Auskultation
Gelegentlich stößt man auf die Behauptung, ein bestimmter Roman, etwa Dostojewskis Dämonen, habe mehr zum Verständnis der Gesellschaft und des Seelenlebens beigetragen als hundert soziologischer und psychologischer Traktate. Was hat die Literatur mit Gesellschaft und Seelenleben zu tun; die Lyrik vielleicht mehr mit dem Seelenleben und die Prosa mehr mit der Gesellschaft, kann man erwägen, aber die eigentliche Frage bleibt: was überhaupt hat die Literatur zu schaffen mit Fragen dieser Art. Anders als der Musik und auch der Malerei, wenn sie es denn will und sich auf schwarze Quadrate konzentriert, ist es der an die bedeutungstragenden Wörter und Sätze gebundenen Literatur nicht gegeben, die Welt unsichtbar zu lassen. Die offene Soziologisierung der Erzählliteratur war ein Phänomen vor allem des neunzehnten Jahrhunderts, als die Vorbildwirkung der Wissenschaft hoch war, die Soziologie sich aber, mit den Worten Luhmanns, noch in den Flegeljahren befand. Im nachrevolutionären Frankreich war die Soziologisierung der Erzählliteratur besonders stark ausgeprägt.
Wer angibt, Stendhal zu lieben und gleichzeitig Balzac ablehnt, dem sei nicht zu trauen, heißt es, denn bei beiden spüre man in besonderem Maße l'auscultazione implacabile del respiro della società, l'occhio che plana come un rapace fra le minute, terrificanti cose della vita. Gesellschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit und Auskultation, das ist die Grundlage auch der wissenschaftlichen Soziologie, die Grundlage, von der aus sie erst einsteigt in ihre Methodik und Erkundungsstrategie, ein Weg, auf dem die Romanciers ihr naturgemäß nicht folgen. Calasso muß zudem einräumen, Stendhal selbst sei der erste gewesen, der die Gemeinsamkeit mit Balzac nicht besonders hoch eingeschätzt habe. Balzac würde seine Romane zweimal schreiben, zunächst auf vernünftige Art, um ihnen dann in einem weiteren Durchgang Schönheit und Seelenschmerz zu verleihen. Er, Stendhal, habe hingegen einen natürlichen und ehrlichen Stil. Wie dem auch sei, Gemeinsamkeiten des Hintergrunds verdecken dem Dichter nicht die Oberfläche der künstlerischen Ausführung.
In Sebalds Werk müssen sich die beiden Franzosen notgedrungen vertragen, wenn sie auch vorsorglich auf Distanz gehalten werden, der eine untergebracht in den Schwindel.Gefühlen, der andere in Austerlitz. Stendhal ist Protagonist der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, Balzac ein Komparse, dem die Erinnerung an die fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bände im verglasten Bücherschrank von Vĕra Ryšanová zu verdanken sind, und dessen Roman Colonel Chabert eine elegante Kurzfassung erhält. Kann man sich vorstellen, die beiden würden die Plätze tauschen, Balzac übernähme die Schrittmacherdienste für das Reisen nach Oberitalien und Austerlitz lieferte eine Kurzfassung von Le rouge et le noir? Das ist angesichts der condensation franco-centrique de La Comédie humaine kaum denkbar, und schwerlich könnte Mme Gherardi an der Seite Balzacs die Schönheit und Einsamkeit des Gardasees ähnlich tief erleben wie in der Begleitung Stendhals. Der Gedanke einer Kurzfassung der Chartreuse de Parme aus der Hand Sebalds ist naturgemäß verlockend.
Gelegentlich stößt man auf die Behauptung, ein bestimmter Roman, etwa Dostojewskis Dämonen, habe mehr zum Verständnis der Gesellschaft und des Seelenlebens beigetragen als hundert soziologischer und psychologischer Traktate. Was hat die Literatur mit Gesellschaft und Seelenleben zu tun; die Lyrik vielleicht mehr mit dem Seelenleben und die Prosa mehr mit der Gesellschaft, kann man erwägen, aber die eigentliche Frage bleibt: was überhaupt hat die Literatur zu schaffen mit Fragen dieser Art. Anders als der Musik und auch der Malerei, wenn sie es denn will und sich auf schwarze Quadrate konzentriert, ist es der an die bedeutungstragenden Wörter und Sätze gebundenen Literatur nicht gegeben, die Welt unsichtbar zu lassen. Die offene Soziologisierung der Erzählliteratur war ein Phänomen vor allem des neunzehnten Jahrhunderts, als die Vorbildwirkung der Wissenschaft hoch war, die Soziologie sich aber, mit den Worten Luhmanns, noch in den Flegeljahren befand. Im nachrevolutionären Frankreich war die Soziologisierung der Erzählliteratur besonders stark ausgeprägt.
Wer angibt, Stendhal zu lieben und gleichzeitig Balzac ablehnt, dem sei nicht zu trauen, heißt es, denn bei beiden spüre man in besonderem Maße l'auscultazione implacabile del respiro della società, l'occhio che plana come un rapace fra le minute, terrificanti cose della vita. Gesellschaftliche Wahrnehmungsfähigkeit und Auskultation, das ist die Grundlage auch der wissenschaftlichen Soziologie, die Grundlage, von der aus sie erst einsteigt in ihre Methodik und Erkundungsstrategie, ein Weg, auf dem die Romanciers ihr naturgemäß nicht folgen. Calasso muß zudem einräumen, Stendhal selbst sei der erste gewesen, der die Gemeinsamkeit mit Balzac nicht besonders hoch eingeschätzt habe. Balzac würde seine Romane zweimal schreiben, zunächst auf vernünftige Art, um ihnen dann in einem weiteren Durchgang Schönheit und Seelenschmerz zu verleihen. Er, Stendhal, habe hingegen einen natürlichen und ehrlichen Stil. Wie dem auch sei, Gemeinsamkeiten des Hintergrunds verdecken dem Dichter nicht die Oberfläche der künstlerischen Ausführung.
In Sebalds Werk müssen sich die beiden Franzosen notgedrungen vertragen, wenn sie auch vorsorglich auf Distanz gehalten werden, der eine untergebracht in den Schwindel.Gefühlen, der andere in Austerlitz. Stendhal ist Protagonist der Erzählung Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe, Balzac ein Komparse, dem die Erinnerung an die fünfundfünfzig kleinen karmesinroten Bände im verglasten Bücherschrank von Vĕra Ryšanová zu verdanken sind, und dessen Roman Colonel Chabert eine elegante Kurzfassung erhält. Kann man sich vorstellen, die beiden würden die Plätze tauschen, Balzac übernähme die Schrittmacherdienste für das Reisen nach Oberitalien und Austerlitz lieferte eine Kurzfassung von Le rouge et le noir? Das ist angesichts der condensation franco-centrique de La Comédie humaine kaum denkbar, und schwerlich könnte Mme Gherardi an der Seite Balzacs die Schönheit und Einsamkeit des Gardasees ähnlich tief erleben wie in der Begleitung Stendhals. Der Gedanke einer Kurzfassung der Chartreuse de Parme aus der Hand Sebalds ist naturgemäß verlockend.
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