Sonntag, 8. Februar 2015

Photographen

Pour en finir

Austerlitz ist Photograph und Photophilosoph. Wollte man ihn auf diese Merkmale reduzieren, wäre er als Francis Jansen in Modianos Chien de printemps wiederzuentdecken. In der Hauptsache, so Austerlitz, habe ihn von Anfang an die Form der Verschlossenheit der Dinge beschäftigt, der Schwung eines Stiegengeländers, die Kehlung an einem steinernen Torbogen, die unbegreiflich genaue Verwirrung der Halme in einem verdorrten Büschel Gras. Hunderte solcher Aufnahmen habe er in Stower Grange meist in quadratischen Formaten abgezogen, wobei es ihm immer unstatthaft erschien, den Sucher der Kamera auf einzelne Personen zu richten. In Francis Jansens Wohnung stehen trois valises de cuir marron empilées les unes sur les autres, in denen die Photoausbeute der vergangenen fünfundzwanzig Jahre verwahrt ist. Der Erzähler macht sich daran, die Photos zu ordnen und zu katalogisieren. Unter den Katalognummern 325 bis 331 finden wir: Palissade de la rue des Envierges, Mur rue Gasnier-Guy, Escalier de la rue Lauzin, Passerelle de la Mare, Garage de la rue Janssen, Emplacement de l'ancien cèdre au coin rues Alphonse-Daudet et Leneveux, Pente de la rue Westermann. Das photographische Interesse folgt offenbar einer ähnlichen Bahn wie bei Austerlitz. Verbindende Wesenszüge bestehen überdies. Il se replia de plus en plus sur lui-même, heißt es von Jansen, kannst du mir nicht sagen, was der Grund deiner Unnahbarkeit ist, fragt Marie de Verneuil, warum bist du wie ein zugefrorener Teich?

Besonders in den Bann gezogen, führt Austerlitz weiter aus, habe ihn bei der photographischen Arbeit stets der Augenblick, in dem man auf dem belichteten Papier die Schatten der Wirklichkeit sozusagen aus dem Nichts hervorkommen sieht, genau wie die Erinnerungen, die ja auch inmitten der Nacht in uns auftauchen und sich dem, der sie festhalten will, so schnell wieder verdunkeln, nicht anders als ein photographischer Abzug, den man zu lang im Entwicklungsbad liegenläßt. Jansen avait ouvert la valise de dessus, elle était remplie a ras bord et quelques photos étaient tombées. Il ne les avait même pas ramassées. Die Katalogisierungsbemühungen des Erzählers verfolgt er mit amüsiertem Desinteresse. Flieht er vor der Erinnerung?
Auf dem großen, mattgrau lasierten Tisch lagen in geraden Reihen und genauen Abständen ein paar Dutzend Photographien, die meisten älteren Datums und etwas abgegriffen an den Rändern, Aufnahmen von leeren belgischen Landstrichen, von Bahnhöfe und Metroviadukten in Paris, von dem Flugfeld in der Nähe von Quy und von einer Anzahl schwerer Türen und Tore. Manchmal sitze er, Austerlitz, hier stundenlang und lege diese Photographien, oder andere, die er aus seinen Beständen hervorhole, mit der rückwärtigen Seite nach oben aus, ähnlich wie eine Partie Patience, und wende sie, jedesmal von neuem erstaunt über das, was er sehe, nach und nach um, schiebe die Bilder hin und her und übereinander, in eine aus Familienähnlichkeiten sich ergebende Ordnung, oder ziehe sie auch aus dem Spiel, bis nichts mehr übrig sei als die graue Fläche des Tisches oder bis er sich, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, niederlegen müsse auf der Ottomane.

So ähnlich muß er Modiano ergangen sein, als er Un pedigree schrieb, den Bericht über seine Kindheit und Jugend in Form einer in Prosa gefaßten Bildersammlung. J'écris ces pages pour en finir avec une vie qui n'était pas la mienne. Es wäre also das Werk einer Entledigung. A part mon frère Rudy, sa mort en 1957, je crois que rien de tout ce que je rapporterai ici ne me concerne en profondeur. Die Entledigung kann nicht schnell genug vonstatten gehen, ce n'est pas ma faute, si les mots se bousculent, il faut faire vite, ou alors je n'aurai plus le courage. Nie aber haben Wörter einander schöner buskuliert als in diesem Buch.

Und doch hatte er als Dichter zuvor im Grunde nichts anderes getan und wird auch später nichts anderes tun, als immer wieder die jetzt im Pedigree verschlossenen Bilder anzuschauen, sie zu bearbeiten und neu zu ordnen. In Remise de peine ist es die gemeinsame Zeit mit dem Bruder Rudy, in De si braves garçons die Zeit im Internat, in wohl zehn Büchern ist es das Jahr vor der Volljährigkeit und dem Beginn der literarischen Arbeit. Vor allem die Eltern sind den eigenartigsten Perspektiven und Verzerrungen unterworfen. Sogar im Kinderbuch Catherine Certitude geht der Vater seinen fragwürdigen Handelsgeschäften nach, ist für dieses Mal aber von vollendeter Fürsorglichkeit und Liebe für seinen Sohn, der freilich, wie auch in La Petite Bijou, eine Tochter ist. Zu nahezu jeder Seite des Pedigree findet sich ein Roman oder doch eine Romanszene, in der die Angelegenheit schon einmal behandelt wurde, oft mehrfach. Es ist eine überschaubare Anzahl von Urszenen, denen sich der Dichter mit der Absicht der Bewältigung und Entledigung immer wieder annähert. Er tritt vor eine Wand, hinter der sich weit mehr verbergen müßte, aber eine Tür öffnet sich nicht. Niemand wäre überrascht, wenn er, erschöpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit sich immer wieder auf der Ottomane hätte niederlegen müßte.

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