Donnerstag, 1. Januar 2015

Fine della pittura

Tiepolo
Auf seinem Weg durch Oberitalien läßt Selysses sich von drei Malern begleiten, Giotto, Pisanello und Tiepolo. Warum, kann man sich fragen angesichts der großen Zahl möglicher Kandidaten, gerade diese. Seine Vorliebe für Pisanello begründet Selysses einigermaßen ausführlich: Nicht allein die für die damalige Zeit ungeheuer hoch entwickelte Realismuskunst Pisanellos ist es, die mich anzieht, sondern die Art, wie es ihm gelingt, diese Kunst in einer mit der realistischen Malweise eigentlich unvereinbaren Fläche aufgehen zu lassen, in der allem, den Hauptdarstellern und den Komparsen, den Vögeln am Himmel, dem grün bewegten Wald und jedem einzelnen Blatt dieselbe, durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen wird. Die Bilder Pisanellos haben in mir vor Jahren schon den Wunsch erweckt, alles aufgeben zu können außer dem Schauen. Giotto, der Urvater der neuzeitlichen europäischen Malerei, bedarf womöglich keiner Begründung, und wenn man Roberto Calasso folgt, gilt das, sozusagen am anderen Ende, auch für Tiepolo. Tiepolo fu adatto ad assumere il ruolo di epilogatore della pittura, almeno in quel senso particolare, singolare, irrecuperabile che aveva assunto in terra europea per cinque secoli. Als Tiepolo die Würzburger Residenz ausmalte, war die fantasmagoria della Storia ancora provvista di una allarmante vivezza, poco prima che une cesura invalicabile la riducesse a materiale per i libri di scuola. Questo sarebbe accaduto dopo il 1789. Die Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts ist akademische Schulbuchmalerei. Dopo, restavano gli artisti, pieni di umori, capricci, estri, insofferenze. E alla fine rischiarano di non esserci più neppure loro.
Daß Selysses sich die Dinge in der gleichen Weise und mit ähnlichen Worten zurechtgelegt hat, kann bezweifelt werden. Immerhin aber handeln die Schwindel.Gefühle von Zeitwenden und vom Ende der Zeit. Der erste Wendepunkt ist auf das Jahr 1813 datiert, als Napoleons Niedergang sich anbahnte und Stendhal in eine anhaltend elegische Stimmung verfiel. Die Napoleonzeit ist jedoch nur die Verlängerung des 1789 Begonnenen, des eigentlichen Wendepunkts, der aber schlecht von Stendhal, dem damals Sechsjährigen, her beleuchtet werden konnte. Die Maler, die in Sebalds Werk eine umfänglichere Behandlung erfahren, sind allesamt aus der Zeit vor diesem Wendepunkt, der so oder so auch ein Wendepunkt in der Kunst war. Einige der artisti, pieni di umori, capricci, estri, insofferenze wie Turner, Courbet, Magritte haben kürzere Auftritte. Der halb fiktive Aurach, vielleicht schon aus der Zeit, in der nach Calassos Einschätzung die Künstler ganz verschwinden, begeistert sich, in auffälliger Übereinstimmung mit dem Dichter, für Tiepolo und gleichzeitig auch für Grünewald, seinen Antipoden. Man bedenke, Grünewalds Gekreuzigten vor Augen, Calassos Feststellung, il Gesù sei die einzige Gestalt, die Tiepolo nicht zu malen verstand, und hat gleichsam den Gipfel des Gebirges erreicht, das sie trennt. 
Selbst wenn man Calassos Theorie einer epochalen fünfhundertjährigen, dann aber auslaufenden Geschichte europäischer Maler zuneigt, bleibt die Frage: Wieso Tiepolo? Die Zahl derer, die Tiepolo übersehen, wie Stendhal, der ihn nicht erwähnt in seiner Histoire de la peinture en Italie, oder geringschätzen, wie Henry James, dem er als pompös erscheint, ist groß. Zum einen aber ist die Zahl bedeutender italienischer Maler, deren Leben bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, also zum Wendepunkt, führt, nicht allzu groß, und zum anderen ist Tiepolo nicht der, als den seine Verächter ihn sehen. Tiepolo: l'ultimo soffio de la felicità in Europa, liest man gleich zu Beginn von Calassos Buch. All die bunten Weltenbilder, die Deckenfresken in Palästen und Kirchen sind Auftragsarbeiten, die Tiepolo, der rasanteste unter den Malern, in Windeseile erledigte. Für den eigenen Bedarf hat er die 23 Scherzi angefertigt, die in manchem an Piranesi erinnern und ihrer Bezeichnung nicht unmittelbar Ehre machen: Il sentimento più costante che incutono può essere il terrore. Dementsprechend sieht Calasso sich zu einem erweiterten Urteil veranlaßt: Tiepolo fu il pittore saturnino in luce radiosa. Die Nähe zeigt sich. Während bei Tiepolo gewöhnlich das Saturnische im ersten Augenblick nicht auffällt, wird in Sebalds Prosa das strahlende Licht, obwohl imgrunde überdeutlich, von vielen nicht bemerkt.
Für seine Biographen ist Tiepolo die reine Verzweiflung, so gut wie nichts ist bekannt über sein Leben außerhalb der Bilder. So müssen wir Selysses dankbar sein, wenn wir den Maler ein Stück begleiten können, als er mit seinen Söhnen Lorenzo und Domenico im Herbst 1750 von Venedig aus über den Brenner gezogen ist, und sich in Zirl entschloß, nicht, wie ihm geraten worden war, über Seefeld aus dem Tirol hinauszugehen, sondern westwärts über Telfs hinter den Salzfuhrwerken her den Weg über den Fernpaß, den Gaichtpaß, durch das Tannheimer Tal, über das Oberjoch und durchs Illertal ins Unterland zu nehmen, und wenn wir ihm dann zusehen dürfen, wie er, der um diese Zeit auf die Sechzig gegangen sein muß und bereits sehr an der Gicht gelitten hat, in der Kälte der Wintermonate zuoberst auf dem Gerüst einen halben Meter unter der Decke des Treppenhauses der Würzburger Residenz liegend mit kalk- und farbverspritzten Gesicht und trotz der Schmerzen in seinem rechten Arm mit sicherer Hand die Farblasur einträgt in das Fleck für Fleck aus dem nassen Verputz entstehende riesige Weltwunderbild.

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