Sonntag, 19. Januar 2014

Reines Denken, reine Anschauung

Scherzo
Als Abschluß der Austerlitz einleitenden Passage lesen wir: In Erinnerung ist mir geblieben, daß etliche von den im Nocturama behausten Tieren auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. – Der Satz wird ergänzt von einer Bildstrecke aus zwei tierischen und zwei menschlichen Augenpaaren. Bei dem Tier oben dürfte es sich um einen Nachtaffen handeln, das Augenpaar darunter ist unverkennbar das einer Eule. Die menschlichen Augenpaare sollen Wittgenstein und Jan Peter Tripp, dem Philosophen und dem Maler also, zuzuschreiben sein.

Was die Lemuren in Madagaskar denken und sehen, weiß nur ein kleiner Kreis von Fachleuten. Tagsüber in ihrem Baum hockend, kann die Eule in der Tat den Eindruck erwecken, als versuche sie, sich die Zeit mit reinem Denken zu vertreiben, nachts aber verliert ihre Anschauung alle Reinheit und verengt sich ganz auf die Wahrnehmung der Beute. Bei den Menschen liegt es nahe, das reine Denken dem Philosophen und die reine Anschauung dem Maler zuzuordnen, vielleicht aber sollen nach dem Willen des Dichters beide beides zur gleichen Zeit betreiben.

Guggelt man nach Reinem Denken, so stößt man ausschließlich auf Hinweise aus der Esoterik, selbst Mathematik und formale Logik sind zu verunreinigt, um als reines Denken durchzugehen. In der Philosophiegeschichte weitaus besser verankert als das reine Denken, und womöglich auch gemeint, ist die reine Vernunft, die aber wurde von Kant in ihrer Leistungskraft radikal beschnitten. Auch die reine Anschauung, ein weiterer Begriff Kants, leistet isoliert wenig, ist sie doch nicht mehr als die zwar unverzichtbare aber gänzlich leere Folie für die empirische Anschauung. Und vollends aus der Verbindung von reinem Denken und reiner Anschauung ergibt sich nichts Gutes, Kant selbst hat es mit unvergleichlicher Prägnanz zusammengefaßt: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Der Dichter scheint demgegenüber Großes zu erwarten, wenn blinde Denker und Maler auf eine leere Welt starren.

Tatsächlich aber erhebt Sebald auf vertiefte philosophische Schulung keinen Anspruch. Wittgenstein betreffend hat er eingeräumt, so viel ihm seine Gestalt bedeute, so wenig habe er von seiner Philosophie verstanden. Einblick in den Kantianismus wird er gehabt haben und eine eigene Sicht des kategorischen Imperativs, ein unbedingter Vorteil für das Verfassen künstlerischer Prosa ergibt sich daraus nicht. Wir können uns darauf verlassen, daß Sebald mit dem reinen Denken und der reinen Anschauung rein literarisch im Rahmen eines luftigen Spiels verfährt. Das aufgerufene poetische Bild von reinem Denken und reiner Anschauung erholt sich denn auch sogleich von der peniblen Untersuchung, der es hier unterzogen wurde, und steht da wie zuvor, unberührt, wenn nicht gestärkt.

Pavese hat uns verraten, nichts sei einfacher als das Verfassen eines Prosawerks. Man schreibt den ersten Satz hin, das allerdings mit einiger Sorgfalt, und hat dann nur noch die sich aus ihm notwendig ergebenden Folgerungen zu ziehen. Nun denn: In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. - Der Einleitungssatz von Austerlitz hat einen etwas dunklen und geheimnisvollen und zugleich leichten und übermütigen Klang. Was mögen die nicht recht erfindlichen Gründe sein? Man ist nicht sehr überrascht, von Uwe Schütte* zu erfahren, Selysses, wenn wir ihn für einen Augenblick mit seinem Autor identifizieren, sei, ähnlich wie in diesen Tagen der französische Präsident auf seinem Motorroller, in Liebesdingen nach Belgien unterwegs gewesen, mit einem anderen Verkehrsmittel naturgemäß, das Wasser war viel zu tief. Sebald, der Fürst der Finsternis, den wohlmeinende Kritiker zugunsten der tieferen Bedeutung von aller Neigung zu Scherz und Ironie freigesprochen haben, erlaubt sich schon in den Eingangszeilen zu Austerlitz mehr als nur einen Spaß, allerdings verdeckt und so, daß er die Tonlage nicht dominiert.

Wenn die Aufgabe des Autors sich darauf beschränkt, den ersten Satz zu Papier zu bringen, so muß der Leser nicht mehr als den ersten Satz recht verstehen oder, wenn er sicher gehen will, die ersten Seiten, dies allerdings nicht mit reinem Denken und reiner Anschauung, sondern indem er alle Sinne und allen Sinn beisammen hält.

* U. Schütte, Figurationen, 2014

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