Ansichten eines Gemeinen Leser
Wer einen unter dem geringen Umfang des Werkes leidenden Liebhaber der Sebaldschen Prosa tröstend auf die wissenschaftlichen Arbeiten des Autors hinweist und dabei vor allem auf die umfangreichen frühen Schriften zu Sternheim und Döblin, wird nicht in jedem Fall Dank ernten. Eine ganz andere Sache ist es mit der Lyrik. Man schlägt Über das Wasser und das Land auf, liest von Tschechows Tod und ist gefangen. Passionierte Prosaleser würden allerdings die Lektüre eines kompletten Lyrikbandes, wie zuvor schon Gombrowicz, in der Art eines festlichen Diners erleben, bei dem sämtliche Gänge nur aus Dessertspeisen bestehen, mit den entsprechenden gastrischen Verwerfungen.
Der Leser begibt sich in einen Prosatext, verliert sich darin, lebt darin und braucht so schnell niemanden sonst. Aus einem Lyrikband liest er ein oder zwei, allenfalls drei Gedichte, nimmt aus den genannten diätetischen Gründen Abstand von mehr und steht ein wenig verloren da. Das ist der Augenblick, in dem auch der jeder Pflicht entbundene Gemeine Leser (Lector delectans) gern zu einem ergänzenden Band wissenschaftlicher Darlegung greift, wie er jetzt vorliegt in Gestalt von Uwe Schüttes Figurationen. Man verläßt das Haus des Dichters, geht über die Straße hinüber in das Haus des Kommentators und fühlt sich auch dort wohl. Dank der vielen beigegebenen lyrischen Textauszüge muß man so schnell nicht wieder zurück, ein Vorteil zumal bei schlechtem Wetter. Das Haus wird eine gute Adresse bleiben, man wird zurückkehren, um sich zu vergewissern, was es mit diesem oder jenen auf sich hat, wie die Zusammenhänge sind.
Die Besprechung beginnt mit dem posthum herausgegebenen Band Über das Wasser und das Land, einer Sammlung von über die Jahre hin betriebenen lyrischen Kritzeleien (Sebalds Worte), in der man auf viele aus der Prosa bekannte Motive stößt. Am auffälligsten in dieser Hinsicht ist, den böhmischen Aufenthalt in Austerlitz vorwegnehmend, die Marienbader Elegie. Zu Recht wird die Goethes hohem Ton zuwiderlaufende Sprachhaltung hervorgehoben, die sich verbindet mit einem offen geäußerten Mißfallen an den verschlungenen Minnen des Meisters aus Weimar. Auch abgesehen von Marienbad ist in dem Band eine allgemeine Bewegung weg vom Zentrum der großen Lyrik (Goethe) und hin zu ihren gering geachteten Rändern (Herbeck) festzustellen.
Die Marienbader Elegie ist eines der längsten, über mehrere Seiten entfaltetes Gedicht. Im stärksten Kontrast zur Prosa stehen naturgemäß die zum Teil nur wenige Zeilen oder Wörter umfassenden, in der Syntax und der Gedankenabfolge extrem verkürzten Produkte, wie zum Beispiel Elisabethanisch. Während hier alles Entbehrliche und vielleicht noch mehr unterdrückt ist, folgt Sebalds Prosa dem Prinzip, alles nur Erdenkbare aufzufalten, dies immer zur Erweiterung der Trageflächen, um, dem eingestandenen Vorbild Thomas Brownes folgend, den Sätzen noch mehr Aufwind zu verschaffen.
Der zweite Teil der Figurationen geht auf Sebalds erste größere künstlerische Publikation ein, das Langgedicht Nach der Natur. Der Leser mag für einen Augenblick stutzen, war er ursprünglich doch in Versuchung gewesen, Nach der Natur als Prosagedicht fast schon auf die Seite der Prosa zu ziehen. Davon hat er aber inzwischen aus eigener Kraft Abstand genommen. Nach der Natur eröffnet mit dem Blick auf ein Heiligentableau und behält im lyrischen Fortgang, auch bei sich ändernden Inhalten, den sakralen Ton bei. Der heilige Georg allerdings, Schutzpatron des Dichters, schickt sich an, aus dem Rahmen des Poems zu treten, und tatsächlich treffen wir ihn wieder, unter Schwindelgefühlen, auf den Bildern Pisanellos und anderenorts, in der herzbewegenden Weltlichkeit der Prosa. - U. Schütte geht das Langgedicht sorgfältig durch, erhellt Dunkles, verweist auf biographische Hintergründe und erkennt verborgene Vorverweise auf das Prosawerk.
Nachdrücklich und aus gutem Grund wird betont, daß Sebalds Werk nicht mit Austerlitz schließt, sondern mit dem posthum erschienen, von Sebald selbst aber noch zur Publikation vorbereiteten Band For Years Now. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Miniaturgedichten Sebalds mit Bildern von Tess Jaray. Ein ähnliches Projekt war in Zusammenarbeit mit Jan Peter Tripp vorbereitet und ebenfalls erst nach Sebalds Tod, aber noch vor For Years Now, unter dem Titel Unerzählt veröffentlicht worden. Wie der Titel vermuten läßt, sind die Texte in For Years Now englischsprachig und wurden verschiedentlich als das von nicht wenigen die längste Zeit schon ersehnte Überwechseln, in der Spur Conrads und Nabokows, zur englischsprachige Literatur gedeutet. Zum einen aber wurden, wie wir erfahren, nicht wenige der Mikropoeme zunächst in einer deutschen Fassung entworfen, und zum anderen ist das Gewicht gegenüber der Prosaproduktion für diese Einschätzung nicht hinreichend.
U. Schütte gibt der schlicht gehaltenen Edition von For Years Now den Vorzug gegenüber dem eher zum Prachtband geratenen Unerzählt, aber es galt ja auch, einen Verstorbenen zu ehren, nicht die hohe Zeit kalter Avantgarde. Zu denken geben beide Bücher in jedem Fall. Besonders interessant ist die Geschichte des Gedichtes Feelings / my friend / wrote Schumann / are stars / which guide us / only under / a dark sky. Es gibt zwei frühe deutsche Fassungen. In der zweiten ist unter anderem die zweite Hälfte der ursprünglichen Fassung einfach weggeschnitten, weiterhin aufrecht erhalten bleibt aber die Einschätzung, Gefühle leiteten uns nur am lichten Tag, während es in der englischen Endfassung dann ein dark sky ist, unter dem sie gedeihen. Derartige Spielräume bei engen Verhältnissen können überraschen.
Wenn wir Sebalds Prosa als prachtvolle Entfaltung aus der gekritzelten Lyrik erleben, so kann uns die späte erneute Einfaltung der Sprache nicht unberührt lassen. Viele Blüten entfalten sich mit dem Tageslicht und schließen sich am Abend umso fester. So haben wir den Trost, daß Sebalds Leben immerhin einen vollen Tag umfaßt. Ohnehin ist die Zeit von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste, und die Toten sind außer der Zeit.
Wer einen unter dem geringen Umfang des Werkes leidenden Liebhaber der Sebaldschen Prosa tröstend auf die wissenschaftlichen Arbeiten des Autors hinweist und dabei vor allem auf die umfangreichen frühen Schriften zu Sternheim und Döblin, wird nicht in jedem Fall Dank ernten. Eine ganz andere Sache ist es mit der Lyrik. Man schlägt Über das Wasser und das Land auf, liest von Tschechows Tod und ist gefangen. Passionierte Prosaleser würden allerdings die Lektüre eines kompletten Lyrikbandes, wie zuvor schon Gombrowicz, in der Art eines festlichen Diners erleben, bei dem sämtliche Gänge nur aus Dessertspeisen bestehen, mit den entsprechenden gastrischen Verwerfungen.
Der Leser begibt sich in einen Prosatext, verliert sich darin, lebt darin und braucht so schnell niemanden sonst. Aus einem Lyrikband liest er ein oder zwei, allenfalls drei Gedichte, nimmt aus den genannten diätetischen Gründen Abstand von mehr und steht ein wenig verloren da. Das ist der Augenblick, in dem auch der jeder Pflicht entbundene Gemeine Leser (Lector delectans) gern zu einem ergänzenden Band wissenschaftlicher Darlegung greift, wie er jetzt vorliegt in Gestalt von Uwe Schüttes Figurationen. Man verläßt das Haus des Dichters, geht über die Straße hinüber in das Haus des Kommentators und fühlt sich auch dort wohl. Dank der vielen beigegebenen lyrischen Textauszüge muß man so schnell nicht wieder zurück, ein Vorteil zumal bei schlechtem Wetter. Das Haus wird eine gute Adresse bleiben, man wird zurückkehren, um sich zu vergewissern, was es mit diesem oder jenen auf sich hat, wie die Zusammenhänge sind.
Die Besprechung beginnt mit dem posthum herausgegebenen Band Über das Wasser und das Land, einer Sammlung von über die Jahre hin betriebenen lyrischen Kritzeleien (Sebalds Worte), in der man auf viele aus der Prosa bekannte Motive stößt. Am auffälligsten in dieser Hinsicht ist, den böhmischen Aufenthalt in Austerlitz vorwegnehmend, die Marienbader Elegie. Zu Recht wird die Goethes hohem Ton zuwiderlaufende Sprachhaltung hervorgehoben, die sich verbindet mit einem offen geäußerten Mißfallen an den verschlungenen Minnen des Meisters aus Weimar. Auch abgesehen von Marienbad ist in dem Band eine allgemeine Bewegung weg vom Zentrum der großen Lyrik (Goethe) und hin zu ihren gering geachteten Rändern (Herbeck) festzustellen.
Die Marienbader Elegie ist eines der längsten, über mehrere Seiten entfaltetes Gedicht. Im stärksten Kontrast zur Prosa stehen naturgemäß die zum Teil nur wenige Zeilen oder Wörter umfassenden, in der Syntax und der Gedankenabfolge extrem verkürzten Produkte, wie zum Beispiel Elisabethanisch. Während hier alles Entbehrliche und vielleicht noch mehr unterdrückt ist, folgt Sebalds Prosa dem Prinzip, alles nur Erdenkbare aufzufalten, dies immer zur Erweiterung der Trageflächen, um, dem eingestandenen Vorbild Thomas Brownes folgend, den Sätzen noch mehr Aufwind zu verschaffen.
Der zweite Teil der Figurationen geht auf Sebalds erste größere künstlerische Publikation ein, das Langgedicht Nach der Natur. Der Leser mag für einen Augenblick stutzen, war er ursprünglich doch in Versuchung gewesen, Nach der Natur als Prosagedicht fast schon auf die Seite der Prosa zu ziehen. Davon hat er aber inzwischen aus eigener Kraft Abstand genommen. Nach der Natur eröffnet mit dem Blick auf ein Heiligentableau und behält im lyrischen Fortgang, auch bei sich ändernden Inhalten, den sakralen Ton bei. Der heilige Georg allerdings, Schutzpatron des Dichters, schickt sich an, aus dem Rahmen des Poems zu treten, und tatsächlich treffen wir ihn wieder, unter Schwindelgefühlen, auf den Bildern Pisanellos und anderenorts, in der herzbewegenden Weltlichkeit der Prosa. - U. Schütte geht das Langgedicht sorgfältig durch, erhellt Dunkles, verweist auf biographische Hintergründe und erkennt verborgene Vorverweise auf das Prosawerk.
Nachdrücklich und aus gutem Grund wird betont, daß Sebalds Werk nicht mit Austerlitz schließt, sondern mit dem posthum erschienen, von Sebald selbst aber noch zur Publikation vorbereiteten Band For Years Now. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Miniaturgedichten Sebalds mit Bildern von Tess Jaray. Ein ähnliches Projekt war in Zusammenarbeit mit Jan Peter Tripp vorbereitet und ebenfalls erst nach Sebalds Tod, aber noch vor For Years Now, unter dem Titel Unerzählt veröffentlicht worden. Wie der Titel vermuten läßt, sind die Texte in For Years Now englischsprachig und wurden verschiedentlich als das von nicht wenigen die längste Zeit schon ersehnte Überwechseln, in der Spur Conrads und Nabokows, zur englischsprachige Literatur gedeutet. Zum einen aber wurden, wie wir erfahren, nicht wenige der Mikropoeme zunächst in einer deutschen Fassung entworfen, und zum anderen ist das Gewicht gegenüber der Prosaproduktion für diese Einschätzung nicht hinreichend.
U. Schütte gibt der schlicht gehaltenen Edition von For Years Now den Vorzug gegenüber dem eher zum Prachtband geratenen Unerzählt, aber es galt ja auch, einen Verstorbenen zu ehren, nicht die hohe Zeit kalter Avantgarde. Zu denken geben beide Bücher in jedem Fall. Besonders interessant ist die Geschichte des Gedichtes Feelings / my friend / wrote Schumann / are stars / which guide us / only under / a dark sky. Es gibt zwei frühe deutsche Fassungen. In der zweiten ist unter anderem die zweite Hälfte der ursprünglichen Fassung einfach weggeschnitten, weiterhin aufrecht erhalten bleibt aber die Einschätzung, Gefühle leiteten uns nur am lichten Tag, während es in der englischen Endfassung dann ein dark sky ist, unter dem sie gedeihen. Derartige Spielräume bei engen Verhältnissen können überraschen.
Wenn wir Sebalds Prosa als prachtvolle Entfaltung aus der gekritzelten Lyrik erleben, so kann uns die späte erneute Einfaltung der Sprache nicht unberührt lassen. Viele Blüten entfalten sich mit dem Tageslicht und schließen sich am Abend umso fester. So haben wir den Trost, daß Sebalds Leben immerhin einen vollen Tag umfaßt. Ohnehin ist die Zeit von allen unseren Erfindungen die weitaus künstlichste, und die Toten sind außer der Zeit.