Avis de décès
Seine eigene Kindheit, soweit sie das Zusammenleben mit den Eltern betrifft, hat der Dichter ausgespart. Wenn er sich rückblickend über die Wohnzimmergestaltung oder die musikalischen Vorlieben des Vaters mokiert, so aus der Perspektive des inzwischen Erwachsenen, Kinder, die die Liebe ihrer Eltern haben, nehmen ihnen die Möbel nicht übel, und wenn die Liebe fehlt, helfen auch Louis XV und das Bauhaus nicht.
Wenden wir uns den anderen Protagonisten des Werkes zu. Von der Kindheit des Ambros Adelwarth erfahren wir nichts. Selwyn erinnert sich an die Ausreise aus Litauen im Spätherbst des Jahres 1899, die beiden Eltern, seine Schwestern Gita und Raja und sein Onkel Shani Feldhendler. Er sieht, wie der Kinderlehrer im Cheder ihm die Hand auf den Scheitel legt. Er sieht die ausgeräumten Zimmer. Er sieht sich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen: Ein Rückblick auf eine als glücklich suggerierte Kindheit, die abrupt zum Ende gekommen ist. Nirgends habe Bereyter sich als Kind wohler gefühlt als in dem von seinen Eltern unterhaltenen Emporium, in dem es alles zu kaufen gab vom Bohnenkaffee bis zum Kragenknopf, vom Kamisol bis zur Kuckucksuhr und vom Kandiszucker bis zum Klappzylinder. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene auf seinem Dreirädchen fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer. Wenn der Herr, den wir auf dem Photo am Steuer des Dürkopp erkennen, der Vater ist, könnte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Hermann Kafka haben. Bereyter selbst ist noch dünner und hagerer als Franz Kafka. Der Text geht auf das Verhältnis des Knaben Paul zu seinen Eltern nicht näher ein, stützt aber auf keinen Fall Assoziationen, die sich aus der Bildbetrachtung ergeben könnten. Seinem Vater, dem Kunsthändler, ist der zwölfjährige Aurach beim Hängen, beim Beschildern, beim Verkauf und beim Weiterversand der Kunstware an die Hand gegangen, und der Vater hat ihn quasi als Lohn für seine Mühewaltung mit der Bahn auf das Jungfraujoch genommen, um ihm von dort droben den mitten im Sommer schneeweiß schimmernden größten Eisstrom Europas zu zeigen. Das Verhältnis zum Vater scheint kameradschaftlich und hell, das zur Mutter kann man sich, nachdem man die von ihr selbst erzählte Geschichte ihrer Kindheit gelesen hat, nicht anders als ideal vorstellen.
Das verlorene Paradies seiner Kindheit, das Austerlitz in Prag wiederfindet, bestand aus der Mutter Agata, Theaterschauspielerin, die sich aufgrund ihrer beruflichen Pflichten nicht immer wie gewünscht um ihren Sohn kümmern kann, dem Vater Maximilian Aychenwald, der oft auf Reisen ist, und Vĕra Ryšanová, die als Kindermädchen fungiert. Man kann es nicht übersehen, daß die gleiche Personenkonstellation, weniger erdacht als erlebt, wie ein Fluch in obsessiver Weise auf dem gesamten Oeuvre Modianos lastet: der Vater fortwährend unterwegs in dubiosen Geschäften, die Mutter aufgesogen von der Theaterwelt, das Kind der Fürsorge anderer überlassen und dann abgeschoben in verschiedene Internate, so wie auch Austerlitz, wenn auch aus ganz anderem Anlaß, schließlich verschickt wird. Im kaum fiktionalisierten Pedigree ist der Dichter unmißverständlich: J'écris ces pages pour finir avec une vie qui n'était pas la mienne. A part mon frère Rudy, sa mort en 1957, je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Ce n'est pas ma faute, si les mots se bousculent, il faut faire vite, ou alors je n'aurai plus le courage. Eine Umkehrung gibt es in dem für Kinder geschriebenen Buch Catherine Certitude. Auch hier geht der Vater dubiosen Handelsgeschäften nach, die Mutter, eine Tänzerin, ist gar in Amerika. Catherine hat aber alle Liebe und Fürsorge des Vaters, ein Kindermädchen wird nicht benötigt, am Schluß sind alle jenseits des Ozeans wieder vereint.
Im Grunde hat Mme. Landau ihre Kindheit, das Zusammenleben mit ihrem verwitwetem Vater in eine so gut wie unmöblierten, leeren Villa am Neuenburgersee als ein großes Fest empfunden. Der Ankauf der kleinen Villa hatte das Vermögen erschöpft, für eine Inneneinrichtung fehlten die Mittel. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr niemals als ein Mangel erschienen, vielmehr wie eine durch eine wie eine durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung. Für Therese in La Petite Bijou sind die leeren Zimmer ein Ort des Grauens. Sie betreut ein kleines Mädchen, das mit seinen lieblosen Eltern in einer riesigen uneingerichteten Wohnung haust und erinnert sich an die Zeit, als sie mit ihrer Mutter in ähnlicher Weise eine ähnliche Wohnung teilte. Dem Leser ist, als wenn ihm eine kalte Hand ans Herz fassen würde. Das Buch endet mit Thereses Suizidversuch. Und wieder findet sich das Gegenbild in Catherine Certitude: Cela m'a fait drôle de voir le grand studio désert. Alors j'ai décidé de danser toute seule. Vorstellungen, die bei Sebald zu fiktionaler Realität werden, erscheinen bei Modiano als märchenhafte Wunschbilder.
Die folgende Anzeige war unlängst zu lesen: Patrick et Dominique Modiano, Zina et Marie Modiano, ont la tristesse de faire part du décès de Louisa Copleyn, comédienne, survenu le 26 janvier 2015. Welche Farben mag die bekundete Tristesse haben. Hatte die Verstorbene die Bücher ihres Sohnes gelesen, die sie immer wieder wie ein unguter Geist mit kaltem Blick durchquert. Mehrfach trifft der längst erwachsene Erzähler auf eine alte Frau, die ihn übel beschimpft, die ihn schlagen will und zugleich Geld von ihm fordert. Es könnte seine Mutter sein, genau weiß er es nicht, in jedem Fall ist es ein aus Erinnerungssplittern zusammengesetztes Alptraumbild. In dem frühen Roman Boulevards de la ceinture verteidigt der Sohn den Vater, der ihn nicht wiedererkennt, mit aller Macht gegen seine Feinde, obwohl der Vater vor Jahren versucht hatte, ihn unter die Metro zu stoßen. Die Spanne der Ambivalenz scheint ohne Anfang und Ende.
Seine eigene Kindheit, soweit sie das Zusammenleben mit den Eltern betrifft, hat der Dichter ausgespart. Wenn er sich rückblickend über die Wohnzimmergestaltung oder die musikalischen Vorlieben des Vaters mokiert, so aus der Perspektive des inzwischen Erwachsenen, Kinder, die die Liebe ihrer Eltern haben, nehmen ihnen die Möbel nicht übel, und wenn die Liebe fehlt, helfen auch Louis XV und das Bauhaus nicht.
Wenden wir uns den anderen Protagonisten des Werkes zu. Von der Kindheit des Ambros Adelwarth erfahren wir nichts. Selwyn erinnert sich an die Ausreise aus Litauen im Spätherbst des Jahres 1899, die beiden Eltern, seine Schwestern Gita und Raja und sein Onkel Shani Feldhendler. Er sieht, wie der Kinderlehrer im Cheder ihm die Hand auf den Scheitel legt. Er sieht die ausgeräumten Zimmer. Er sieht sich zuoberst auf dem Wägelchen sitzen: Ein Rückblick auf eine als glücklich suggerierte Kindheit, die abrupt zum Ende gekommen ist. Nirgends habe Bereyter sich als Kind wohler gefühlt als in dem von seinen Eltern unterhaltenen Emporium, in dem es alles zu kaufen gab vom Bohnenkaffee bis zum Kragenknopf, vom Kamisol bis zur Kuckucksuhr und vom Kandiszucker bis zum Klappzylinder. Auf seinem Dreirädchen habe er sich meistens auf der untersten Ebene auf seinem Dreirädchen fortbewegt, durch die Schluchten zwischen Ladentischen, Kästen und Budeln und durch eine Vielfalt von Gerüchen hindurch, unter denen der des Mottenkampfers sowie der der Maiglöckchenseife immer die hervorstechendsten gewesen seien. Stundenlang sei er damals vorbeigeradelt an den ihm endlos erscheinenden dunklen Reihen der Stoffballen, den glänzenden Stiefelschäften, den verzinkten Gießkannen, dem Peitschenständer. Wenn der Herr, den wir auf dem Photo am Steuer des Dürkopp erkennen, der Vater ist, könnte er eine gewisse Ähnlichkeit mit Hermann Kafka haben. Bereyter selbst ist noch dünner und hagerer als Franz Kafka. Der Text geht auf das Verhältnis des Knaben Paul zu seinen Eltern nicht näher ein, stützt aber auf keinen Fall Assoziationen, die sich aus der Bildbetrachtung ergeben könnten. Seinem Vater, dem Kunsthändler, ist der zwölfjährige Aurach beim Hängen, beim Beschildern, beim Verkauf und beim Weiterversand der Kunstware an die Hand gegangen, und der Vater hat ihn quasi als Lohn für seine Mühewaltung mit der Bahn auf das Jungfraujoch genommen, um ihm von dort droben den mitten im Sommer schneeweiß schimmernden größten Eisstrom Europas zu zeigen. Das Verhältnis zum Vater scheint kameradschaftlich und hell, das zur Mutter kann man sich, nachdem man die von ihr selbst erzählte Geschichte ihrer Kindheit gelesen hat, nicht anders als ideal vorstellen.
Das verlorene Paradies seiner Kindheit, das Austerlitz in Prag wiederfindet, bestand aus der Mutter Agata, Theaterschauspielerin, die sich aufgrund ihrer beruflichen Pflichten nicht immer wie gewünscht um ihren Sohn kümmern kann, dem Vater Maximilian Aychenwald, der oft auf Reisen ist, und Vĕra Ryšanová, die als Kindermädchen fungiert. Man kann es nicht übersehen, daß die gleiche Personenkonstellation, weniger erdacht als erlebt, wie ein Fluch in obsessiver Weise auf dem gesamten Oeuvre Modianos lastet: der Vater fortwährend unterwegs in dubiosen Geschäften, die Mutter aufgesogen von der Theaterwelt, das Kind der Fürsorge anderer überlassen und dann abgeschoben in verschiedene Internate, so wie auch Austerlitz, wenn auch aus ganz anderem Anlaß, schließlich verschickt wird. Im kaum fiktionalisierten Pedigree ist der Dichter unmißverständlich: J'écris ces pages pour finir avec une vie qui n'était pas la mienne. A part mon frère Rudy, sa mort en 1957, je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Ce n'est pas ma faute, si les mots se bousculent, il faut faire vite, ou alors je n'aurai plus le courage. Eine Umkehrung gibt es in dem für Kinder geschriebenen Buch Catherine Certitude. Auch hier geht der Vater dubiosen Handelsgeschäften nach, die Mutter, eine Tänzerin, ist gar in Amerika. Catherine hat aber alle Liebe und Fürsorge des Vaters, ein Kindermädchen wird nicht benötigt, am Schluß sind alle jenseits des Ozeans wieder vereint.
Im Grunde hat Mme. Landau ihre Kindheit, das Zusammenleben mit ihrem verwitwetem Vater in eine so gut wie unmöblierten, leeren Villa am Neuenburgersee als ein großes Fest empfunden. Der Ankauf der kleinen Villa hatte das Vermögen erschöpft, für eine Inneneinrichtung fehlten die Mittel. Das Wohnen in den leeren Zimmern sei ihr niemals als ein Mangel erschienen, vielmehr wie eine durch eine wie eine durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung oder Vergünstigung. Für Therese in La Petite Bijou sind die leeren Zimmer ein Ort des Grauens. Sie betreut ein kleines Mädchen, das mit seinen lieblosen Eltern in einer riesigen uneingerichteten Wohnung haust und erinnert sich an die Zeit, als sie mit ihrer Mutter in ähnlicher Weise eine ähnliche Wohnung teilte. Dem Leser ist, als wenn ihm eine kalte Hand ans Herz fassen würde. Das Buch endet mit Thereses Suizidversuch. Und wieder findet sich das Gegenbild in Catherine Certitude: Cela m'a fait drôle de voir le grand studio désert. Alors j'ai décidé de danser toute seule. Vorstellungen, die bei Sebald zu fiktionaler Realität werden, erscheinen bei Modiano als märchenhafte Wunschbilder.
Die folgende Anzeige war unlängst zu lesen: Patrick et Dominique Modiano, Zina et Marie Modiano, ont la tristesse de faire part du décès de Louisa Copleyn, comédienne, survenu le 26 janvier 2015. Welche Farben mag die bekundete Tristesse haben. Hatte die Verstorbene die Bücher ihres Sohnes gelesen, die sie immer wieder wie ein unguter Geist mit kaltem Blick durchquert. Mehrfach trifft der längst erwachsene Erzähler auf eine alte Frau, die ihn übel beschimpft, die ihn schlagen will und zugleich Geld von ihm fordert. Es könnte seine Mutter sein, genau weiß er es nicht, in jedem Fall ist es ein aus Erinnerungssplittern zusammengesetztes Alptraumbild. In dem frühen Roman Boulevards de la ceinture verteidigt der Sohn den Vater, der ihn nicht wiedererkennt, mit aller Macht gegen seine Feinde, obwohl der Vater vor Jahren versucht hatte, ihn unter die Metro zu stoßen. Die Spanne der Ambivalenz scheint ohne Anfang und Ende.