Sonntag, 5. Januar 2014

Denksport

Ein schmerzhaft flimmernder Fleck

Wenn jemand sich leicht von den Dingen rühren läßt, die den Dichter rühren - allein schon die Rührungen durch Hühner- und Wasservögel: im Tirol der Anblick einer sich weit ins Feld hinauswagenden Hühnerschar, in Amsterdam das Entenpaar in einem breiten Graben im Schutze einer Trauerweide und in Belgien die auf dem dunklen Wasser rudernde graue Gans - so ist er angenehm überrascht, wenn sich zeigt, daß er auch die offenbar mit einigem Stolz eingestandenen spezifischen Denkschwächen des Dichters teilt.

Die Inhaberin des Antiquariats, Penelope Peacefull, eine sehr schöne, von mir seit vielen Jahren bewunderte Dame, saß, wie es stets ihre Gewohnheit gewesen war in den Morgenstunden, leicht seitwärts an ihrem mit Papiersachen und Büchern befrachteten Schreibsekretär und löste linkshändig das Kreuzworträtsel auf der letzen Seite des Telegraph. Ab und zu lächelte sie zu mir herüber, dann wieder blickte sie tief in Gedanken auf die Gasse hinaus. One way to live cheaply and without tears, fragte sie unvermittelt, doch wie ich ihr gestehen wollte, daß es mir immer unmöglich gewesen sei, auch nur das einfachste dieser verdrehten englischen Rätsel zu lösen, da sagte sie schon: Oh, it’s rent free! und kritzelte geschwind die acht Buchstaben in die letzten leeren Kästchen hinein.
Wer vielleicht das Rätsel aufgrund eingeschränkter Englischkenntnisse selbst nach seiner Auflösung noch nicht recht durchschaut, kann sich trösten und revanchieren mit dem Hinweis, daß es der Anlage eines jeden Kreuzworträtsels, verdreht oder nicht, widerspricht, wenn alle acht Buchstaben des zuletzt gefundenen Wortes noch einzutragen und die Kästchen nicht vielmehr zum großen Teil bereits von den aus der anderen Richtung auf sie zulaufenden, fertigen Lösungen ausgefüllt sind. Der Dichter stand wohl nicht nahe genug an dem Schreibsekretär, um das Geschehen in seinen Einzelheiten zu verfolgen und es interessiert ihn auch nicht so sehr. Sein Versagen beim Kreuzworträtsel des Telegraph nimmt er gelassen hin, schließlich, mag er sich sagen, ist es nichts als eine einigermaßen billige, mit Mehrdeutigkeiten spielende Clownerie, nichts für ernste Gemüter. Das Schachspiel ist da schon eine andere Angelegenheit. Die Gemeinsamkeit besteht lediglich im beide Denksportarten dominierenden Kästchenmuster, die Denkanstrengung geht nicht in die gleiche Richtung.
Bei der Besprechung des Billardbildes aus Tongeren läßt der Dichter sich schon bald von der grünen Fläche des Tisches ablenken zum schachbrettartigen Bodenmusters, das nicht von ungefähr den Gedanken nahelegt,  jeder Künstler lasse sich, in dem Rahmen, den er sich jeweils vorgibt, auf ein risikoreiches Spiel, bei dem mit einer falschen Bewegung leicht alles vertan ist, und dies umso mehr, wenn es mit seiner Kunst im Schach nicht weit her ist. Meine Schachkenntnisse sind immer die unzulänglichsten gewesen. Kaum je erkenne ich die Vielfalt der Möglichkeiten, die sich mir anbieten, kaum je sehe ich weit genug voraus, und gelingt es mir tatsächlich einmal, einen Plan ins Auge zu fassen, so klammere ich mich entweder zu sehr daran oder aber er wird von meinem Gegner sogleich durchschaut und mit dem nächsten Zug zunichtegemacht. Immer habe ich beim Schachspielen, wie übrigens auch beim Schreiben, das Gefühl gehabt, daß meine Denkfähigkeit vollkommen unterentwickelt sei, daß ich allenfalls tappend und tastend vorankomme und daß am inneren Horizont meines Kopfes bei einem gewissen Grad der Anstrengung jedesmal dort, wo ich Ausweg und Antwort vermute, ein schmerzhaft flimmernder Fleck erscheint. So war es auch jetzt wieder, als ich gleich nach meiner Ankunft in Piana im Foyer des Hotels des Roches Rouges vor der noch ungespielten Partie saß. Wahrscheinlich deshalb begann ich die Figuren auf dem Brett willkürlich hin- und herzuschieben und ebenso willkürlich einmal einen schwarzen Bauern, einen weißen Turm, einen schwarzen Springer und dann die nächste weiße Figur beiseite zu stellen. Der durch diese Bewegungen erwachte Pudelhund sah mir dabei mit einer gewissen Verwunderung zu, bis auf dem Brett nichts mehr übrig war als die beiden Könige, ein weißer und schwarzer Bischof und ein weißer Springer.
Die gleiche unterentwickelte Denkfähigkeit beim Schach und beim Schreiben, das zu glauben fällt uns naturgemäß schwer. Nachdem der Dichter auf dem Schachbrett allem Anschein nach nur Unheil angerichtet hat, begibt er sich in den Schutz seines künstlerischen Totemtieres, das, rechtzeitig aus dem Schlaf erwacht, sein Tun mit Verwunderung quittiert, hat er die Lektion schon wieder vergessen? Vom Hund schließlich, wie er scheinbar planlos über das Feld läuft und doch immer findet, was er sucht, hat er nach eigenem Eingeständnis das Schreiben erlernt. Die Autodiagnose der Denkschwäche verliert im Schutze des Hundes, dessen Stärke nicht der abstrakte Gedanke ist, ihren Schrecken, und ohnehin gilt Kants dringende Empfehlung, vom eigenen Verstand nach Möglichkeit keinen Gebrauch zu machen, ganz ausdrücklich für die Dichter. Es ist nicht ihre Aufgabe, sich in kluger und weitblickender Weise zu äußern, die Schwäche im Schach wird zur Stärke in der Prosa. Das olfaktorische Suchbild des Hundes wird gegen ein visuelles Bild eingetauscht, ein in der Ferne schmerzhaft flimmernder Fleck erscheint. Gilt es, diesen Fleck zu erreichen, oder wird er sich im Zuge jeder Annäherung nur umso weiter entfernen, ein Irrlicht, das, wenn es an der einen Stelle erlischt, sogleich an einer anderen aufleuchtet.

Auf dem Schachbrett herrscht ein ausgelichtetes Chaos, die beiden Könige, ein weißer und schwarzer Bischof und ein weißer Springer, aber wie es dazu kam, davon wird in einer wie immer makellosen und suggestionsreichen Prosa berichtet, alles ist so, wie es sein soll. Zu den Großen der Prosa kann der Dichter sich zählen, zu den Großen des Schachspiels nicht. Oder hat es vielleicht etwas besonderes auf sich mit der finalen Figurenkombination? König weiß und schwarz, Bischof weiß und schwarz, Springer weiß, lange noch können wir darüber nachsinnen, aber in diesem Augenblick kommt Mme Ferch, die etwa vierzigjährige und sehr dunkel und korsisch aussehende Alleinherrscherin des Hotels bei der Terrassentür herein, setzt sich ohne weiteres dem Dichter gegenüber und studiert eine zeitlang die fünf noch übrigen Figuren. Je crois, c’est Horwitz, sagt sie schließlich und rückt den Springer auf h6, worauf er mit dem schwarzen Bischof nach b3 fährt. Es folgen noch zwei weitere Züge und Gegenzüge und mit dem vierten schon ist der Dichter matt. Eine erstaunliche Leistung auch in der Niederlage, sagte Mme Ferch, wenn Sie wirklich vom Schach so wenig verstehen wie Sie behaupten, wer kann am Brett schon gegen Bernhard Horwitz bestehen, das wäre zuviel verlangt. Sollte der Hund, obwohl schlafend ... ? Gerade von Pudelhunden kann, wie Schopenhauer überzeugend nachgewiesen hat, selbst noch das Unmögliche erwartet werden.

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