen die Mühe lohnenden Aussichtserfolg einzuhandeln. Das vom Dunst verdüsterte Panorama einer ihm vollends fremd gewordenen Stadt nimmt er in Augenschein, und weit unten auf der Piazza bewegen sich die Menschen in seltsamer Neigung vor dem starken Wind dahin, als stürze jeder einzelne von ihnen seinem Ende entgegen. Weder die spirituelle Kraft des Kirchengebäudes noch die Weite des Ausblicks jedoch können die Schwindelgefühle lindern.
Es war der Glockenturm von Saint-Hilaire de Combray, qui donnait à toutes les occupations, à toutes les heures, à tous les points de vue de la ville, leur figure, leur couronnement, leur consécration. Auf dem Ölbild der Ortschaft W., das die Wand über dem Sofa der nach Amerika ausgewanderten Verwandten schmückt, ist die Kirche in ähnlicher und selbstverständlicher Weise das Zentrum, außer ihr und umgebender Gegend vermag das unbewaffnete Auge kaum etwas erkennen. Selysses aber gelingt es, von Oberjoch herab den Sebaldweg entlang auf W. zuzuhalten, ohne daß ihm der Kirchturm ins Gesichtsfeld gerät. Schon als Kind konnte er in nächster Nähe an der Kirche des Ortes vorbeigehen, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Mein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei und die hohe Kirchhofsmauer entlang. Dann mußte ich den Kirchberg hinunter und durch die obere Gasse, und dann ist er schon bei der Schmiede angelangt. Nachweislich aber hat er die Kirche von innen gesehen, sonst hätten die Kreuzigungsbilder und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld nicht den vernichtenden Eindruck auf ihn machen können, den sie tatsächlich auf ihn gemacht haben. Auch die kirchenmusikalischen Erlebnisse waren zwiespältig. Der Chorregent, der das vom Geheul der Gemeinde begleitete Abspielen der ewigselben zwei Dutzend Lieder mehr oder weniger im Schlaf absolvierte, kam jedesmal erst am Ende der Messe wieder zu sich, wenn er die Herde der Gläubigen mit einem von ihm in freier Phantasie auf der Orgel entfesselten Sturm gleichsam beim Kirchentor hinausfegte.
Ganz anders ist das Erleben des noch kindlichen Erzählers bei Proust. Que je l’aimais, notre Église! Le doux effleurement des mantes des paysannes entrant et de leurs doigts timides prenant de l’eau bénite. Die Kirchenfenster, deren Licht nie schöner ist je weniger draußen die Sonne scheint. Die Tapisserien, die die Krönung Esthers in der Gestalt einer Dame aus dem Hause Guermantes zeigen, die vielen anderen Spuren der Geschichte, die der Kirche eine vierte Dimension verleihen, die der in ihr verwahrten Zeit. Anders als in Chartres oder Reims hat der glaubenslose Gläubige Proust, der sein eigenes Werk einer Kathedrale verglichen hat, sich in der schlichten Dorfkirche von Combray nicht gefragt, auf welche Weise und mit welcher Kraft hier das Gefühl der Religiosität zum Ausdruck gebracht werde. Aber auch die Großmutter, entschiedene Vertreterin des Natürlichen, spricht den Glockenturm von Combray frei von allem Vulgären, von Anmaßung sowohl wie von kleinlichem Wesen.
Hätte die Großmutter auch die, wie wir sie kennen, barock ausgestattete Kirche von W. freigesprochen, hätte der heilige Ulrich auf dem Lechfeld Prousts jungen Erzähler auf gleiche Weise ins Träumen versetzt wie die als Esther verkleidete Dame de Guermantes? Das ist schwer vorstellbar. Schmerzlich mußte Selysses überdies die auf den Kirchgang einstimmenden paysannes belles et timides vermissen, da die Weiberschaft von W., wie dem Leser mit Bernhardscher Entschiedenheit vor Augen geführt wird, ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden bestand. Befreit aber von jeglicher Gemeinde, vom Pfarrer, vom Organisten und dem heiligen Ulrich, kommt Selysses schließlich doch zu Empfindungen, die denen des Proustschen Erzählers nicht unähnlich, wenn auch weniger eindeutig sind, und zwar in der Krummenbacher Kapelle, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille. So ist er auch erfüllt von ungewohnter Milde gegenüber dem Maler, der die Kreuzwegstationen mit ungeschickter Hand zwar aber vielleicht mit nicht geringerer Mühe zustande gebracht hat als in den gleichen Tagen Tiepolo sein großes Deckengemälde in der Würzburger Residenz. Von Krummenbach zu Tiepolo, das ist ein fast noch weiterer Weg als von Combray nach Chartres oder Reims.
Die Neben-, wenn nicht gar die Hauptbeschäftigung des Curé de Combray ist die Etymologie, und wie alle Anhänger dieser schönen Wissenschaft ist er gesegnet mit Unverständnis und Rücksichtslosigkeit in seinen Vorträgen gegenüber dem Teil der Menschheit, der seine Vorliebe nicht teilt. In gewisser Weise ähnelt er dem Reverend Ives. In seinem Pfarrhaus in Ilketshall St. Margaret bekommt er in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters Besuch von einem jungen französischen Adeligen, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Reverend Ives ist ein Mann der Aufklärung und der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. In seinem wahren Leben kommt Selysses in Berührung mit dem Pfarrer Wurmser, einem Gottesmann anderen Schlags, Doppelgänger oder Schattenreiter des gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Arztes Piazolo. Seine Versehgänge macht Wurmser die längste Zeit schon wie dieser mit dem Motorrad, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führt. Wurmsers theologische Ausrichtung wird nicht greifbar. In der Schule wird der für den katholischen Religionsunterricht vorgesehene Katechet Meier mit Duldung, wenn nicht mit Hilfe des Dichters gemobbt. Ein neben der Türe angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde von Bereyter rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Kanne bis zum Rand gefüllt. Nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche, die er stets in seiner Aktentasche bei sich führte, zum Einsatz zu bringen. Tiefe Zuneigung dagegen empfindet Sebald für den von ihm als katholischer Strafprediger erlebten Thomas Bernhard, und seine stille Achtung hat auch der kalvinistische Prediger Elias, der am Sonntag der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen führte. Strafpredigten sind angesichts des vom Dichter diagnostizierten Zustands der Menschheit angemessen, naturgemäß aber ohne heilsame Folgen.
Selysses besucht nicht Reims oder Chartres und auch nicht das Baptisterium des Markusdoms, mit Prousts Erzähler trifft er sich aber in Padua, in der Cappella degli Scrovegni, einer von Giotto ausgemalten Königin unter den Kapellen der Welt. Dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit freilich ganz auf die obere Bildhälfte der Beweinung Christi. Die dem Charakter der Frohen Botschaft näher stehenden Bildwerke bleiben unbeachtet. Am meisten erstaunt ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Man vermag eine religiöse Stimmung auszumachen, die aber ganz auf den Ton der Weltklage eingeengt und, wie bei Proust, allein ästhetisch verankert ist.
Ähnlich wie Selysses auf seinen Wegen durch die Städte Dante, dem Bayernkönig Ludwig und anderen üblicherweise Verborgenen begegnet, findet sich kaum eine Gestalt in Prousts Werk, die sich nicht irgendwann und zumeist für kurze Zeit nur in einen Heiligen oder eine Heilige verwandelt. Durch Sebalds Werk ziehen die Heiligen wie entlaufene und schuldlose Sträflinge, der heilige Franz treibt mit dem Gesicht im venezianischen Sumpfwasser, die heilige Katharina geht mit ihrem Marterrädchen an ihm vorbei, der heilige Hieronymus gräbt sich eine Grube im Garten eines englischen Gutshofes, Mrs. Ashbury, von der es heißt, sie werde immer unschuldiger, heiliger noch, bleibt ihm Plafond stecken, als sie zum Himmel auffährt. Die lautlose Klage der Engel Giottos wird nicht leiser.
Das Großartigste an der Kirche von Combray, so der Curé, sei der Ausblick vom Glockenturm. Quatre-vingt-dix-sept marches müsse man überwinden, um nach oben zu gelangen, juste la moitié du celèbre dôme de Milan. Selysses hat die doppelte Anzahl von Stufen nicht gescheut und ist bis auf die oberste Galerie des Mailänder Doms aufgestiegen, ohne sich einen die Mühe lohnenden Aussichtserfolg einzuhandeln. Das vom Dunst verdüsterte Panorama einer ihm vollends fremd gewordenen Stadt nimmt er in Augenschein, und weit unten auf der Piazza bewegen sich die Menschen in seltsamer Neigung vor dem starken Wind dahin, als stürze jeder einzelne von ihnen seinem Ende entgegen. Weder die spirituelle Kraft des Kirchengebäudes noch die Weite des Ausblicks jedoch können die Schwindelgefühle lindern.
Es war der Glockenturm von Saint-Hilaire de Combray, qui donnait à toutes les occupations, à toutes les heures, à tous les points de vue de la ville, leur figure, leur couronnement, leur consécration. Auf dem Ölbild der Ortschaft W., das die Wand über dem Sofa der nach Amerika ausgewanderten Verwandten schmückt, ist die Kirche in ähnlicher und selbstverständlicher Weise das Zentrum, außer ihr und umgebender Gegend vermag das unbewaffnete Auge kaum etwas erkennen. Selysses aber gelingt es, von Oberjoch herab den Sebaldweg entlang auf W. zuzuhalten, ohne daß ihm der Kirchturm ins Gesichtsfeld gerät. Schon als Kind konnte er in nächster Nähe an der Kirche des Ortes vorbeigehen, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Mein Weg ging am Lehrerhaus und am Kaplanhaus vorbei und die hohe Kirchhofsmauer entlang. Dann mußte ich den Kirchberg hinunter und durch die obere Gasse, und dann ist er schon bei der Schmiede angelangt. Nachweislich aber hat er die Kirche von innen gesehen, sonst hätten die Kreuzigungsbilder und das große Gemälde von der Schlacht auf dem Lechfeld nicht den vernichtenden Eindruck auf ihn machen können, den sie tatsächlich auf ihn gemacht haben. Auch die kirchenmusikalischen Erlebnisse waren zwiespältig. Der Chorregent, der das vom Geheul der Gemeinde begleitete Abspielen der ewigselben zwei Dutzend Lieder mehr oder weniger im Schlaf absolvierte, kam jedesmal erst am Ende der Messe wieder zu sich, wenn er die Herde der Gläubigen mit einem von ihm in freier Phantasie auf der Orgel entfesselten Sturm gleichsam beim Kirchentor hinausfegte.
Ganz anders ist das Erleben des noch kindlichen Erzählers bei Proust. Que je l’aimais, notre Église! Le doux effleurement des mantes des paysannes entrant et de leurs doigts timides prenant de l’eau bénite. Die Kirchenfenster, deren Licht nie schöner ist je weniger draußen die Sonne scheint. Die Tapisserien, die die Krönung Esthers in der Gestalt einer Dame aus dem Hause Guermantes zeigen, die vielen anderen Spuren der Geschichte, die der Kirche eine vierte Dimension verleihen, die der in ihr verwahrten Zeit. Anders als in Chartres oder Reims hat der glaubenslose Gläubige Proust, der sein eigenes Werk einer Kathedrale verglichen hat, sich in der schlichten Dorfkirche von Combray nicht gefragt, auf welche Weise und mit welcher Kraft hier das Gefühl der Religiosität zum Ausdruck gebracht werde. Aber auch die Großmutter, entschiedene Vertreterin des Natürlichen, spricht den Glockenturm von Combray frei von allem Vulgären, von Anmaßung sowohl wie von kleinlichem Wesen.
Hätte die Großmutter auch die, wie wir sie kennen, barock ausgestattete Kirche von W. freigesprochen, hätte der heilige Ulrich auf dem Lechfeld Prousts jungen Erzähler auf gleiche Weise ins Träumen versetzt wie die als Esther verkleidete Dame de Guermantes? Das ist schwer vorstellbar. Schmerzlich mußte Selysses überdies die auf den Kirchgang einstimmenden paysannes belles et timides vermissen, da die Weiberschaft von W., wie dem Leser mit Bernhardscher Entschiedenheit vor Augen geführt wird, ausnahmslos fast aus kleinen, dunklen, dünnzopfigen und bösen Bäuerinnen und Mägden bestand. Befreit aber von jeglicher Gemeinde, vom Pfarrer, vom Organisten und dem heiligen Ulrich, kommt Selysses schließlich doch zu Empfindungen, die denen des Proustschen Erzählers nicht unähnlich, wenn auch weniger eindeutig sind, und zwar in der Krummenbacher Kapelle, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals von ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille. So ist er auch erfüllt von ungewohnter Milde gegenüber dem Maler, der die Kreuzwegstationen mit ungeschickter Hand zwar aber vielleicht mit nicht geringerer Mühe zustande gebracht hat als in den gleichen Tagen Tiepolo sein großes Deckengemälde in der Würzburger Residenz. Von Krummenbach zu Tiepolo, das ist ein fast noch weiterer Weg als von Combray nach Chartres oder Reims.
Die Neben-, wenn nicht gar die Hauptbeschäftigung des Curé de Combray ist die Etymologie, und wie alle Anhänger dieser schönen Wissenschaft ist er gesegnet mit Unverständnis und Rücksichtslosigkeit in seinen Vorträgen gegenüber dem Teil der Menschheit, der seine Vorliebe nicht teilt. In gewisser Weise ähnelt er dem Reverend Ives. In seinem Pfarrhaus in Ilketshall St. Margaret bekommt er in den Sommermonaten des Jahres 1795 öfters Besuch von einem jungen französischen Adeligen, der vor den Schrecken der Revolution nach England geflohen ist. Reverend Ives ist ein Mann der Aufklärung und der Mathematik und Hellenistik womöglich enger verbunden als der Theologie. In seinem wahren Leben kommt Selysses in Berührung mit dem Pfarrer Wurmser, einem Gottesmann anderen Schlags, Doppelgänger oder Schattenreiter des gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Arztes Piazolo. Seine Versehgänge macht Wurmser die längste Zeit schon wie dieser mit dem Motorrad, wobei er das Versehgerät, das Salböl, das Weihwasser, das Salz, ein kleines silbernes Kruzifix sowie das Allerheiligste Sakrament in einem alten Rucksack mit sich führt. Wurmsers theologische Ausrichtung wird nicht greifbar. In der Schule wird der für den katholischen Religionsunterricht vorgesehene Katechet Meier mit Duldung, wenn nicht mit Hilfe des Dichters gemobbt. Ein neben der Türe angebrachtes, das flammende Herz Jesu darstellendes Weihwasserbehältnis wurde von Bereyter rechtzeitig vor jeder Religionsstunde mit der sonst zum Gießen der Geranienstöcke verwendeten Kanne bis zum Rand gefüllt. Nie ist es darum dem Benefiziaten gelungen, die Weihwasserflasche, die er stets in seiner Aktentasche bei sich führte, zum Einsatz zu bringen. Tiefe Zuneigung dagegen empfindet Sebald für den von ihm als katholischer Strafprediger erlebten Thomas Bernhard, und seine stille Achtung hat auch der kalvinistische Prediger Elias, der am Sonntag der versammelten Gemeinde mit erschütternder Wortgewalt das allen bevorstehende Strafgericht, die Farben des Fegefeuers und die Qualen der Verdammnis vor Augen führte. Strafpredigten sind angesichts des vom Dichter diagnostizierten Zustands der Menschheit angemessen, naturgemäß aber ohne heilsame Folgen.
Selysses besucht nicht Reims oder Chartres und auch nicht das Baptisterium des Markusdoms, mit Prousts Erzähler trifft er sich aber in Padua, in der Cappella degli Scrovegni, einer von Giotto ausgemalten Königin unter den Kapellen der Welt. Dabei richtet sich seine Aufmerksamkeit freilich ganz auf die obere Bildhälfte der Beweinung Christi. Die dem Charakter der Frohen Botschaft näher stehenden Bildwerke bleiben unbeachtet. Am meisten erstaunt ihn die lautlose Klage, die seit nahezu siebenhundert Jahren von den über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln erhoben wird. Wie ein Dröhnen war diese Klage zu hören in der Stille des Raums. Die Engel selbst aber hatten die Brauen im Schmerz so sehr zusammengezogen, daß man hätte meinen können, sie hätten die Augen verbunden. Und sind nicht, dachte ich mir, die weißen Flügel mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können? - Man vermag eine religiöse Stimmung auszumachen, die aber ganz auf den Ton der Weltklage eingeengt und, wie bei Proust, allein ästhetisch verankert ist.
Ähnlich wie Selysses auf seinen Wegen durch die Städte Dante, dem Bayernkönig Ludwig und anderen üblicherweise Verborgenen begegnet, findet sich kaum eine Gestalt in Prousts Werk, die sich nicht irgendwann und zumeist für kurze Zeit nur in einen Heiligen oder eine Heilige verwandelt. Durch Sebalds Werk ziehen die Heiligen wie entlaufene und schuldlose Sträflinge, der heilige Franz treibt mit dem Gesicht im venezianischen Sumpfwasser, die heilige Katharina geht mit ihrem Marterrädchen an ihm vorbei, der heilige Hieronymus gräbt sich eine Grube im Garten eines englischen Gutshofes, Mrs. Ashbury, von der es heißt, sie werde immer unschuldiger, heiliger noch, bleibt ihm Plafond stecken, als sie zum Himmel auffährt. Die lautlose Klage der Engel Giottos wird nicht leiser.
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