Dienstag, 1. Oktober 2013

Menschenrassen

Race de Combray

Dem mit dem Rassismusverbot noch nicht vertrauten Proust zerfällt die Menschheit in zwei Rassen, so unterschiedlich wie in der Vorzeit Cro-Magnon und Neandertaler. Auf der einen Seite haben wir la race de Combray, bestehend aus der Mutter und der Großmutter des Erzählers, mit Einschränkungen ferner dem Vater, der Tante Leonie und, in spezieller Weise, auch Françoise, und auf der anderen Seite alle anderen. Was die einen ausmacht, fehlt den jeweils anderen völlig. Der Leser wundert sich, daß diese beiden Abteilungen die gleiche Welt teilen sollen und noch mehr, daß vermittels des Mediums der französischen Sprache eine Verständigung möglich sein soll; sie besteht aber wohl auch nur zum Schein. Während des Aufenthalts in Balbec nimmt denn die Großmutter die mondäne Welt des Grand Hotels so gut wie nicht wahr, sie geht an ihr vorüber. Et depuis que la race de Combray, la race d’où sortaient des êtres absolument intacts comme ma grand-mère et ma mère semble presque éteinte, verbleibt der Erzähler in einer ihm gänzlich fremden Menschenwelt, die er, als sei er auf einem fremden Stern ausgesetzt und ohne andere Wahl und Beschäftigung, umso penibler mit dem Blick eines Humanethologen erforscht, im Hinblick auf die im Werk dominante mondäne Welt möchte man im Hinblick auf die dort vorgefundenen bizarren Formen vom Humanentomologen sprechen.
So rein und unvermischt die Rasse von Combray ist, in so viele Sphären zerfällt der Rest der Menschenwelt, Sphären die nach der Annahme des jungen Humanentomologen klar und unaufhebbar voneinander geschieden sind. Bald schon muß er aber erkennen, daß sein Forschungsansatz nicht hinreicht, daß er den moderneren eines Beobachters der zweiten Ordnung annehmen muß. Die Sphären stellen sich ganz anders da, ob sie nun von Mme Verdurin, dem Baron Charlus, Saint-Loup, der Großmutter oder Françoise wahrgenommen werden. Erst als es dem Erzähler gelingt, alle Blickwinkel nachzuvollziehen, klärt sich ihm das Bild. Erst jetzt hat er den Blick frei für die realen Übergänge zwischen den Sphären, die am leichtesten auf der Seite der Frauen zu verfolgen sind, da hier in der Regel jeder Sphärenwechsel mit einem Namenswechsel verbunden ist. So wird aus Miss Sacripant Odette de Crécy, dann Mme Swann, dann la Comtesse de Forcheville und schließlich die Maitresse des Duc de Guermantes. Beim letzten großen Empfang des Prince de Guermantes im Temps retrouvé  ist der Erzähler nach langer Abwesenheit einer Fülle solcher zum Teil unglaublicher Szenenwechsel ausgesetzt, am verstörendsten die Verwandlung von Mme Verdurin in Mme de Guermantes. In gewisser Weise werden die Aufsteiger aber um die Früchte ihres Erfolgs gebracht, da die für die Würdigung unerläßlichen Kenntnisse der Sphärenordnung beim Publikum drastisch zurückgehen. Noch verstörender als die gesellschaftlichen Bewegungen sind die bei allen zu beobachtenden biologischen Spuren, mit denen das Leben den Eintritt des Todes schon vorbereitet hat. Die Race de Combray, die Mutter und die Großmutter, ist dagegen keinerlei Veränderungen unterworfen mit der einzigen Ausnahme der des Todes, und selbst der trifft bei ihnen, bevor er eintritt, keine sichtbaren Vorbereitungen.

Wegen der prominenten Bedeutung verschiedener Formen des Erinnerns in beider Werk werden Proust und Sebald häufig in einem Satz genannt. Die Unterschiede sind aber kaum weniger auffällig als die Ähnlichkeiten, und der nicht geringste Unterschied ist das entschiedene Fehlen der Race de Combray bei Sebald. Combray ist als die Ortschaft W. vorhanden - hier die Ach und dort die Vivonne -, aber der Platz der Mutter und Großmutter ist sorgfältig herausgeschnitten. Der Großvater steht an der verlassenen Stelle, zieht aber keine bedeutenden Erzählstrecken auf sich. Mit dem Fehlen der Race de Combray rückt auch der Rest der Menschheit in ein anderes Licht.

Prousts Werk bewegt sich auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu, den der Dichter in einer sehr unaufgeregten Art kommentiert. Den Niedergang der Gesellschaft, von der er sein Leben lang umgeben war, beobachtet der Erzähler beim Empfang der Guermantes im Temps retrouvé ohne sichtbare Zeichen von Wehmut oder gar Trauer. Wenn Sebalds Werk gleichfalls um das Jahr 1913 kreist, so in einem Rückblick über zwei Generationen hinweg. Die gegenwärtige Menschengesellschaft ist es nicht wert, betrachtet zu werden, wenn es eine Barbarei ist, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, so kann es umso weniger einen poetischen Soziologen wie Proust noch geben. Die Menschen, die Selysses trifft, sind keiner gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnen, am sogenannten gesellschaftlichen Leben nehmen sie nicht teil, ob Protagonisten oder Komparsen, es sind allesamt Emeriten wie Selwyn und Bereyter oder Eremiten unterschiedlich strenger Observanz wie Garrad und Le Strange.
Die größte und wohl nicht zufällige Nähe zu Proust erreicht Sebald in seiner, Austerlitz mitgezählt, wohl schönsten Langen Erzählung: Ambros Adelwarth. Das Erzählen beginnt mit einem Familienfest in W./Combray, sogar die Mutter wird kurz erwähnt. In Newark wird der Erzähler von der Tante Fini und dem Onkel Kasimir schon fast wie ein Sohn empfangen. Cosmo Solomon, reich, homosexuell und todesgeneigt, hat das Format eines Prousthelden. Er teilt Züge der Ähnlichkeit mit Swann, Charlus und Saint-Loup, ohne aber einem der drei zu gleichen. Zum Ende aber wird er ein Eremit nach Sebalds Maß, ein Eremit aber auch wie Proust schließlich selbst, im Haus n°102, Boulevard Haussmann. Im Deauviller Hotelzimmer, unweit Balbec, schleicht Selysses sich dann im Traum ein in Prousts Welt und lernt la race du côté de Guermantes kennen, die Welt, in der Saint-Loup, Swann, Montgomery, Fitz James, d’Erlanger, de Massa und Rotschild sich bewegen. Ganz zuletzt erscheinen die schönsten der jungen Damen, les jeunes filles en fleurs, in Spitzenkleidern, durch die die seidene Wäsche hindurchschimmerte, nilgrün, crevettenfarben oder absinthblau. In kürzester Zeit sind sie umgeben von schwarzen Männerfiguren von denen einige besonders verwegen ihre Zylinder auf Spazierstöcken in die Höhe hielten. Am Morgen dann der Blick vom Hotelfenster aus auf eine auf das geschmackloseste zusammengerichtete Person, die ein weißes Angorakaninchen an der Leine spazieren führt. Ein giftgrün livrierter Clubman hält ihm immer dann, wenn es nicht weiter will, ein Stückchen Blumenkohl vor. Proust wäre sicher von diesem, so wie er es verstanden hätte, letzten Blick auf Leben und Werk der Mme Verdurin entzückt gewesen.

Noch von einer anderen Rasse - flüchtig haben wir sie schon erblickt - ist zu sprechen, eher ein Stamm, ein tribu, la petite bande de jeunes filles en fleurs auf der Promenade von Balbec, composée d’êtres d’une autre race, Prousts wohl schönste poetische Kreation. Die Illusion einer fremden Rasse oder auch nur eines besonderen Stamms verfliegt aber schnell. Die einzelnen Mitglieder der petite bande, die, wie sich zeigt, wenig miteinander verbindet, treten hervor, Andrée, Gisèle, Rosemonde und schließlich Albertine, die, als Gefangene und als Flüchtige, titelgebend für zwei Bände der Recherche wird. Der petite bande de jeunes filles am nächsten kommt bei Sebald die Gruppe weiblicher Mitreisender, nicht weniger bezaubernd als die petite bande das junge Mädchen und die Franziskanerin im Zug nach Mailand und die transzendente Erscheinung der Winterkönigin im Zug rheinabwärts. Wir lernen die schönen Reisenden nicht näher kennen, ihren Namen erfährt weder der Erzähler noch einer von uns.

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